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Die KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen sowie das Zeitwerk des Landesjugendrings Brandenburg (LJR) kooperierten vier Jahre lang im KZ-Außenlager-Projekt „überLAGERt“. Wir unterstützten junge Forscher*innen bei ihren Aktivitäten in ihren brandenburgischen Gemeinden vor Ort und standen ihnen als Mitarbeiter*innen der Bildungs- und Archivabteilungen bei ihren Forschungs-, Bildungs- und Gestaltungsfragen zur Seite.
Die Geschichte der Außenlagerstandorte des Konzentrationslagers Ravensbrück ist bis heute in Brandenburg sehr unterschiedlich aufgearbeitet. Der Wissenstransfer in die Gemeinden ist nicht sehr geschmeidig. Wenige wissen viel und Viele partizipieren nur an halbem Wissen. Mythen und Legenden sind geschaffen worden. Taten und Tatumstände werden kaum vermittelt. Das Opfergedenken blieb anonym („Die Toten Mahnen“). Dokumente und Quellen für die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück sind nicht gesichert. Neue Fragen finden oftmals wenig Abbildung, weil Denkmäler starr und sprachlos geworden sind. Von den heute 14-20-Jährigen können diese nur noch schwer entschlüsselt werden. Lernen aus der Geschichte ist das eine, aber davor steht eigentlich die Frage, wie Jugendliche überhaupt ein Projekt zur NS-Aufklärung erstellen und initiieren können? Das kommt oft zu kurz. Die komplexen Aufgaben von KZ-Gedenkstätten sind heutzutage gut abgebildet und professionalisiert, doch welche Angebote bieten sie hinsichtlich der Komplexität der Aufarbeitung der Außenlager im ländlichen Raum und zwar zusammen mit Jugendlichen? Wie kann kollaborative Beratung aussehen?
KZ-Außenlager-Geschichte ist an der heutigen KZ-Gedenkstätte Ravensbrück kaum wahrnehmbar. Das ist auch logisch nachvollziehbar, allein durch die räumliche Distanz. Von Interesse ist sie, denn Besucher*innen finden Informationen zu über 40 Außenlager in der aktuellen Hauptausstellung und erfahren erstmals, dass sich an ihrem heutigen Wohnort ein Frauen-KZ befand. Doch an wen sollen sich die Gäste wenden, wenn sie mehr wissen wollen?
Gesellschaftlich wird mittlerweile erwartet, dass die KZ-Gedenkstätten nicht einzig Orte der Aufklärung um das historische Tatgeschehen, der politisch-historischen Bildung, des Gedenkens und Erinnerns, sondern immer mehr auch Orte sozialer Verantwortung sind. Dieser gesellschafts-politische Anspruch beinhaltet nicht nur die Frage, was vor Ort erzählt wird, sondern wie in der Region ein Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung als Teil der lokalen Jugendbildungsarbeit initiiert werden kann.
Für die Bildungsabteilungen der KZ-Gedenkstätten kann das heißen: Beteiligt sein – und zwar außerhalb! Hier stellt sich die Frage, was die Gedenkstätte bewegen und leisten kann? Was wird von Akteur*innen erwartet? Was heißt Beteiligung? Was sind offene und pluralistische Erinnerungsprozesse? Wie kann die Gedenkstätte als Berater*in handeln – aber nicht in demokratische Entscheidungsprozesse eingreifen, sondern ein Teil der Diskussionen werden, beteiligt sein, um auch Ansprüche unterschiedlicher sozialer Gruppen in einer Gemeinschaft zu moderieren und Lösungswege zur Erinnerung und Aufarbeitung vor Ort mit Erfahrung und Expertise zu unterstützen. Engagieren, das hieße prozessbegleitende und unterstützende Beraterin zu sein, ohne Dominanz auf den Willen der Akteur*innen auszuüben. Sichtbar werden als „Beratungsstelle für KZ-Außenlager Geschichte“. So wäre es wichtig, „Beziehungsbereitschaft“ zu zeigen und zeitliche Ressourcen für die Fragen der lokale Akteur*innen zu haben.
