Social Media-Plattformen werden immer wichtiger für Gedenkstätten. 2023 habe ich mich deshalb in meiner Masterarbeit im Studiengang Museumspädagogik – Bildung und Vermittlung im Museum mit dem Einsatz von TikTok in Gedenkstätten auseinandergesetzt. Die Ausgangsfragen waren, wie es Gedenkstätten bislang gelingt, Geschichtsvermittlung in die Zielgruppe zu tragen und ob junge Schüler:innen besser als bisher über die Kurzvideos erreicht werden könnten. Dafür wurde vor allem die Pionierarbeit der Gedenkstätten Neuengamme, Mauthausen, Bergen-Belsen, Dachau und Flossenbürg, der Erinnerungsstätte Villa ten Hompel und des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit Berlin von mir untersucht. Konkret analysierte ich die TikTok-Strategie sowie die geposteten Inhalte bzw. das Storytelling der Videos und erfasste Follows sowie Likes statistisch. Im Folgendem sollen wesentliche Ergebnisse der Arbeit vorgestellt werden.
Seit mehr als zwei Jahren nutzen Gedenkstätten mittlerweile TikTok und es werden stetig mehr, ungeachtet der Bedenken wegen mangelndem Datenschutz, die bei TikTok – wie bei allen Social Media-Plattformen – berechtigt sind. Diese werden in der gegenwärtigen Debatte jedoch stark politisiert. Die direkte Verbindung von TikTok zur Chinesischen Regierung konnte bisher nicht nachgewiesen werden; dass es in der Vergangenheit jedoch Beschränkungen und Propaganda auf der Plattform gegeben hat, ist unstrittig. TikTok ist jedoch derzeit eine der wichtigsten Social Media-Plattformen. Mit Blick auf ein diverses Publikum besitzt es zudem Vorteile gegenüber anderen Plattformen. So ist der Einsatz von Videos als hauptsächliches Medium barrierearm und die Multimedialität der Videos bietet viele Möglichkeiten, verschiedene Bedarfe von User:innen zu bedienen. Im Vergleich dazu ist die herkömmliche Geschichtsvermittlung in Gedenkstätten dagegen eher akademisch geprägt; das Erfassen von Inhalten ist oft an Vorwissen oder an ein bestimmtes Bildungsniveau der Rezipient:innen gebunden. Ein Zugang zur Institution Gedenkstätte ist dadurch nicht für jede:n ohne Weiteres möglich. Über TikTok ist eine junge Zielgruppe aber potenziell sehr leicht erreichbar.
Von den für meine Masterarbeit befragten 850 Schüler:innen, die die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora besuchten, nutzen 666 TikTok, also 78,35 %. In allen Altersgruppen ist die Wahrnehmung von Gedenkstätten auf TikTok höher als bei Instagram. Bei den 15- und 16-Jährigen 3,7-mal höher, bei den 17- bis 19-Jährigen sogar 5-mal höher und auch in der Altersgruppe der 20- bis etwa 25-Jährigen kennen 3-mal mehr Personen Gedenkstätten auf TikTok als auf Instagram. Die hohe Verbreitung der Kurzvideo-App führt demnach in allen untersuchten Altersgruppen zu einer stärkeren Wahrnehmung von Gedenkstätten und deren Geschichtsvermittlung. Zudem sind bei allen untersuchten Institutionen die TikTok-Accounts die reichweitenstärksten Social Media-Auftritte.
Bei einem Vergleich der TikTok-Auftritte von Susanne Siegert (@keine.erinnerungskultur) – in einer Reportage der Leipziger Volkszeitung reißerisch als „Holocaust-Influencerin“ bezeichnet – und der belgischen Gedenkstätte Kazerne Dossin lässt sich erkennen, dass auf dem TikTok-Kanal @kazernedossin zwar regelmäßig Videos gepostet werden, aber die Follows und Like-Zahlen gering bleiben. Siegert, die ebenfalls regelmäßig Videos auf die Plattform lädt, erreicht gemessen an ihren Follows und Likes hingegen viel mehr Menschen. Die Gedenkstätte Kazerne Dossin gestaltet ihre Videos als Slideshows, die mit Texten und Musik unterlegt sind. Siegert tritt dagegen in ihren Videos immer persönlich als Identifikationsfigur vor die Kamera. Sie schildert den jeweiligen Sachverhalt subjektiv, in ihren eigenen Worten und mit gelegentlich eingeblendeten Screenshots, Fotos oder Texten. Die stark variierende Reichweite und Resonanz der Kanäle lässt sich demnach nicht auf die Häufigkeit der Videoposts zurückführen, sondern durch den Auftritt einer Identifikationsfigur erklären. TikTok-User:innen erkennen Siegert in den ersten Sekunden der Videos wieder und kennen sie, vertrauen ihr oder wissen, dass es bei ihr etwas Spannendes zu sehen gibt.
