Am 9. April 2008 wurde in Berlin der zweite Band des deutsch-französischen Geschichtsbuchs für die gymnasiale Oberstufe von Klaus Wowereit, dem Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit, sowie dem Bildungsminister Frankreichs, Yavier Darcos, mit einer Pressekonferenz und einem Festakt im Deutschen Historischen Museum der Öffentlichkeit vorgestellt. Am 23. April erfolgte die gleiche Amtshandlung in Paris in der Universität Sorbonne.
In Berlin war der renommierte Kulturwissenschaftler und Frankreich-Experte Wolf Lepenies gebeten worden, als Laudator, wohlgemerkt nicht als kritischer Rezensent, das Schulbuch-Projekt zu würdigen. In Paris war die Präsentation begleitet von einer TV-Videokonferenz des französischen Spartenkanal „Histoire“, in der Schülerinnen und Schüler aus beiden Ländern zum gemeinsamen Geschichtsbuch Stellung nahmen, sowie einer Podiumsdiskussion zum Thema „Verschiedene Sichtweisen auf den Geschichtsunterricht“ mit Vertretern der beiden Schulbuchverlage und der Herausgeber.
Zur Entstehungsgeschichte des Projekts: Die Anregung geht, so heißt es, auf einen an Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac gerichteten Vorschlag des deutsch-französischen Jugendparlaments zurück, das 2003 anlässlich des 40. Jahrestages des Elysée Vertrages in Berlin tagte. Der Vorschlag wurde dann im Rahmen der deutsch-französischen Zusammenarbeit beider Regierungen realisiert. Von dem 2006 erschienenen 1. Band „Europa und die Welt seit 1945“ wurden in Deutschland bislang 45.000 Exemplare verkauft, in Frankreich, heißt es, verzeichne das Buch „einen ähnlich großen Erfolg.“ Die Verkaufszahlen sagen jedoch noch nichts über die wirkliche Nutzung im Unterricht als Hauptmedium aus. Widerstand gab es seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) wegen Nichtvereinbarkeit mit den länderspezifischen Curricula, die auch weiterhin besteht.
Dieses in zwei Bänden vorliegende binationale Geschichtsbuch für Gymnasien, das bisher allenthalben nur in den höchsten Tönen gelobt wurde, kritisch unter die Lupe zu nehmen, mag angesichts der für ein Schulbuch ungewöhnlichen, gleichermaßen politisch hochrangigen, bilateral besetzten Projektgruppe von staatlichen Kulturverwaltern, Universitätsprofessoren und Geschichtslehrern vermessen erscheinen. Doch bei einigen ausgewählten Inhalten genauer hinzuschauen, dazu regen gerade die mit den Presse-Informationen verbreiteten Lobeshymnen an: – es sei „kein politisches Instrument“, auch wenn dieses „Geschichtsbuch inhaltlich von Regierungsseite unterstützt wird“, – „die geschichtlichen Fakten werden wertfrei dargestellt“, – „die Perspektivenwechsel fordern die Schüler auf, andere Blickwinkel einzunehmen und sich ihr eigenes Urteil zu bilden.“ – es sei gelungen, „damit ein Lehrwerk für den Geschichtsunterricht zu schaffen, das den inhaltlichen wie didaktischen Anforderungen beider Bildungssysteme gerecht wird.“ - dass „zwei Nationen, die über Generationen verfeindet waren und Kriege gegeneinander geführt haben, sich auf ein gemeinsames Geschichtsbuch verständigen: das ist auch 45 Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages eine Sensation.“ Nicht nur dieser Überschätzung des Werkes durch Klaus Wowereit widersprach Wolf Lepenies in seiner Laudatio vom 9. April höflich doch entschieden: Sensationell wäre zum Beginn des 21. Jahrhunderts ein europäisch-asiatisches, europäisch-afrikanisches, aber auch ein deutsch-polnisches oder deutsch-russisches Schulgeschichtsbuch. Wenn die Erwartung geäußert wird, dass dieses deutsch-französische Projekt der Auseinandersetzung mit Geschichte auch für die Beziehungen anderer Nationen Vorbildcharakter haben kann, dann ist unüberhörbar und in dem Schulbuch auch unübersehbar, dass sich Deutschland und Frankreich als Zentrum und Zugkraft Europas verstehen. Dass beide Länder ihre historisch-politische Sicht auf „Europa und die Welt“ als Leitkultur verstanden wissen wollen, wurde von Wowereit bei der Präsentation in Paris unterstrichen: „Wer glaubt, dass wir so etwas anders als vor 20 oder 30 Jahren heute nicht mehr brauchen, irrt nach meiner Überzeugung. Die Beziehungen zwischen zwei Ländern wie unseren bedürfen gerade wegen ihrer außergewöhnlichen Intensität und Wichtigkeit weiterhin sehr aufmerksamer Pflege. Wir wollen erreichen, dass auch künftige Generationen in der Weise, wie wir es kennen, unsere Freundschaft pflegen, die ein zentraler Baustein der europäischen Einigung ist und bleiben wird.“ Hieß es nicht, dieses Geschichtsbuch sei kein politisches Instrument? Es stelle die Fakten wertfrei dar, ermögliche den Perspektivenwechsel, und eigene Urteilsbildung? Wertfreie Faktendarstellung ist Illusion, denn schon die Auswahl bzw. das Weglassen von Quellen, die Nichterwähnung von Fakten und Deutungskontroversen, nicht zuletzt die Diktion sowie die Begriffe, sind Ergebnis von inhaltlichen Entscheidungen.
