Was wäre passiert, wenn Greta Thunberg nicht am 20. August 2018 in Stockholm die Schule für besseren Klima- und Umweltschutz geschwänzt hätte, sondern am 17. August 1984 in Bitterfeld? Diese Frage spannt den Rahmen für Natur? Politisch., das als Projekt der politisch-historischen Bildung mit einem gleichnamigen Serious Game neue Zugänge zur Geschichte der DDR aufzeigt. Das Thema ist der persönliche Einsatz für die Umwelt. Ausgangspunkt des Projektträgers Europäische Akademie Berlin (EAB) ist der Wunsch, zum einen die Erinnerung an das Unrecht des SED-Staats wachzuhalten. Zum anderen wollen wir Interesse für Widerstand und Eigeninitiative für Umweltschutz wecken, die zu seinem Ende beitrugen.
Natur? Politisch. © Europäische Akademie Berlin
Dazu entschieden wir uns für die kollaborative Erarbeitung eines Serious Games. In diesem erfahren junge Menschen, wie sich Jugendliche in der DDR auch unter großen persönlichen Gefahren für Umweltschutz einsetzten. Den Rahmen des Spiels Natur? Politisch. liefert die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher, die in Bitterfeld auf die unsachgemäße wie illegale Entsorgung verdächtiger Fässer stößt und diese dokumentiert. Mit ihrem Bericht, der die Vertuschung dieser Entsorgung festhält, machen sie sich auf den Weg zur Umweltbibliothek Berlin, um die Öffentlichkeit zu informieren. Doch ein Mitglied der Gruppe verrät den Plan der Stasi, die die Gruppe daraufhin aushebt. Das Spiel überlässt den Spielerinnen und Spielern an mehreren Wegmarken Entscheidungen. Es gilt zudem, Antworten auf Fragen der Figuren, denen sie im Verlauf der Handlung begegnen, zu finden, und stellt sie vor Rätsel, die die Handlung vorantreiben. So wird Geschichte interaktiv, sie wird zum Leben erweckt und ermöglicht Identifikation.
Mehr als ein Dutzend Beteiligte (u.a. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Spieleentwicklerinnen und -entwickler, freiwillige Teilnehmende, Stiftungsvertreterinnen und -vertreter und politische Bildnerinnen und Bildner) haben mit Natur? Politisch. ein Serious Game zur Geschichte der Umweltbibliothek Berlin geschaffen, einem wichtigen Treffpunkt der oppositionellen Umweltbewegung in den 1980er Jahren. Das Spiel vermittelt Menschen zwischen 14 und 22 Jahren Einblicke in den Alltag einer sozialistischen Diktatur. Dabei wird deutlich, welch hohes Gut demokratische Grundrechte wie Demonstrations- und Informationsfreiheit sind. Der spielerische Zugang zu einem wichtigen Gegenwartsthema und einer Facette gesellschaftlichen Engagements im Unrechtsstaat weckt Neugier.
Tote Flüsse und Seen, sterbende Wälder und vom Braunkohletagebau verwüstete Landschaften – das ökologische Erbe der DDR war desaströs. Als Erklärung für den rücksichtslosen Raubbau an der Natur wird noch heute häufig angeführt, die DDR-Elite habe anderen Zielen, etwa einer Steigerung der Produktion, grundsätzlich Priorität vor Umweltbelangen eingeräumt. Doch ganz stimmig ist diese Erklärung nicht, wie zwei Jahreszahlen zeigen: Schon 1968 wurde Umweltschutz als Staatsziel in der DDR-Verfassung verankert. Und 1972 richtete Ost-Berlin ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft ein – immerhin 14 Jahre vor der Bundesrepublik. Wie ist das zu erklären? Handelte es sich um eine vergleichsweise fortschrittliche Politik oder um Vertuschungsmanöver? Welche Möglichkeiten hatten Bürgerinnen und Bürger, die Lösung von Umweltproblemen zu beeinflussen – und wie ging der Staat mit Kritik und Widerstand um?