Jugendgruppen lokaler Geschichtsarbeit können aus dem Erfahrungsschatz der alltäglichen Bildungs- und Forschungsarbeit der Gedenkstätten profitieren. Besuchen sie die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, dann eröffnet das zwar auf der Wissensebene neue Zugänge und Denkanstöße, aber wie geht es schließlich weiter, wenn sie als Heranwachsende über „ihre“ Außenlagergeschichte etwas erforschen und bewegen möchten? Wem sollen sie Ideen mitteilen? Wo sind die Leute mit Erfahrungen und ganz banal: Wen rufe ich dafür an? So banal die Frage scheint, aber keine Homepage der großen KZ-Gedenkstätten bietet solch eine explizite Orientierung an – weil sie ortsbezogen agieren und keine historisch-politische Beratungsstelle sind. Doch im Projekt „überLAGERt“ haben sich Grauzonen aufgetan: Die Gedenkstätten wollen niemandem ein „Masternarrativ“ empfehlen, aber der Erwartung, bei der Aufklärung um NS Geschichte zu helfen, doch entsprechen.
Das Projekt „überLAGERt“ hatte eine geförderte Pilotphase und eine dreijährige finanzielle Förderung durch unterschiedliche Geldgeber*innen. Damit war es zeitlich begrenzt. Die Aufgabenstellung ist in der Antragstellung inhaltlich definiert und zumeist nicht mit Jugendlichen gemeinsam erarbeitet und geschrieben. Diese zeitliche Begrenzung schränkt Projekte ein. Für Nachhaltigkeit und Kontinuität ist nicht viel Platz. Eine spezielle Beratungsstelle der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten könnte „KZ-Geschichte vor Ort“ einen Rahmen für folgende basale Fragen anbieten: Wie kommt es zur Gründung einer Forscher*innengruppe? Wo und wie können Treffen im Ort organisiert werden? Wie können Jugendliche ihre Interessen stark machen? Wie wird eine Gruppe gegründet und was braucht es für so ein Initiative? Sind Denkräume zur Außenlagergeschichte lokal eröffnet und Forschungsgruppen eingeleitet, so geht es gleich weiter mit den Fragen: Wie ist mit Unbeständigkeit, Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit umzugehen? Wie findet Austausch auf Augenhöhe statt? Wie ist flexibles und kollaborierendes Arbeiten möglich? Wie kann Inklusion und Geschlechtergerechtigkeit hergestellt werden? Was ist bspw. ein „Mit-mach-Treffen“ im Unterschied zu einer Infoveranstaltung oder einer Zukunftskonferenz/-werkstatt im Zusammenhang mit der NS-Aufklärung vor Ort? Es gibt viele verschiedene Formate, welches passt an welcher Stelle? Wie können Erkenntnisse gesichert werden? Wo können Erkenntnisse geteilt werden? Welchen Umgang gibt es mit daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten und Anfeindungen? Um autonome Handlungsweisen der Akteur*innen stets beizubehalten, könnten Gedenkstätten mit einer Beratungsstelle „Außenlager lokal erforschen“ all die Bedarfe sammeln, einen Austausch anbieten, helfen Prozesse auszuhandeln und unterschiedliche Perspektiven bündeln, verstehen und Verständnis schaffen. Herausforderungen vor Augen führen oder definieren und sie gemeinsam klären. Ideen finden und an Expert*innen weitervermitteln, Unsicherheiten, Krisen und Konflikte gemeinsam hierarchiefrei reflektieren und Lösungsmöglichkeiten erarbeiten. Kontinuierliche Beschäftigung könnte aufgezeigt und bei Gestaltungsabsichten eines Gedenkortes Erfahrungen geteilt und Hinweise gegeben werden. Im Prozess dieser Auseinandersetzung wird aufs Heftigste gelernt. Allein dadurch wird schon Umgebung verändert und ist damit Teil gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe.
