Die Herausgeber des auf fünf Bände angelegten Handbuchs haben sich nichts weniger vorgenommen, als das vorhandene Wissen zum Phänomen der Judenfeindschaft ohne zeitliche und räumliche Begrenzung zu dokumentieren. In einem universalgeschichtlichen Ansatz versammelt der nun erschienene erste Band Artikel zur Judenfeindschaft in 85 Ländern und Regionen. 64 Autoren, renommierte Historiker, Politologen, Sozialwissenschaftler, Psychologen, Literaturwissenschaftler, häufig aus den beschriebenen Ländern, geben einen Überblick über die Traditionen des Antisemitismus.
In den europäischen Ländern beginnen die Darstellungen in der Regel im Mittelalter, der Schwerpunkt liegt auf der Neuzeit und reicht mit unterschiedlicher Intensität im Aktualitätsbezug bis zur Gegenwart. Die religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Dimensionen des Feindbildes werden in den verschiedenen Ausformungen dargestellt. Kurz wird jeweils auch die Geschichte der jüdischen Gemeinden skizziert. Dabei scheinen facettenreiche Bilder auf: von der größten jüdischen Gemeinde der Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens im Iran mit ihrer 2800-jährigen Geschichte, von antiken jüdischen Siedungen in Indien, von der jüdischen Migration seit dem Ende des 11. Jahrhunderts nach Osteuropa, vom Einfluss der aus Spanien und Portugal vertriebenen Sephardim auf die wirtschaftliche Entwicklung des Karibikraums.
Der Schwerpunkt der Darstellung und Analyse liegt jedoch auf den unterschiedlichen Mechanismen von Offenheit, Indienstnahme, Stigmatisierung, temporäreren Eingliederung, Abdrängung, dem Ausschluss und der offenen Gewalt, mit denen die Mehrheitsgesellschaft der Minderheit begegnet. In der Zusammenschau der Artikel werden alle Aspekte des Antisemitismus beleuchtet: seine Wurzeln in Christentum und europäischer Stereotypentradition, seine Funktionen in den sozialen und politischen Dynamiken in vormodernen und modernen Gesellschaften, die Politikmuster, die variablen Stereotypen, mit denen die Judenfeindschaft Bilder vom feigen jüdischen Schankwirt bis zur Weltverschwörung konstruiert und für ihre jeweiligen Zwecke mobilisiert, die latenten Formen und Ausgrenzungsstrategien sowie die manifesten Formen bis hin zu Pogromen und zum Genozid.
Angekündigt sind vier weitere Bände: der zweite Band setzt sich unter dem Titel Personen mit den individuellen Beiträgen zum Feindbild bzw. den Auseinandersetzungen damit aus den Bereichen Wissenschaft, Politik und Kultur auseinander, der dritte Band widmet sich Begriffen, Ereignissen und Theorien der Antisemitismusforschung, Organisationen und Periodika werden in Band vier beschrieben, abschließend wird in Band fünf die Wirkungsgeschichte der Judenfeindschaft in Film, Theater, Literatur und Kunst behandelt.
Das Handbuch des Antisemitismus liefert für Unterricht und außerschulische Arbeit das notwendige Orientierungswissen und die Kenntnisse, um dem Feindbild faktenorientiert zu begegnen. Ein moralisierender Anti-Antisemitismus steht in der Gefahr, die Stereotype, die er bekämpfen möchte, zu reproduzieren und das Gegenteil des Intendierten zu bewirken. Das Handbuch liefert dagegen, in lesbarer Weise, die analytischen Kategorien, um Entstehung und Funktionsweisen des Phänomens zu verstehen. Dies geschieht besonders dicht etwa im Artikel über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, der chronologisch die Judenfeindschaft von den antijüdischen Gewaltorgien der durchziehenden Kreuzfahrerheere bis zum Möllemannskandal und den am Nahost-Konflikt orientierten judenfeindlichen Ressentiments, die in der Kritik an israelischer Politik gegenüber Palästinensern antisemitische Stereotype laut werden lassen, darstellt.
Die Artikel zu arabischen Ländern beschreiben das religiöse Paradigma, das das Leben nicht-muslimer Minderheiten in islamischen Ländern prägt, das Wachsen des Feindbildes im Kontext von Kolonialpolitik und Nationalismus, den Einfluss von Übersetzungen antisemitischer Schriften christlich-europäischer Autoren. In der antisemitischen politischen Agitation in der Region werden Juden als negatives Gegenbild aller gesellschaftlichen Ideale gezeichnet. Die Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert bezieht sich häufig auf den Nahost-Konflikt und postkoloniale Antagonismen, deren Dynamiken auch Darstellung und Erinnerung des Holocaust prägen können. Die Kenntnis der unterschiedlichen Kontexte, in denen Judenfeindschaft mobilisiert wird, sowie der robusten Stereotypentraditionen ist unabdingbar, um das alte Feindbild in seinen verschiedenen Gewändern erkennen zu können. Das Handbuch des Antisemitismus ist dabei für die Wissenschaft und für eine historisch und politisch interessierte Leserschaft, aber auch für die politische Bildung ein unverzichtbares Hilfsmittel.