Diese Fragen bilden den geschichtswissenschaftlichen Hintergrund für Natur? Politisch. Auch wenn manche Fragen nur aufgeworfen und im Spiel nicht beantwortet werden, wird für die Spielerinnen und Spielern deutlich, dass Vertuschung und Behinderung von Aufklärung ein größeres Anliegen der SED war als eine fortschrittliche Umweltpolitik. Diese Botschaft des Spiels entspricht nicht nur der anekdotischen Schilderung der eingebundenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sondern basiert auch auf dem aktuellen Stand der Forschung.
Dass die DDR-Umweltpolitik trotz einiger Bemühungen als gescheitert betrachtet werden muss, hatte vor allem ökonomische Gründe. Die anhaltende Wirtschaftskrise, in der sich alle sozialistischen Staaten wiederfanden, verunmöglichte die Finanzierung vieler Maßnahmen ebenso wie die strukturellen Defizite einer Planwirtschaft, die die Nachfrage nach den notwendigen technischen Anlagen nicht befriedigen konnte. Die Lösung bestand für die SED aus der Verschleierung von Missständen.
Viele Bürgerinnen und Bürger reagierten auf die Untätigkeit des Staates und die rapide Verschlechterung von Umweltdaten mit verstärktem Widerstand: Sie wollten unzureichende oder komplett fehlende Umweltauflagen, massive Industrialisierung, marode Industrieanlagen und die Zerstörung der Landschaft durch Braunkohleabbau nicht mehr hinnehmen und organisierten Protestaktionen. In Kirchen wurden Umweltbibliotheken gegründet und Umweltblätter verfasst. Junge Umweltschützerinnen und -schützer veranstalteten Fahrraddemos, Baumpflanzaktionen und Umweltseminare, Anwohnerinnen und Anwohner nahmen an Spendensammelaktionen für Umweltzwecke teil und Engagierten gelangen heimliche Filmaufnahmen, die dem Ort Bitterfeld zu trauriger Berühmtheit verhalfen.
Der Protest gegen das umweltpolitische Versagen des Staates war nicht nur kreativ. Er hatte als Inspirationsquelle für die sich formierende Oppositionsbewegung in der DDR auch Anteil an der Überwindung des Systems durch engagierte Einzelne, die große Risiken auf sich nahmen. Solche Wechselwirkungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren nachzuvollziehen, zudem zu verdeutlichen, welche Folgen das Herrschaftssystem der DDR für die Umwelt einerseits und für den Aktivismus engagierter Bürger und Bürgerinnen andererseits hatte, ist das Ziel des Serious Game Natur? Politisch.
Selbst wenn Themen wie Politik, Alltag und Zwänge in der DDR in der Schule behandelt werden, bleiben Lücken, die nicht nur inhaltlicher Art sind. Natur? Politisch. widmet sich der Lücke der persönlichen Identifikation. Es fördert die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur durch methodische Innovation und thematische Zielgruppenorientierung.
Doch wieso die Umweltbibliothek? Warum das Thema Umweltschutz? Klimawandel und Umweltverschmutzung sind nicht zuletzt dank zahlreicher Initiativen junger Menschen wie Fridays for Future massiv ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Klimastreiks mobilisieren Jugendliche, die für ihre Forderungen auf die Straße gehen. War das in der sozialistischen Diktatur der DDR auch möglich? Wie können wir heute für grundlegende Rechte einstehen? In Natur? Politisch. werden diese Fragestellungen verarbeitet. Der Ansatz der Gamification birgt die Chance, neue, auch schwer zu erreichende Zielgruppen zu erschließen, die Motivation zum Lernen und zum eigenen Engagement, einem Kernanliegen der politischen Bildung, zu steigern und Sozialkompetenzen zu erhöhen.
