Dieser Text ist eine leicht überarbeite Fassung der Rede, die Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum am 27. Januar 2023 in Erfurt im Thüringer Landtag gehalten hat. Anlass war das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, das 2023 insbesondere jenen Menschen gewidmet war, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. ihrer geschlechtlichen Identität verfolgt wurden.
Im Oktober 2022 sterben zwei junge Menschen bei einem Angriff auf einen queeren Treffpunkt, nur einige hundert Kilometer von hier entfernt, in Bratislava. Im September 2022 stirbt ein junger Transmann am Christopher-Street-Day in Münster, nachdem er sich in einer Straßenbahn schützend vor zwei attackierte Frauen gestellt hatte. Zwei Jahre zuvor, in Dresden, wird ein schwules Paar mit einem Messer angegriffen, einer erliegt seinen Verletzungen. In den USA, wo bekanntlich ganz andere Waffen zur Verfügung stehen, sind in den letzten Jahren Dutzende von Menschen bei Attacken gegen queere Bars erschossen worden.
Weder ist diese Liste vollständig noch beschränkt sich der Terror gegen queere Menschen auf Europa und die USA, wie wir wissen: In 70 Ländern stehen homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe, in 44 gilt dies auch für Frauen. In 13 Ländern steht darauf die Todesstrafe.
Wenn wir also den im Nationalsozialismus verfolgten sexuellen Minderheiten gedenken, dann tun wir dies in dem Wissen um die tödliche Realität homophober und queerfeindlicher Hassgewalt hier und heute. Warum aber hat es dann so lange, fast dreißig Jahre gedauert, bis wir, bis unser Staat sich dazu aufraffen konnte, endlich auch diesen Opfern des Nationalsozialismus einen würdigen Platz am 27. Januar einzuräumen? Ich habe im Januar 2023 eine Diskussion unter dem Titel „Ein schwieriges Gedenken“ moderiert – und fragte mich: Warum eigentlich ist dieses Gedenken so schwierig? Warum sind queere Menschen (fast) die letzte Opfergruppe, die auf diese Weise öffentlich Anerkennung finden soll? Warum hat dies so lange gedauert in einem Land mit einer vorbildlich ausdifferenzierten Gedenkkultur, mit schwulen Bürgermeistern und Ministern, lesbischen TV-Moderatorinnen und Transpersonen im Parlament? Es ist dieser Widerspruch, über den ich gemeinsam mit Ihnen nachdenken möchte, getragen von der Überzeugung, dass Gedenken nur dann glaubwürdig sein kann, wenn man sich nicht nur aus der Distanz vor fernen Zeiten gruselt, sondern auch die Kontinuitäten in der Gegenwart klar benennt.
Der erste Grund für das verspätete Gedenken ist so einfach wie wahr: Homosexuelle und queere Männer wurden auch nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft massiv weiter verfolgt. Für manche von ihnen endete die Haftzeit nicht 1945, sondern erst in den 1950er Jahren. Im Gegensatz zu allen anderen Opfergruppen blieb in ihrem Fall sogar die gesetzliche Grundlage der Verfolgung erhalten. Der von den Nationalsozialisten verschärfte §175 war in der Bundesrepublik bis 1969 in Kraft, ganz abgeschafft wurde er bekanntlich erst 1994. In der DDR distanzierte man sich schon in den 1950er Jahren von dem NS-Gesetz, de facto aber kam es auch hier bis in die 1960er Jahre weiterhin zu Verurteilungen, besonders im Falle von Prostitution und Jugendverführung. Dennoch ist sich die neuere Forschung darin einig, dass der Verfolgungsdruck in den ersten Jahrzehnten der DDR bei weitem geringer war, während in der Bundesrepublik bis 1969 ca 50.000 Urteile gefällt wurden, mehr als während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zusammen. Zudem wurde den NS-Verfolgten in beiden deutschen Staaten keine Entschädigung gewährt, weder für die erlittene Haftzeit noch für so dramatische Eingriffe wie die Kastration, mit der man sich in den Kriegsjahren manchmal vor der Einweisung in ein KZ hatte retten können. Wie so viele andere Verfolgte starben die überlebenden homosexuellen und queeren Opfer des Nationalsozialismus in beiden deutschen Nachfolgestaaten oftmals verarmt, isoliert und krank – und ohne je eine staatliche Anerkennung ihres Leidens erfahren zu haben. Für alle von ihnen kommt der heutige Tag zu spät. Diese Schande für unser Land endlich anzuerkennen, macht unser heutiges Gedenken vermutlich schwierig, aber umso nötiger, wenn wir glaubwürdig sein wollen. Die Geschichte der Opfer, aller Opfergruppen nach 1945, muss Teil unserer Erinnerung an den Nationalsozialismus werden, wenn wir es ernst damit meinen, dass Gedenken auch der Demokratieerziehung dienen soll. Hier ist noch viel zu tun.