Wie und wo lernen Jugendliche selbst etwas auf die Beine zu stellen, ohne Mitglied in einem Verein oder einer politischen Gruppe zu sein? In der Schule lernen sie oftmals diese wichtige Form von Kommunikation und Aktivierung zur Selbstbestimmtheit leider nicht. Die Gedenkstätte könnte hier auch behilflich sein, aufzuzeigen, was es bedeutet, partizipative Angebote selbst zu organisieren. Damit ist sie weit weg vom historischen Geschehen an sich, hilft jedoch, die Voraussetzung für Kommunikation in Prozessen der Aufarbeitung zu unterstützen. Sprache schafft Beziehung und Beziehung ist Voraussetzung für Erinnerung. Wie strukturieren Jugendliche ein Treffen ansprechend, basisdemokratisch und möglichst inklusiv? Welche kreativen Ansätze und Methoden gibt es hierfür? Was ist eine Veranstaltungsplanung. Wie kann Erfahrungsaustausch und Vernetzung hergestellt und befördert werden? Wie schaffe ich ein Umfeld für kreatives Engagement mit Bürger*innen?
Die Corona-Pandemie hat die Anforderungen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit an den Gedenkstätten digital herausgefordert. Neue Gedanken und Formate sind zwangsläufig entstanden. Die Horizonte wurden sehr kreativ erweitert. Doch für eine aktive Nutzung digitaler Lehr- und Lernmedien ist es notwendig, die Gedenkstätten mit geeigneten Produktionsmitteln zur Erstellung von Ton-, Bild- und Video-Dokumenten auszustatten. Optimal wäre es, dass sich Jugendprojekte diese Produktionsmittel für ihre Außenlager-Aktivitäten an der Gedenkstätte ausleihen könnten. Denn nicht jedes Projekt hat die Möglichkeit, für Jugendarbeit ein hochwertiges Equipment zu erwerben. Hier ginge es in Zukunft auch um mehr staatliche Verantwortung, Geldmittel für die Anschaffung und Wartung dieser technischen Ausstattung bereitzustellen und zu unterstützen. Eine zeitgemäße Infrastruktur, Intranet und W-Lan-Zugänge, ist eine Grundvoraussetzung für die lokale Nutzung von digitalen Lernumgebungen. Es ist notwendig, die Bildungseinrichtungen mit dieser modernen Infrastruktur auszustatten. Notebooks vor Ort sollten auch die Gemeinden für Jugendbildungsarbeit bereitstellen können, um mobiles und selbständiges Lernen zu fördern.
Um die Prozesse lokaler Außenlager-Aufarbeitung im Netz zu zeigen und Inhalte zu teilen, wäre eine Social Media-Beratung in Bereich der Gedenkstättenarbeit äußerst hilfreich. Schnell sind Aussagen ins Netz gestellt, die nicht auf einem soliden Fundament stehen. Zusammenhänge sind noch nicht ausreichend historisch geklärt, aber schon Gegenstand hitziger Diskussionen. Viele Menschen informieren sich fast nur noch durch Social Media. Was können Plattformen wie TikTok und Instagram im Bereich der historisch-politischen Bildung erreichen? Wie können diese Plattformen, die doch sehr für Unterhaltsames stehen, bereichernd für NS-Aufarbeitung sein? Wie können sich Außenlager-Projekte Sichtbarkeit verschaffen? Ist hierfür eine eigene Website attraktiv? Wo wird sie angebunden? Welche Medienkompetenzen sind hierfür nötig? Der Weg vom Impressum, der sicheren Quellennutzung bis hin zu den Bildrechten sollte gelernt sein. Wenn eine gemeinsame digitale Arbeitsplattform genutzt wird, sind Bearbeitungsrechte und Nutzungsbedingungen zu berücksichtigen. Sichtbarkeit heißt sensibel mit dem Thema der KZ-Außenlager umzugehen. Schnell fühlt sich jemand übergangen oder schlecht repräsentiert. Die Gedenkstätten haben inhaltsbezogen viel Wissen und können gute Berater*innen sein.