Vielversprechend ist der Ansatz außerdem, da Videospiele eine Reichweite erzielen, die in manchen Altersgruppen klassische Medien wie Bücher und Filme längst überholt hat. Und weil die Beschäftigung mit dem Medium Game in besonderem Maße durch Interaktion – und nicht allein durch Konsum – geprägt ist, eignet sich ein Serious Game wie kaum ein anderer Ansatz, um bei jungen Menschen Interesse für ein bestimmtes Thema zu wecken.
Um das Spiel auf die Bedürfnisse der Zielgruppe auszurichten und deren eigene Expertise ernst zu nehmen, flankierte ein Partizipationsprozess die Spielentwicklung. Nachdem eine Kerngruppe von Studierenden unterschiedlicher Disziplinen gefunden und mit dem Thema vertraut gemacht worden war, fungierte diese Gruppe als fachlicher Beirat, als Testerinnen und Tester des Spiels und als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der Ergebnisse. Zusätzlich erfuhren sie im direkten Kontakt mit der Spieleentwicklerin, dem Grafiker und dem Sounddesigner mehr über Konzeption, Erarbeitung und Bewerbung eines Serious Games. In gemeinsamen und individuellen Workshops und Arbeitsphasen befassten sie sich zum einen mit dem DDR-Unrechtsstaat, konkret mit dessen Umweltpolitik, und zum anderen mit der Umweltpolitik „von unten“ (durch Aktivistinnen und Aktivisten), um anschließend gemeinsam Rahmendaten für die Spielentwicklung abzustecken. Konkret beteiligten sie sich unter anderem an der Ausarbeitung von Charakteren und deren Biografien, der Auswahl und Erarbeitung geeigneter Ausgangslagen, Aufgabenstellungen und Settings sowie bei der Definition von Entscheidungsoptionen innerhalb der einzelnen Spielperspektiven. Auf diese Weise erlangten sie nicht nur ein grundlegendes Verständnis für die Zwänge, die Unrechtserfahrungen und die politische Durchdringung des Alltags der Menschen in der DDR. Sie erlebten durch ihre direkte Einbindung in die Spielgestaltung darüber hinaus auch Selbstwirksamkeit, die sie ermutigen soll, für ihre Werte und Wünsche einzustehen und sich in Zukunft zu engagieren.
Zusätzlich zum Serious Game entstand ein didaktischer Leitfaden, inklusive weiterführender Zusatzmaterialien, der aufzeigt, wie das Spiel in den Schulunterricht, in eine Jugendbegegnung oder auf einer digitalen Konferenz eingebunden werden kann. Eine Lehrkräftefortbildung, die Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (die auch im Spiel auftauchen), Besuche in der ehemaligen Stasi-Zentrale und an der Gedenkstätte Berliner Mauer und den Test der Materialien beinhaltete, bildete den Abschluss des Projekts Natur? Politisch. Die Fortbildung wird auch in Zukunft an der EAB durchgeführt werden. Sie richtet sich an alle Lehrenden der formalen und non-formalen Bildung, die einen technisch wie thematisch innovativen Zugang zur Geschichte der DDR suchen. Informationen sowie die Begleitmaterialien finden Sie auf unserer Homepage.
Die Anlage und der große Umfang des Projekts in seiner kooperativen Ausrichtung bedeuteten einen hohen organisatorischen Aufwand. Doch so konnte das Projektteam sicherstellen, dass Handlung, Hintergründe und didaktisches Begleitmaterial des Serious Games nicht nur theoretisch gut konzipiert, sondern auch praktisch getestet wurden. Dass zudem – selbst bei der Erstellung eines digitalen Produkts – der persönlichen Begegnung ein großer Stellenwert zukam, macht das Projekt insgesamt zu einem gelungenen Beispiel für die politisch-historische Bildung.
Natur? Politisch. wird zeitnah auf unserer Homepage auffindbar sein.