Junge Freiwillige der Gedenkstätten Bergen-Belsen und Dachau treten in den TikTok-Videos auf um ein junges Publikum besser anzusprechen, Screenshots: https://www.tiktok.com/@belsenmemorial/video/7057316526369656069 und https://www.tiktok.com/@dachaumemorial/video/7166999985857268997, abgerufen am 14. Dezember 2022.
Susanne Siegert bietet mit ihrem TikTok-Kanal @keine.erinnerungskultur insofern eine Inspiration für Gedenkstätten, weil sie zeigt, dass die Vermittlung von Geschichte keineswegs nur mit bunten Videos, Musik und vielen Schnitten – so das weit verbreitete Bild von TikTok – funktioniert. Vielmehr belegt Siegert, dass es eine authentische Person braucht, die auf Augenhöhe mit der Community in einem ruhigen Setting Inhalte vermittelt. Siegert spricht über Themen, die sie selbst interessieren und bewegen. Dabei gestaltet sie ihre Videos so, als würde sie mit Freund:innen darüber sprechen. Doch ist ein solches Konzept auch auf die Strukturen einer Gedenkstätte übertragbar? Denn dort kann möglicherweise nicht gewährleistet werden, dass eine Person permanent als Gesicht der Institution auftritt und ansprechbar ist. Vielleicht wollen einige Gedenkstättenmitarbeitende auch nicht so präsent und persönlich auftreten, weil sie in einem Spannungsverhältnis zwischen Anstellung und Privatsphäre stehen? Sie könnten etwa damit Anfeindungen oder andere Übergriffe riskieren, da sie stellvertretend für die Institution oder ein kontroverses Thema gesehen werden können. Bei den TikTok-Auftritten der Gedenkstätten Bergen-Belsen, Neuengamme und Dachau kann man gut sehen, wie das Konzept von Siegert und anderen Influencer:innen auf TikTok angewendet wird. Die jungen Freiwilligen der Gedenkstätten treten auf dem jeweiligen Kanal als „Gesichter“ der Gedenkstätte auf und vermitteln die Inhalte. Junge Menschen sprechen junge Menschen an, diese Peer-to-peer-Ansprache ist nach meinen Beobachtungen das erfolgreichste Konzept für eine größere Reichweite und Interaktion zwischen den Gedenkstätten und der TikTok-Community.
TikTok nutzt wie die meisten Social Media-Plattformen Hashtags, um Inhalte durch Schlagworte schneller auffindbar zu machen. Videos von Gedenkstätten aus Deutschland oder Österreich werden deshalb häufig unter dem international bekannten Begriff der Holocaust Education aufgeführt. Die in den 1970er-Jahren in den USA und Großbritannien entstandene Holocaust Education unterscheidet sich stark von der gedenkstättenpädagogischen Praxis in Deutschland und Österreich. Holocaust Education zielt nicht primär auf die Vermittlung von historischem Wissen. Es soll vielmehr ein moralisches Wertesystem aufgebaut werden. Ein historisches Verständnis des Nationalsozialismus als Gesellschaftsform, in der Antisemitismus die zentrale handlungsleitende Ideologie war und Konzentrationslager eine herrschaftssichernde Funktion einnahmen, ermöglicht der Zugang der Holocaust Education eher nicht. In den meisten KZ-Gedenkstätten werden deshalb seit Jahren auch die Täter:innen, Profiteur:innen und Zuschauer:innen der „deutschen Volksgemeinschaft“ betrachtet. Reine Betroffenheit und eine Identifikation mit den Opfern sind nicht das Ziel. Vielmehr gilt es herauszuarbeiten, warum die deutsche Gesellschaft so breit an Verbrechen beteiligt war. Holocaust Education kann junge Menschen auf die Gefahren von Antisemitismus aufmerksam, sie aber nicht widerstandsfähig dagegen machen. Mitgefühl mit Opfern zu empfinden ist zwar eine Grundvoraussetzung dafür, werden dafür jedoch moralische Appelle eingesetzt, führt das bei der Zielgruppe oft zu Abwehrreflexen.
