Die Stadt Dachau - Ort des ersten deutschen Konzentrationslagers, das im März 1933 errichtet und zum Vorbild für alle weiteren NS-Konzentrationslager sowie weltweit zum Synonym für die NS-Verbrechen wurde - veranstaltet seit dem Jahr 2000 in Zusammenarbeit mit dem Jugendgästehaus Dachau "Symposien zur Zeitgeschichte".
Diese Veranstaltungen bieten Wissenschaftlern Gelegenheit neue Forschungsergebnisse vorzustellen und mit einem interessierten Fachpublikum zu diskutieren. Die jeweiligen Tagungsthemen werden als eigenständige wissenschaftliche Sammelbände publiziert, wie auch der vorliegende Band des 6. Dachauer Symposiums über die Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Die Vorträge und Diskussionsbeiträge bieten neue, wichtige Ergebnisse zu einem Thema, das im Gedenkjahr 2005 zur "Erinnerung an das Kriegsende vor 60 Jahren" als eigenständiger Forschungskomplex von der historischen Wissenschaft aufgegriffen wurde. Bis Anfang der 1960er Jahre wurden in Strafverfahren noch zu 43 Prozent Verbrechen, begangen in der Endphase des Krieges vorwiegend auf deutschem Gebiet, und nur 15 Prozent der Massenvernichtungsverbrechen behandelt. Erst mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess trat eine Umkehrung ein und damit auch eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung der NS-Verbrechen. Der Prozentsatz von Verfahren wegen Verbrechen gegen jüdische Opfer und ausländische Opfer stieg danach um mehr als das Doppelte, ebenso lagen die Tatorte zu über 80 Prozent im Ausland (Polen und SU) und nicht mehr auf deutschem Gebiet.
Ob die "Endphasenverbrechen" damit verdrängt oder vergessen wurden, ist eine der Fragen, die die Herausgeber sich stellten. Neben den militärischen und zivilen Opfern gab es in der Endphase des Zweiten Weltkrieges eine unbekannte Zahl von Opfern nationalsozialistisch motivierter Gewaltverbrechen. Von Herbst 1944 und bis Mai 1945, die drohende Niederlage vor Augen, richtete sich der Terror des NS-Regimes, der sechs Kriegsjahre lang weitgehend außerhalb des Altreiches praktiziert wurde, wieder nach innen und schließlich auch gegen die eigene Bevölkerung, wie ab 1933, als die Nazis ihre Macht mit Terror etablierten: gegen Millionen Häftlinge in der Phase der Evakuierung der Konzentrationslager, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, aber auch kriegsmüde Zivilisten, die der "Wehrkraftzersetzung" verdächtigt wurden, Wehrmachtsdeserteure und "Gemeinschaftsschädlinge".
In dem vorliegenden Band werden diese Gewaltverbrechen in der Endphase des Krieges unter verschiedenen Fragestellungen in zwölf Beiträgen behandelt und zur Diskussion gestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei die jeweiligen Tätergruppen von SS, Gestapo, Wehrmacht und Justiz, jedoch auch das Verhalten und die Reaktionen der deutschen Bevölkerung. "Terror im Innern", das unterstreicht der Mitherausgeber Edgar Wolfrum im Einleitungstext, wohl um Missverständnisse zu entkräften, es ginge vor allem darum, die Deutschen als Opfergesellschaft darzustellen, "Terror nach Innen" habe schon es zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur gegeben: gegen politische Gegner und Menschen, die aus rassistischen Gründen ausgegrenzt wurden.
Es geht vielmehr um die Untersuchung und Hinterfragung, ob es eine andere Qualität und Spezifik des Terrors in der Endphase des Zweiten Weltkrieges gab mit erweiterten Täter- und Opfergruppen, Tatmotiven und -orten sowie Prägungen für das kollektive Gedächtnis im Übergang vom Krieg zum Frieden. In der Einleitung kurz behandelt wird auch der Komplex "Tötungs- und Vergewaltigungsverbrechen an Deutschen", der jedoch bei dem Dachauer Symposium ausgespart blieb.
Der Hinweis, die Erforschung sei nicht nur als Thema schwierig, sondern auch bezüglich der Quellenlage, kann allerdings nicht befriedigen. Ebenso werden Verbrechen durch Bombenkrieg, Vertreibung, Flucht und Kollaboration zwar erwähnt aber nicht behandelt. Im ersten Beitrag geht es Sven Keller um Klärung der Begriffe, Methoden und den Umgang mit den Quellen. Er unterstreicht, dass die Endphasenverbrechen bis zuletzt vor allem einen ideologischen d.h. nationalsozialistischen Hintergrund hatten. Die Beiträge beinhalten meist Einzelfalldarstellungen und lokal oder regional begrenzte Beispiele.