Aber, und hier ist vermutlich noch mehr zu tun, es gibt einen zweiten Grund, warum dies vielleicht ein schwieriges Unterfangen ist: Die zwischen 1933 und 1945 verfolgten sexuellen Minderheiten sind eben keine „Gruppe“, die man als Opfer anerkennen und auf Distanz würdigen kann. Nein, hier geht es um uns, um unsere eigenen Familien und Freundeskreise. Vermutlich würde bei fast jedem und jeder von uns bei intensiver Familienrecherche ein alleinstehender Großonkel auftauchen, früher gerne „Hagestolz“ genannt, oder die etwas skurrile alte Tante, die immer mit einer Freundin zum Wandern fuhr. Und auch wenn vielleicht keiner dieser Verwandten während des Nationalsozialismus inhaftiert wurde, so litten sie all die Jahre, vor und nach 1945, unter der Angst der Verfolgung, unter der Verstellung, den zerstörten Lebensentwürfen, dem nicht gelebten Glück. Kurzum: Wenn wir heute der Verfolgung queerer Menschen im Nationalsozialismus erinnern, dann sind wir mittendrin in unseren Wohnzimmern, Fotoalben und Familiengeschichten – und ich möchte vermuten, dass vieles, was dort aus den dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre zum Vorschein kommen würde, ziemlich traurig wäre. Wir sollten uns, wenn wir können, dem stellen.
Und wir sollten uns dabei auch klar machen, dass dies nicht immer so war und schon gar nicht zwangsläufig so werden musste. Es begann schon im Kaiserreich, aber vor allem die viel zu kurzen Jahre der Republik waren eine Zeit des Aufschwungs, der langsamen Entkriminalisierung queerer Lebensweisen. In den Großstädten, Berlin vorneweg, gab es das, was Stadtführer bis heute gerne eine „blühende, queere Subkultur“ nennen. Manchen von Ihnen wird dies heute aus Fernsehserien wie „Babylon Berlin“ oder „Eldorado KaDeWe“ bekannt sein, damals bewunderte man die Stadt dafür in Paris und New York, London und Wien.
Das, was dann ab 1933 geschah, war auch eine Reaktion darauf, eine Reaktion auf Diversität, auf die selbstbewusste Wahl der eigenen sexuellen Identität, wie sie in den 1920er Jahren in einem bestimmten urbanen Milieu durchaus möglich war. Wie zentral der Hass auf diese Welt für die faschistische Mobilisierung war, sollte sich schon in den ersten Wochen der NS-Herrschaft zeigen. Kurz nach den Angriffen auf jüdische Professoren sowie Studierende und dem Boykotttag stürmten Studenten das 1919 von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft und plünderten die Bibliothek. Ein Großteil der über zehntausend Bände wurde vier Tage später auf dem Opernplatz verbrannt. Die Kampagne gegen „Schmutz und Schund“ und den vermeintlichen Sündenpfuhl Weimar hatte schon zum Wahlkampf der NSDAP gehört und war eng mit antisemitischen Bildern verbunden – Vorstellungen von „abartiger“ Sexualität und Jüdischsein wurden dabei eng verknüpft und sollten sich in den folgenden 12 Jahren immer wieder gegenseitig radikalisieren, wie etwa in den Rassenschande-Prozessionen auf deutschen Marktplätzen, oder, zu Kriegszeiten, in der Propaganda gegen jüdisch-bolschewistische Flinten-, gleich Mannweiber. Was dies konkret zur Folge hatte, konnte man schon 1933 zum Beispiel im Konzentrationslager Columbia-Damm beobachten, wo die SA ihren Aggressionen gegen alle Gefangenen monatelang freien Lauf lassen konnte, aber niemand so furchtbar gequält und gedemütigt wurde wie Schwule und Juden, und am schlimmsten schwule Juden.
