Lernen aus der Geschichte (LadG): Inwiefern wird der Film Ihre Arbeit bei Medica Mondiale verändern? Kann der Film den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland zum Thema sexuelle Gewalt in Kriegssituationen längerfristig beeinflussen?
Karin Griese (KG): Der Film hat definitiv eine starke öffentliche Resonanz für das Thema von Medica Mondiale hervorgerufen. Sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen in Kriegssituationen ist zur Zeit sehr präsent in den Medien. Was wir uns für den Film gewünscht hätten, wären zwei einfache Sätze im Abspann wie z.B.: „Diese Frauen konnten 60 Jahre lang nicht darüber sprechen, weil es keiner hören wollte“ und: „Auch heute und jetzt werden Frauen und Mädchen weltweit in Kriegs- und Krisengebieten vergewaltigt“.
LadG: Ab welchem Alter kann das Thema im schulischen Unterricht bzw. in der historisch-politischen Bildung aufgegriffen werden? Welches Potential birgt der Film?
KG: Zu Beginn des Filmes werden die Schrecken des Krieges in sehr eindringlichen und brutalen Bildern dargestellt. Der Überlebenskampf nach dem Kriegsende für Frauen wie Anonyma wird ebenfalls schonungslos gezeigt. Wir empfehlen deshalb den Film für Jugendliche ab 16 Jahren. Entscheidend ist in jedem Fall eine gute Begleitung des Filmes durch die Pädagoginnen und Pädagogen und die Möglichkeit einer anschließenden Diskussion.
LadG: Welche Gefahren und Probleme sehen Sie bei der pädagogischen Arbeit mit dem Film?
KG: Mit Sicherheit kann der Film „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ einen Beitrag dazu leisten, ein schwieriges Thema beim Namen zu nennen. Doch sollte auch immer die Verbindung zur Gegenwart hergestellt werden. Wichtig ist, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen in Kriegssituationen nicht ausschließlich ein Thema der Vergangenheit ist, sondern auch heutzutage weltweit Realität ist. Über diesen Teil der deutschen Geschichte hinaus erscheint es notwendig, dass die Jugendlichen auch erfahren, was in anderen Ländern geschah und geschieht.
Als größtes Problem des Films erachtet Medica Mondiale allerdings die Darstellung der Beziehung zwischen dem russischen Offizier und Anonyma. Sie erwecke zum Teil den Anschein, als wäre sie eine Art „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. Diese Romantisierung führe auch zu einer Entdramatisierung der später folgenden Gewalt. Es werde im Film nicht immer klar, dass Anonyma sich nicht freiwillig hingibt, sondern in der Beziehung zum Offizier die einzige Überlebensstrategie für sich sieht.
Dennoch bleibe es wichtigstes Verdienst des Filmes, das Thema, welches so lange tabuisiert wurde, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Deshalb empfiehlt Medica Mondiale den Film, sofern er von pädagogischer Seite gut begleitet und ausgewertet wird.
Eine Filmrezension von Medica Mondiale finden Sie unter: http://www.medicamondiale.org/presse/pressespiegel/der-film-anonyma/