Es sind in diesem Fall zwei schichtenspezifische Stimmen und Perspektiven auf Europa, die meistens nebeneinander stehen als aufeinander bezogen werden und letztlich weiterhin vom bildungsbürgerlichen Ethno- und Eurozentrismus geprägt sind. Auf den ersten Blick ist das Lehrwerk im Layout und Aufbau der Kapitel in beiden Bände übersichtlich und ansprechend: Kurze Überblicktexte zum jeweiligen Thema mit markierten und erläuterten Grundbegriffen, farblich abgesetzte Auszüge aus Quellentexten, Statistiken, zahlreiche Bildquellen und jeweils 2 bis 4 Fragen bzw. Bearbeitungsaufgaben, ein Anhang mit Kurzbiografien, Glossar und im 1. Band grundlegenden Arbeitsmethoden, die bereits in der Mittelstufe eingeübt werden. Dieser Aufbau ist heute Standard für zeitgemäße Schulbücher und nicht außergewöhnlich.
Auf den zweiten Blick entdeckt man unerwartete inhaltliche Defizite. Dass Schulbücher den aktuellen Forschungsstand meist nicht wiedergeben, weiß man aus der Praxis, doch bei einem derart ambitionierten Projekt mag man es nicht akzeptieren. Es kann hier nur stichwortartig auf einige, allerdings hochsensible Themen hingewiesen werden: So beschränkt sich im Band 1 das Kapitel „Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“ lediglich auf die Erinnerung an die Shoah, d.h. den Genozid an den europäischen Juden, exemplifiziert an vier künstlich geschaffenen neuen Gedenkorten in Jerusalem, Washington, Paris und Berlin, die nicht authentische Orte der Verbrechen sind. Lediglich ein Foto des Mahnmals von Auschwitz-Birkenau von 1967 zudem mit einem durchaus nicht wertfreien Text lässt diese Gedenkstätte neben den hervorgehobenen Shoah-Gedenkorten fast als irrelevant erscheinen, zumal die Vernichtungslager der Aktion Reinhard, Majdanek, Belzec, Sobibor, Treblinka und der Zusammenhang mit den Tötungszentren der Aktion T 4 nicht erwähnt werden. Diese Begriffe fehlen im Glossar beider Bände. Der Text des gesamte Kapitels über Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist mehr als defizitär. Er ist leider ein Beispiel dafür, wie eine vermeintlich auf Schülerniveau verkürzende Schulbuchdarstellung unverzichtbare Kontexte ausblendet. Durch die ausschließliche Fokussierung des Erinnerns und Gedenkens unter dem Begriff Shoah, bleiben alle anderen Opfergruppen, ganze Komplexe der NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit insbesondere in Osteuropa sowie die heutige vielgestaltige deutsche Erinnerungskultur und europäische Gedenkstättenlandschaft unerwähnt. Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beinhaltet nicht nur in Frankreich, vor allem aber in Deutschland und Osteuropa weit mehr als „Shoah-Gedenken“. Bei der Bilanz der Opfer des Zweiten Weltkrieges werden bei Frankreich als Kolonialmacht die Opfer an Kolonialsoldaten nicht erwähnt ebenso wenig wie Traditionslinien und Kontinuitäten vom kulturellen und biologistischen Rassismus des 19. Jahrhunderts, über den praktizierten kolonialen Rassismus zum NS/faschistischen Rassismus in der Mitte Europas bis über die NS-Zeit hinaus. Das wäre gerade für die aktuellen demografischen Veränderungen der Schülerschaft in beiden Ländern mit einem zunehmenden Anteil an Jugendlichen mit außereuropäischer Herkunft bzw. Migrationshintergrund wichtig gewesen. Hier hätte ein gutes Beispiel gegeben werden können für die Abkehr vom Ethno- und Eurozentrismus der beiden historischen Narrative.
Erwähnt werden soll nur noch stichwortartig die Einebnung der Kontroversen in der Geschichtswissenschaft über Kolonialismus, Ersten Weltkrieg, Kollaboration und Widerstand sowie die ungenügende Darstellung des rassistischen Charakters des Eroberungs- und Vernichtungskrieges in Osteuropa: Generalplan Ost (Germanisierungspolitik mit Kinderraub, gigantischen Vertreibungen und Vernichtung von Zivilbevölkerung) kommt auch als Begriff in Band II im Kapitel über den Zweiten Weltkrieges nicht vor. Schließlich fehlt in Band II im Kapitel über den Ersten Weltkrieg die Behandlung des Völkermords an den Armeniern 1917, der für die deutsche und französische Geschichte von Bedeutung ist, nicht zuletzt, weil Deutschland mittelbar an dem Genozid beteiligt war und in Frankreich seither eine große armenische Diaspora existiert. Folglich fehlt im Band I bezüglich des von der Türkei angestrebten EU-Beitritts auch die Erwähnung der von der EU gestellten Bedingung an die Türkei, diesen Genozid anzuerkennen und aufzuarbeiten.
Wenn dieses Lehrwerk schließlich vor allem für bilinguale Schulen empfehlenswert ist, dann müsste man beide Sprachversionen einsetzen, um Quellen jeweils in der Originalsprache lesen und interpretieren zu können. Zweisprachige Quellenhefte zum Lehrwerk gibt es nicht, jedoch enthält der deutsche Band 1 eine CD mit zusätzlichen Quellentexten zu den einzelnen Kapiteln, die allerdings nicht den französischen Zusatzmaterialien entsprechen. Dem in Planung befindlichen Projekt eines deutsch-polnischen Geschichtsbuches möchte man wünschen, dass die daran Mitwirkenden sich nicht von dem deutsch-französischen Vorbildanspruch blenden lassen und selbstbewusst ein eigenes Konzept entwickeln.