Der vor kurzem verstorbene israelische Historiker Zeev Sternhell hat den europäischen Faschismus als Antwort auf das Gleichheitspostulat der Aufklärung definiert (vgl. Sternhell 2010). Der Nationalsozialismus hat dies, die Betonung der Ungleichheit der Menschen, am weitgehendsten ausdifferenziert, juristisch definiert und am radikalsten in die Praxis umgesetzt. Dabei hatte er ein bestimmtes Gesellschafts- und Menschenbild vor Augen, eine Utopie, die in Wahrheit eine Dystopie war und in deren Kern es um die Herstellung eines kulturell, sprachlich, religiös und politisch homogenen Gebildes ging, das die Nationalsozialisten „das deutsche Volk“ nannten und aus dem alle als „Fremd“ deklarierten – Juden, Sinti und Roma, Slaven – ausgeschlossen waren. Aber der Ausschluss betraf noch weitere Kreise, denn es gab neben den „Fremden“ auch sogenannte „Gemeinschaftsfremde“, ein Sammelbegriff für alle Unangepassten, für sozial oder sexuell deviante „deutsche“ Menschen, deren Palette immer breiter gefasst wurde: Neben queeren Menschen betraf dies Arbeits- und Wohnungslose, Alkoholiker, „Asoziale“, Minderintelligente, psychisch oder unheilbar Kranke, später auch rückfällige Kriminelle. Die ersten gesetzlichen Maßnahmen, die sich 1933 gegen eine Gruppe als Ganzes wandten, betrafen die sogenannten Erbkranken, die zu Hunderttausenden zwangssterilisiert wurden. Krankenhäuser und Psychiatrien wurden ebenso zu Orten der Verfolgung wie Arbeitshäuser und Erziehungsheime, Gefängnisse und Lager – all das waren auch Institutionen der Verfolgung queerer Menschen, von sexuell devianten Lebens- und Liebesmodellen.
Allerdings nahmen homosexuelle Männer im Universum der der extrem männerbündlerischen SS eine besondere Rolle ein, denn diese war manisch bemüht, jeden Anflug von Homoerotik in ihren Reihen, aber auch in der Gesellschaft insgesamt auszumerzen – und hier benutze ich dieses Wort bewusst, denn es ging immer um Vernichtung, sei es des Mann-männlichen Begehrens, sei es seiner Träger selbst, denn Homosexualität galt als erblich: Aus dieser Logik erklären sich schon frühe Tötungsphantasien seitens der SS und auch die Realität der Kastration, die in einem Gemeinschaftsfremden-Gesetz zur Regel gemacht werden sollte, was nur durch die deutsche Niederlage verhindert wurde. Da, wo Homosexualität als veränderbar angesehen wurde, versuchte man sie durch harte Strafen „umzuerziehen“: Bis 1937 hatte sich die Zahl der Urteile mehr als verzehnfacht. Insgesamt geht man von bis zu 100.000 Verurteilten aus, zwischen 10.000 und 15.000 von ihnen starben in den Konzentrationslagern (Jelloneck 2020: 53). Völlig unklar ist bislang die Zahl verfolgter und ermordeter Transmenschen, da diese sich der Kategorisierungslogik des Regimes z.T. entziehen konnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht verfolgt wurden – als „unsittlich“, „asozial“ oder psychisch krank, was alles in der einen oder anderen Weise ebenfalls zur Ermordung führen konnte. Auch lesbische Frauen gerieten so, aus ganz unterschiedlichen Gründen, ins Fadenkreuz der Verfolgung, wurden in Konzentrationslager eingewiesen und überlebten diese oftmals nicht. Zugleich führte der allgemein frauenfeindliche Charakter des NS-Regimes dazu, dass es manchen von ihnen gelang, ein unauffälliges Leben führten, allerdings immer in der Angst, von Nachbarn oder Kollegen denunziert zu werden.
