Der Sammelband Antiziganistische Zustände: Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments nähert sich dem Antiziganismus - also dem spezifischen Rassismus gegenüber Personen, die als "Zigeuner" tituliert werden - in einer theoriegebundenen Sichtweise an. Gleichzeitig bietet das Buch einen breiten Überblick über unterschiedliche Erscheinungsformen des Phänomens.
Antiziganistisches Ressentiment kann sich nach der Definition der Herausgeberinnen und Herausgeber in diskriminierenden Praxen äußern, die eine Spannbreite von ausschließenden Strukturen bis hin zu tödlicher Gewalt annehmen. Ebenso kann es auch die Form von kulturell vermittelten stereotypen Denkmustern und Bildern annehmen (S. 19).
In dem vorliegenden Buch thematisieren 12 Artikel, die in vier Abschnitten untergliedert sind, theoretische Einordnungen, die bundesdeutschen Erinnerungsdiskurse ebenso wie mediale Repräsentationen. Den Abschluss bildet ein Abschnitt zu der europäischen Dimension von Antiziganismus. Die Sozialpädagogin Roswita Scholz greift die Geschichte der Sinti und Roma im Hinblick auf die Verfolgungen in Europa auf und analysiert die Verknüpfungen von Antiziganismus mit der Entwicklung des Kapitalismus.
Mit der Aufklärung setzen einerseits Plädoyers für die Erziehung der „Zigeuner“ im bürgerlichen Sinne ein. Andererseits beginnt ein Prozess der scheinwissenschaftlichen Einordnung von Sinti und Roma als sogenannte Rasse und eigenes Volk. Im Anschluss werden Sinti und Roma stereotyp als Gruppe wahrgenommen und verfolgt, die sich scheinbar durch mangelnde Sesshaftigkeit dem allgegenwärtigen Zwang zur Arbeit entzieht. Scholz beschreibt die Kontinuitäten dieser Bilder in der Moderne, die auch nach dem Nationalsozialismus ihren Niederschlag gefunden haben.
Rafaela Eulberg analysiert lesenswert in "Doing Gender and Doing Gypsy" geschlechtsspezifische Zuschreibungen und die Beeinflussungen von Ethnisierungen innerhalb des Diskurses über Sinti und Roma.
Von direkter Relevanz für die pädagogische Arbeit ist der Artikel von Yvonne Robel über die gedenkpolitische Stereotypisierung der Roma in den bundesdeutschen Erinnerungsdiskursen. Die Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin beschreibt die Problematik von Opferkonkurrenz und Opferhierarchisierung im Zusammenhang mit der Debatte um ein eigenes Mahnmal als Opfer der Nationalsozialismus. Problem- und Fragestellungen um die Sichtbarkeit von Erinnerung und die Anerkennung verschiedener Verfolgungs- und Ausgrenzungsnarrative spielen immer wieder in internationale Jugendbegegnungen und in die interkulturelle Geschichtsdidaktik hinein.
Die "Konstruktion des Zigeuners in der Kinder- und Jugendliteratur" beschreibt Petra Maurer. Die Autorin geht in drei exemplarischen Buchanalysen den Darstellungen von Sinti und Roma als Fremde nach und wie solche Darstellungen stereotypen Wahrnehmungen Vorschub leisten. Es ist frappierend zu lesen, wie viele sogenannte Zigeunerbilder durch gut gemeinte Kinder- und Jugendbücher wiedergegeben werden und wie stark diese Bücher an Konstruktion und Vermittlung dieser Bilder mitarbeiten.
Erwähnenswert sind noch die Sichtweisen auf die aktuelle Stigmatisierung von Sinti und Roma in Italien, die von gewaltförmigen Ausbrüchen begleitet wurden. Diesen Blick wirft Katrin Lange auf die westeuropäische Realität des Antiziganismus, während Dirk Auer die Vertreibung der Roma aus dem Kosovo anspricht und die Frage nach der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft darin stellt.
Ein Beitrag über die politischen Aktivitäten der Flüchtlingsorganisation Romane Agloponipe in Niedersachsen von Djevdet Berisa und Klaus Stempel rundet den Band ab.
Der unmittelbare Nutzen von"Antiziganistische Zustände" für den Schul- und Bildungsbetrieb eröffnet sich vielleicht erst auf den zweiten Blick. Die verschiedenen Aufsätze machen sehr deutlich, wie stark die antiziganistischen Zuschreibungen und Stereotype auf Projektionen und Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft an die Minderheit beruhen. So bietet das Buch für interessierte Lehrkräften einen theoretisch reflektierten Zugang zur eigenen Auseinandersetzung mit einem historischen und aktuellen Ausgrenzungsmechanismus, auf den viele in ihrer praktischen Arbeit sicherlich bereits gestoßen sind.