Als Grund für die Forschungsdefizite wird von fast allen Autoren angeführt, dass es an Quellen mangelt, die über zentrale und übergeordnete Befehle eine Systematik und Vergleiche der Endphasenverbrechen erleichtern würden. Als Quellengrundlage dienten vor allem die Aktenbestände der Nachkriegsjustiz, bzw. die Urteilssammlung "Justiz und NS-Verbrechen". Der folgende Beitrag von Elisabeth Kohlhaas behandelt "Durchhalteterror und Gewalt gegen Zivilisten am Kriegsende 1945", Fälle von Standgerichten und Hinrichtungen von Menschen, die sich für die kampflose Übergabe ihres Heimatortes einsetzten, wie beispielsweise die gut aufgearbeitete Geschichte der "Männer von Brettheim". Lesen Sie hierzu auch den Projektbericht auf unserem Portal: [node:4264]
Die Fallbeispiele zeigen, dass es maßgeblich von lokalen Bedingungen und Einzelfaktoren abhing, wie sich Menschen verhielten, und was ihnen gegen Kriegsende geschehen konnte. Den "Justizterror in der Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkrieges" behandelt Norbert Haase, Fachmann auf diesem Forschungsgebiet seit einigen Jahren. Er zeigt, dass die Wehrmachtsrechtsprechung sich schon lange vor der Endphase des Krieges in das Repressionssystem des NS-Staates eingegliedert hatte. Mit der "Sondergerichtsbarkeit" der "Loyalitätserzwingung und Rache am Widerstand" beschäftigt sich ein weiterer Beitrag von Jürgen Zarusky, der die Kontinuität in der Zerstörung des Rechts seit 1933 als charakteristisch für das NS-Regime noch einmal hervorhebt.
Diejenigen Endphasenverbrechen, die die meisten Opfer (zwischen 240.000 und 350.000) forderten, waren die Mordaktionen an Häftlingen auf den Todesmärsche aus den Konzentrationslagern 1944/1945. Gabriele Hammermann, Mitarbeiterin den der Gedenkstätte Dachau, gibt in ihrem Beitrag einen guten Überblick über Struktur und Praxis der Räumungen der KZ, die Todesmärsche, Befehlsebenen sowie die zunehmende Verlagerung auf lokale Machtinstanzen und charakterisiert die Täter sowie das Verhalten der Bevölkerung. Cord Arendes umreißt den aktuellen Forschungsstand der sogenannten Werwolf-Aktionen, zählt sie jedoch nur bedingt zu der Endphasenverbrechen. Die Millionen ausländischer Zwangsarbeiter in Deutschland wurden insbesondere in der Endphase des Krieges, verschärft durch die Verschlechterung der Lebens- und Ernährungssituation und rassistische Propaganda, als Bedrohung wahrgenommen und somit vielfach Opfer von Gewaltexzessen, die gegenüber Deutschen nicht denkbar waren, wie Andreas Heusler in seinem Beitrag darlegt. Jörg Zedler analysiert "Die Wahrnehmung von Holocaust-Tätern in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der Mauthausen-Prozesse", anhand der Berichte über den Prozess in bundesdeutschen Zeitungen und widerlegt die These, die mediale Berichterstattung habe wesentlich zur Aufklärung über die Täter beigetragen. Vielmehr vermittelte sie stereotype, abartige Profile von Tätern, mit denen der Durchschnittsdeutsche glauben konnte, nichts gemein zu haben.
Den Abschluss des Sammelbandes bilden vier Diskussionsbeiträge: "Die Sicht der USA auf die Verbrechen der Endphase", "Verbrechen gegen Kriegsende in Österreich", "Die Darstellung von Endphasenverbrechen in aktuellen Film- und Fernsehproduktionen" und "Alle wollen Opfer sein". Am Beispiel des Kinoerfolges "Der Untergang", Rückgriffen auf die 1950er-Jahre und die Wiederbelebung des "Mythos von der Stunde Null" werden kritische Fragen zur aktuellen Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur aufgeworfen.
Der Sammelband bietet eine gute Einführung in das Thema, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern regt vielmehr zur Fortsetzung des Forschungsansatzes unter Einbeziehung der eingangs erwähnten ausgesparten Themen an. Er ist anlässlich des offiziellen Gedenkens am 27. Januar zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und für die bis zum 8. Mai noch kommenden Gedenktage empfehlenswert für die schulische und außerschulische politische Bildung.
Die Herausgeber und Autoren der Beiträge sind überwiegend Historiker der jungen Generation: Edgar Wolfrum, geb. 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Cord Arendes, geb. 1971, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Uni Heidelberg im VW-Forschungsprojekt "Das Bild der Holocaust-Täter in der deutschen Rechtsprechung nach 1945", Jörg Zedler, geb. 1974, promoviert an der Universität München über den letzten bayerischen Gesandten am Heiligen Stuhl, Otto von Ritter, und ist ebenfalls Mitarbeiter im VW-Forschungsprojekt "Das Bild der Holocaust-Täter in der deutschen Rechtsprechung nach 1945".