Mit dem vorliegende Band setzt die Studiengruppe „Kinder des Weltkrieges", die seit 2004 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen unter der Leitung des Mitherausgebers Jürgen Zinnecker arbeitet, die gleichnamige Reihe im Juventa Verlag fort.
Unter dem Thema "Kriegskindheit als historische Erfahrung und als kollektive Erinnerung. Polnische, jüdische, deutsche Weltkriegskindheit auf polnischem Territorium" fand Anfang März 2006 am KWI in Essen eine Tagung statt, deren Arbeitsergebnisse hiermit einer erweiterten fachlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden. Erinnerungen an Kindheiten im Zweiten Weltkrieg wurden national erlebt und unterliegen aus der zeitlichen Distanz leicht der Mythenbildungen.
Ziel der Tagung war es, diese nationalen Begrenzungen von Erinnerung aufzubrechen und in einen europäischen Kontext einzubinden. Als Lösung aus dem Dilemma, zahlreiche nationale Kriegskindheiten und Erinnerungskulturen nebeneinander zu stellen, wurde das Thema der Tagung auf die Betrachtung polnischer, jüdischer und deutscher Weltkriegskindheiten auf polnischem Territorium begrenzt.
Auf dem Territorium des heutigen Polen wirkten sich die unterschiedlichsten Erfahrungen des Weltkrieges und seiner Folgen über ein Jahrzehnt (1939-1949) auf das Leben von Kindern und Jugendliche aus: der militärische Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf Polen, die mehr als fünfjährige Besatzungszeit mit rassistischer Ausgrenzung, Zwangumsiedlungen, Zwangsarbeit, Kinderraub, Holocaust und Massenmord und die sowjetisch-stalinistischen militärischen Besatzungen, Deportationen, Vertreibungen, von denen unterschiedliche ethnisch-kulturelle Kindheitsgruppen, insbesondere polnische, jüdische und deutsche, in je spezifischer Weise betroffen waren.
In den Beiträgen untersuchen polnische, jüdische und deutsche Historiker und Kindheitsforscher diese Schicksale nicht nur auf der Basis offizieller Archivdokumente und Aktenanalysen, sondern beziehen mündliche Überlieferungen mittels oral history, biografischen Interviews sowie Autobiografien und literarische Quellen wie Romane, Erzählung, Kinder- und Jugendliteratur mit autobiografischem Bezügen ein. Damit werden die Perspektiven der Betroffenen, der damaligen Kinder und Jugendlichen, in der Erinnerungskultur angemessen berücksichtigt.
Die Beiträge sind thematisch in fünf Teile gegliedert: Teil eins behandelt den historischen Kontext und den polnischen Erinnerungsdiskurs. Der zweite TeiI enthält fünf Beiträge über Kindheitserfahrungen in Polen zwischen Nationalsozialismus, Stalinismus und Krieg. Die dazu herangezogenen Quellen aus polnischen Archiven sind bislang nur wenigen deutschen Wissenschaftlern bekannt. Im dritten Teil kommen Betroffene zu Wort, die von Forschern oder von der heute dritten Generation befragt wurden. Im Mittelpunkt der Beiträge des vierten Teils stehen literarische Verarbeitung der Erfahrungen während des Nationalsozialismus in Polen und Deutschland. Dabei handelt es sich um exemplarische Beispiele und eine erste Bestandsaufnahme der deutsch-polnischen Literaturbeziehungen nach 1945. Im fünften Teil stellen sich mögliche Kooperationspartner der Forschungsgruppe „Kinder des Weltkrieges" in Deutschland und Polen vor sowie schon vorbereitete Forschungsprojekte.
Die Vielfalt der Themen und der interdisziplinäre Ansatz des Bandes sind für die Bildungsarbeit anregend und gewinnbringend, auch wenn einige Beiträge inhaltlich und stilistisch zu wünschen übrig lassen, was aber an Übersetzungsproblem aus dem Polnischen liegen kann. Es ist zu wünschen, dass das Thema weiter vertieft wird.