Die Sorge vor der subversiven Kraft abweichender Sexualität war das eine, die Aufrechterhaltung klar konturierter Geschlechterbilder das andere: Die deutsche Volksgemeinschaft sollte aus „echten“ und vor allem zeugungswilligen Männern und gebärfreudigen Frauen bestehen und die Ausgrenzung aller anderen trug zu dieser Vorstellung von Gemeinschaft ex negativo bei. Es gibt bislang kaum Forschung zum Weiterleben derartiger Vorstellungen in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, aber gerade die massive Homosexuellenverfolgung in Westdeutschland ist ohne eine zustimmende, homophobe Grundstimmung nicht vorstellbar. Und auch hierfür kennen wir sicher alle Beispiele aus dem Familien- und Freundeskreis. Zugleich jedoch hat sich in den letzten Jahrzehnten vieles geändert: Nicht nur die Gesetzgebung – von der Streichung des §175 bis hin zur Ehe für Alle –, sondern auch und gerade die kulturelle Wahrnehmung und Wertschätzung sexueller Vielfalt. Nicht umsonst sprechen wir von Gay-Pride-Paraden, vom Stolz auf diese Errungenschaften als Ausdruck eines offen zur Schau gestellten Selbstbewusstseins queerer Menschen. Es wäre schön, wenn man eine solche Gedenkrede so optimistisch beenden könnte.
Denn auch wenn ich nicht glaube – das möchte ich ausdrücklich betonen –, dass sich Geschichte einfach so wiederholt, so sind heute doch Parallelen zu damals unübersehbar. Seit einigen Jahren steigen ausgerechnet in Berlin die Zahlen der Angriffe auf queere Menschen wieder, religiöse, radikalnationalistische und populistische Gruppen, Parteien und Bewegungen machen Stimmung gegen alles, was sie für „unrein“ oder „Gender-Gaga“ halten und bei manch einem wird Ekel und Hass derart befördert, dass er in Gewalt umschlägt. Ich verstehe diese neue Welle von queerphober Gewalt als Backlash, als Reaktion auf Liberalisierung und Diversität, ähnlich wie damals, zu Beginn der 1930er Jahre. Es reicht eben nicht, zu einem Sportereignis nach Katar zu fliegen und dort tapfer eine Regenbogenbinde zu verteidigen, wenn man aus einem Land kommt, in dem sich weiterhin kein aktiver Fußballspieler öffentlich trauen kann, zu seinem Mann zu stehen. Was ihn – und so viele andere – auch 2023 noch davon abhält, das hat einer der großen Vorkämpfer der Schwulenbewegung, der Jurist Karl Heinrich Ulrichs, schon 1867 formuliert: Man müsse kämpfen gegen „eine tausendjährige, vieltausendköpfige, wuthblickende Hydra, welche … [ihn und seine] Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon, mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete“ (zit.n. Stern 2013: 460). Diese Aufgabe ist auch mehr als 150 Jahre später noch aktuell – und am 27. Januar ist ein Tag für uns alle, sich darauf zu verpflichten.
Literatur
Jelloneck, Burkhard: Nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung in Stadt und Land, in: Zinn, Alexander (Hrsg.): Homosexuelle in Deutschland 1933–1969. Beiträge zu Alltag, Stigmatisierung und Verfolgung, Göttingen 2020, S. 49–59.
Stern, Keith: Queers in History: The Comprehensive Encyclopedia of Historical Gays, Lesbians and Bisexuals, Dallas 2013.
Sternhell, Zeev: The anti-Enlightenment Tradition, New Haven 2010.