Ein Beispiel für Holocaust Education mit reißerischer Überschrift und der Zuschreibung der Täterschaft allein an Hitler, Screenshots: https://www.tiktok.com/ @toms.history.facts/video/7132866729461419270?q=holocaust%20education&t=1678794280430 und https://www.tiktok.com/ @toms.history.facts/video/7193370688508529926, abgerufen am 14. März 2023.
Deshalb sollten Gedenkstätten auf inhaltlicher Ebene vielmehr auf ihre Expertise vertrauen und auf ihre Instrumente der historisch-politischen Bildung, wie etwa den Beutelsbacher Konsens. Sonst könnte sich eine Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen verfestigen, die aus Bildungsperspektive schon längst überwunden scheint, die sich jedoch hartnäckig in Videos zeigt, die unter dem Hashtag #HolocaustEducation auf TikTok abrufbar sind. Hier werden hauptsächlich popkulturelle Referenzen reproduziert, die schon seit Jahrzehnten auch in den herkömmlichen Medien kursieren. Die hier verbreiteten Übertreibungen, falschen Analogien etc. von Besucher:innen sind nicht nur für die pädagogische Arbeit der Gedenkstätten hinderlich, sondern verhindern auch die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Verbrechen der deutschen NS-Gesellschaft. Ich erlebe in meiner Arbeit mit Schüler:innengruppen in der Gedenkstätte immer wieder ein sehr geringes oder defizitäres Wissen über den Nationalsozialismus. Beispielsweise werden hauptsächlich Jüdinnen:Juden als Opfer der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten benannt, Konzentrationslager werden inhaltlich auf Gaskammern verkürzt und Adolf Hitler wird als die allein verantwortliche Person für die Verbrechen angesehen. Nach dem Ursprung dieser Vorstellungen befragt, schildern die meisten Schüler:innen, dass sie das aus Filmen wie Der Junge im gestreiften Pyjama oder Der Untergang kennen. Beispielhaft dafür sind Videos eines österreichischen Influencers, die er unter dem Titel Tom’s History Factsveröffentlicht. Diese veranschaulichen die Reproduktion und Bestätigung solcher falschen Annahmen.
Um TikTok für eine andere Form der Geschichtsvermittlung zu nutzen, müssen Gedenkstätten die Logiken der Plattform kennen und für sich nutzen. So findet Geschichtsvermittlung entsprechend der Kommunikationsmechanismen auf TikTok nicht in einem Top-down-Modell statt, sondern alle Akteur:innen kommunizieren auf Augenhöhe direkt und gleichberechtigt. Das beinhaltet, es ist für alle möglich, die Inhalte und Debatten mitzugestalten und direkte Resonanz zu erfahren. Die Videos geben einen Anstoß und die Deutung liegt dann bei den Rezipient:innen, die nicht nur konsumieren. Sie können vielmehr direkt und auf vielfältige Art und Weise reagieren. Der Algorithmus schafft es auch, den gewohnten Resonanzraum zu öffnen: Die User:innen sehen nicht nur Content, den sie bewusst auswählen, sie werden auch mit ungewohnten oder gar unbekannten Inhalten konfrontiert. Beispielsweise schildern Mitarbeitende der österreichischen KZ-Gedenkstätte Mauthausen in meiner Befragung, dass sie mit dem Einsatz verschiedener Hashtags auch in andere „Filterblasen“ vordringen könne – so wurde ein Video über die Untertageverlagerung und den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Flugzeugindustrie am Ende des Zweiten Weltkrieges dann auch auf Profilen von Nutzer:innen, die sich eigentlich für Modellflugzeuge interessieren, ausgespielt.
Darüber hinaus bietet TikTok Gedenkstätten ganz neue Möglichkeiten, digitale Erzählformen zu etablieren. Denn neben den eigentlichen Videoinhalten sind mit der Kommentierung, mit der Stitch- und der Duett-Funktion vielfältige Annotationen an einzelnen Inhalten auf der Plattform möglich und immer wieder abrufbar. Gedenkstätten sollten diese Möglichkeiten ernst nehmen und sich trauen, neue Formate für diese Rezeptionsgewohnheiten zu entwickeln. Wenn es gelingt, dass möglichst viele Gedenkstätten Inhalte speziell zu ihren historischen Orten auf TikTok vermitteln, können sie ein Gegengewicht zu Falschinformationen und irreführenden Analogien bilden und ihre Deutungsmacht im Diskurs erhöhen.
