Internationale Freiwilligendienste in Mahn- und Gedenkstätten ehemaliger nationalsozialistischer Lager sind seit nunmehr 30 Jahren ein wesentlicher Teil der Friedens- und Versöhnungsarbeit des Service Civil International. Immer wieder müssen wir uns fragen: Sind unsere Workcamps in Gedenkstätten noch zeitgemäß? Sind die Arbeiten, die unsere Freiwilligen dort durchführen, sinnvoll und nachhaltig? Was sind die spezifisch deutsch-polnischen Fragestellungen?
Der SCI ist eine internationale Friedens- und Freiwilligenorganisationen, die 1920 von Schweizer Pazifistinnen und Pazifisten ins Leben gerufen wurde. Mittlerweile ist der SCI in 35 Ländern mit eigenständigen Zweigen vertreten. Der deutsche Zweig des SCI (http://www.sci-d.de) wurde 1946 gegründet und hat bereits zu Zeiten des Kalten Krieges einen Freiwilligenaustausch mit Polen durchgeführt. Erst mit der Gründung eines SCI-Zweigs in Polen (http://www.jedenswiat.org.pl) konnte die Zusammenarbeit mit Polen ausgebaut und auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Seit Anfang der 90er Jahre organisieren die beiden SCI-Abteilungen jedes Jahr deutsch-polnische Workcamps und Seminare. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Freiwilligenarbeit in Gedenkstätten. Unsere Projekte in diesem Themenfeld werden seit 15 Jahren durch das Deutsch-Polnische Jugendwerk unterstützt.
Seit den 1980er Jahren in Westdeutschland - und seit den 1990er Jahren auch in Ostdeutschland - organisiert der deutsche Zweig des SCI internationale Workcamps in Gedenkstätten. Auf eine langjährige Zusammenarbeit können wir mit den Gedenkstätten Buchenwald, Dachau, Hamburg-Neuengamme, Ravensbrück, Wöbbelin und Ehrenhain-Zeithain zurückblicken. Dabei haben internationale Workcamps in Gedenkstätten oftmals Pionierarbeit geleistet.
Durch die öffentlichkeitswirksame Arbeit internationaler Gruppen konnte der SCI dazu beitragen, dass viele Gedenkstätteninitiativen ihre Anliegen auf lokaler und überregionaler Ebene vorantreiben und gegen viele Widerstände etablieren konnten. Hinzu kamen die praktischen Ergebnisse der Einsätze: Freiwillige haben unter Anleitung von Archäologinnen und Archäologen Fundamentreste freigelegt, Erhaltungsarbeiten an den Baracken durchgeführt, Wege angelegt, mehrsprachige Gedenktafeln für Besuchergruppen errichtet, Gespräche mit Zeitzeugen aufgezeichnet, Dokumente und pädagogisches Material übersetzt und vieles mehr.
Der polnische SCI-Zweig Stowarzyszenie „Jeden Swiat" organisiert seit 2004 deutsch-polnische Workcamps in Gedenkstätten, dazu zählen das Staatsmuseum Majdanek in Lublin, die Gedenkstätte Belzec bei Lublin und die Gedenkstätte Zabikowo in Lubon bei Poznan. Darüber hinaus hat Stowarzyszenie „Jeden Swiat" für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus Deutschland und Polen verschiedene Fortbildungsseminare zur Gedenkstättenarbeit organisiert sowie eine Studienfahrt zum jüdischen Leben in Ostpolen.
Ein Ergebnis der Zusammenarbeit war die Veröffentlichung der Broschüre "Workshops on Education about Holocaust", die von beiden SCI-Zweigen genutzt wird. Darüber hinaus ist der polnische SCI-Zweig seit vielen Jahren sehr engagiert in Sachen Menschenrechtserziehung.
Freiwillige führen Unterrichtseinheiten und Workshops in weiterführenden Schulen sowie öffentlichwirksame Aktionen und Kampagnen durch (z.B. zum Tag des Flüchtlings, der Menschenrechte oder am Tag gegen Rassismus). Dadurch will der SCI die Situation von Flüchtlingen und Minderheiten in Polen ins öffentliche Bewusstsein bringen. Für seine vorbildliche Arbeit in diesem Bereich wurde der polnische SCI-Zweig 2004 mit dem Menschenrechtspreis "Sergio-Vieira-de-Mello" (UN-Kommissar für Menschenrechte) ausgezeichnet.