Sollen die Kurzvideos zur Bildung und zur Vermittlung von historischem Wissen eingesetzt werden, müssen sie professionell vor- und aufbereitet werden. Das bindet Ressourcen, die an anderen Stellen eventuell fehlen. Bisherige Konzepte funktionieren so, dass für jedes Video vorab ein Drehbuch erstellt wird, welches vor dem Dreh durch die Leitung der Gedenkstätte autorisiert wird. Auch der redaktionelle Ablauf, der von einem:einer Socialmedia-Manager:in koordiniert und entschieden wird, ist sehr aufwendig und bindet Personal. Im Falle der beiden Gedenkstätten Mauthausen und Neuengamme, die diese Modelle einsetzen, wird der Einsatz mit einer großen Reichweite auf TikTok und darüber hinaus mit einer großen Bekanntheit auch außerhalb von Social Media belohnt. Für kleine Institutionen mit wenigen Mitarbeiter:innen ist ein solcher Aufwand jedoch schwer zu leisten. Das Konzept der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Aufbau und Pflege eines TikTok-Accounts an eine externe und zeitlich befristet angestellte Person zu übertragen, scheint aber auch keine Lösung zu sein – der Account konnte keine Relevanz entfalten und ruht derzeit. Gedenkstätten sollten digitale Bildung und Vermittlung als grundlegende Aufgabe der Gedenkstättenpädagogik begreifen und dementsprechend personelle Ressourcen planen und einsetzen, um auch zukünftig relevant zu bleiben.
Die Frage, ob es Gedenkstätten gelingt, auf der Kurzvideoplattform TikTok Menschen zu erreichen, kann ich nach meiner Erhebung sehr deutlich mit Ja beantworten. Wie gezeigt ist die Wahrnehmung von Gedenkstätten auf TikTok zudem im Vergleich höher als bei Instagram.
Die zweite Frage, wie Gedenkstätten ihre Geschichtsvermittlung gestalten und auf welche Weise sie versuchen, TikTok-Nutzer:innen etwa für die Themen Shoah, Konzentrationslager und Erinnerungskultur zu interessieren, ist weit differenzierter zu beantworten. Fest steht, dass TikTok Gedenkstätten umfangreiche Möglichkeiten zur Geschichtsvermittlung bietet. Unter anderem mit Hashtags, Stitches oder Challenges stehen plattformimmanente Werkzeuge zur Verfügung, die es Gedenkstätten ermöglichen, ihren Content auf die For-You-Pages der User:innen zu bringen. Zudem haben Gedenkstätten und andere Akteur:innen der historisch-politischen Bildung verschiedene Erzählmodi etabliert, die strategisch eingesetzt werden können, um Geschichtsthemen abwechslungsreich und zielgruppengenau zu verbreiten. Das am häufigsten eingesetzte Storytelling ist der Educational-Modus – darunter sind frontal vorgetragene Erklärvideos zu verstehen. Gedenkstätten können mit diesem Modus in ihrer gewohnten Rolle als Senderinnen von Wissen auftreten, indem sie Fachwissen plattformgerecht als kurze Inhaltseinheiten in hochformatigen Videos, die am besten auf Smartphones angeschaut werden können, bereitstellen. Der Visit-Modus hingegen durchbricht die Top-down-Kommunikation: Hier drehen TikTok-User:innen kurze Besuchsvideos in Gedenkstätten, schildern subjektive Eindrücke und bauen damit eine Peer-to-peer-Wahrnehmung der Orte auf, ganz ohne das Zutun der Institutionen. Das wirkt für Mitarbeitende der Gedenkstätten vielleicht zum Teil als Kontrollverlust über die Deutung des Ortes. Es kann sich zugleich als eine neue Perspektive auf den Ort herausstellen – was sieht ein junger Mensch in einer Gedenkstätte? Was spricht die Person an? Was findet sie interessant und weshalb wird dazu ein Video gemacht? Wenn Gedenkstätten klug und wertschätzend mit den Eindrücken der User:innen umgehen, schaffen sie es, ihre Bekanntheit zu steigern, und diverser sowie zugänglicher zu werden.
Damit könnte mit TikTok auch eine pädagogisch gerahmte Lernerfahrung etabliert werden, die aber weniger formal und geplant wie etwa eine Schulunterrichtseinheit an die User:innen herantritt. Die Lernerfahrung findet in einem sozialen Medienumfeld statt, das es ermöglicht, Informationen in einer alltäglichen Handlung, in Form der Kommunikation auf dem Smartphone, niedrigschwellig und selbstverständlich bei der Zielgruppe zu verankern.