Workcamps und Freiwilligeneinsätze in KZ-Gedenkstätten sind nach unserer Erfahrung für Freiwillige aus Polen und aus Deutschland nach wie vor ausgesprochen interessant. Auch wenn es insgesamt schwieriger geworden ist, junge Menschen für den deutsch-polnischen Austausch zu gewinnen, melden sich für diese Camps regelmäßig viele Interessierte aus beiden Ländern an. Hier stellen wir nach wie vor einen großen Bedarf fest, sich an authentischen Orte mit der europäischen Geschichte auseinanderzusetzten.
Neben den „üblichen“ Erwartungen an das Leben in einer interkulturellen Gruppe, ein anderes Land kennen zu lernen, eine Fremdsprache auszuprobieren etc., treten häufig biographische Motive auf. Dabei kann die Familienvergangenheit Opfer- und/oder Tätergeschichten beinhalten. Manche Freiwillige kommen mit dem Wunsch, nach dem Verbleib von Familienangehörigen zu forschen. Andere wollen herausfinden, ob oder wie ihre Vorfahren sich als NS-Täter schuldig gemacht haben.
Eine große Rolle spielt das gemeinsame Erinnern und Gedenken und die Möglichkeit, mit der eigenen Arbeit einen Beitrag gegen das Vergessen zu leisten. Das geschichtliche Thema reicht in die Gegenwart hinein: Häufig sind rechtsextreme Ideologien, Gruppierungen und Entwicklungen in den Herkunftsländern Thema in den Camps. Die Freiwilligen wollen dem begegnen und einen praktischen Beitrag für eine Welt ohne Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und die Verletzung von Menschenrechten leisten.
In der Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Braunschweig Schillstraße hat eine deutsch-polnische Workcampgruppe vor zwei Jahren eine Ausstellung zum Thema „Zwangsarbeit in Braunschweig“ erarbeitet, die in der Stadt auf große Resonanz stieß. In diesem Jahr wird ein deutsch-polnisches Workcamp in Braunschweig eine kleine Ausstellung zum Thema „Frauenschicksale 1940 bis 1950“ erarbeiten. Die Freiwilligen suchen nach einflussreichen, starken Frauen, nach Ausgebombten, Flüchtlingen, Zwangsarbeiterinnen, Jüdinnen, Künstlerinnen oder Unternehmerinnen, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Braunschweig lebten. Die Freiwilligen werden vorab recherchierte Informationen aus dem Frauen-Archiv verarbeiten, sie wählen Fotografien aus, übersetzen Dokumente und erkunden die Stadt in Anlehnung an die ausgewählten Frauenbiografien. Die Ausstellung wird am Ende des Workcamps der Öffentlichkeit präsentiert. Da die Gedenkstätte nur einen hauptamtlichen Mitarbeiter hat, hat der SCI zwei Monate vor Campbeginn zwei erfahrene Freiwillige aus Deutschland und Polen als Praktikantinnen vermittelt. Dieses deutsch-polnische Team sichtet vorab das Material und wird das Camp gedenkpädagogisch begleiten.
Wir sind davon überzeugt, dass nicht nur die Freiwilligen, sondern auch die Gedenkstätten von Freiwilligenarbeit sehr profitieren. Neben tatkräftiger Unterstützung erhalten sie wichtige Impulse für ihre Arbeit. So führt z.B. die Ausstellung in Braunschweig nicht nur zur verbesserten öffentlichen Wahrnehmung der Gedenkstätte. Auch die polnischen Freiwilligen werden anders wahrgenommen als es dem üblichen Klischee von Polen entspricht. Die Tatsache, dass junge Menschen aus Polen und Deutschland gleichberechtigt zusammenarbeiten, mit unterschiedlichen Blickwinkeln gemeinsam eine Ausstellung entwickeln und sich dabei intensiv austauschen, führt unserer Erfahrung nach dazu, dass stereotype Wahrnehmungen abgebaut werden. Zudem entstehen neue Freundschaften und es wird ein ernsthaftes Interesse am Nachbarland geweckt.