Erwachsene helfen Jugendlichen auf ihrer Spurensuche. Wissen weiter zu geben und zu teilen hat mit Alter und Erfahrung zu tun. Erfahrung kann hilfreich sein, birgt aber auch die Gefahr, dass eine vermeintliche Augenhöhe permanent über die Interessen der Jugendlichen hinwegsieht. Für Mentor*innen gibt es das sehr empfehlenswerte Fortbildungsformat, „‚Verunsichernde Orte‘ – Weiterbildungsangebote für Gedenkstättenpädagogik“. Dort werden Themen von Fachleuten zum Selbst- und Rollenverständnis, zum Umgang mit Teilnehmenden, zum Umgang mit Vermittlungsmedien und zur Inklusion angeboten. Doch das Angebot ist leider im Internet kaum zu finden und absolut nicht barrierefrei. Auch hier könnte die Gedenkstätte beratend zur Seite stehen und Fortbildungen vermitteln oder selbst organisieren. Der Landesjugendring hat mit solch einem Programm 2021 zur Vernetzung der Mentor*innen gestartet. Mentor*innenprogramme intensivieren den Dialog zwischen Menschen verschiedener Generationen, gesellschaftlichen/politischen Standorten und Kulturen und fördern die Weitergabe von Wissen in und zwischen den Generationen.
Gedenkstätten und ihre Bildungsabteilungen agieren schon immer auf transdisziplinären Ebenen: Geschichte, Politik, Kultur. Ihre Akteur*innen sind Gedenkstättenmitarbeiter*innen, Bildungsexpert*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen usw. Jugendliche können in diesem Prozess von Erinnerung und Aufarbeitung Lernende und Lehrende zugleich sein. Gedenkstätten brauchen Zeit und Personal, um sie in der theoretischen, konzeptionellen und praktischen Arbeit beraten zu können. Die Geschichte der KZ-Außenlager ist ein Erfahrungsraum und jede Debatte darüber fördert die Sicht darauf. Nicht nur auf die Geschichte an sich, sondern die Debatten legen politische Interessen des Gedenkens offen und fördern das zivilgesellschaftliche Aushandeln um die Erzählung selbst. Eigene professionelle und garantierte aufmerksame Begleitung fördert eine pluralistische und dezentrale Gedenkkultur und sie fördert die Courage von Jugendlichen, sich zu engagieren. Die Geschichte gibt vor, was wir an Quellen sichern wollen, wo es Aufklärungsbedarfe gibt, wo wir nach Erzählung suchen und um Deutung diskutieren und streiten. Für Jugendliche sind dies wichtige Reifungsprozesse, in denen sie u.a. ihr soziales Umfeld neu kennenlernen. Mit einer „Beratungsstelle KZ-Außenlager“ bräuchte es nicht immerzu neue Anträge für Projektfinanzierung, sondern über die Landesgrenzen hinaus könnte Beratungskontinuität, Wissenssicherung und Kooperation in der Bildungsarbeit geschaffen werden. In freudiger Erwartung auf die erste Sprechstunde!
überLagert – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg – Zeitwerk. Online: https://www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ueberlagert-lokale-jugendgeschichtsarbeit-an-orten-ehemaliger-kz-aussenlager-in-brandenburg-2/
Verunsichernde Orte – Fritz Bauer Institut. Online: https://www.fritz-bauer-institut.de/verunsichernde-orte
Infos für Mentor*innen – Zeitwerk. Online: Die Beratungsstelle des Zeitwerk zur lokalen Jugendgeschichtsarbeit des LJR Brandenburg unterstütz beratend Erwachsene bei ihrer Arbeit mit den Jugendlichen, steht bei Fragen und in schwierigen Situationen zur Seite, bietet Methoden zur Vermittlung von historischem Wissen an. Als lokale Mentor*innen gibt es die Möglichkeit, an der Fortbildung „Geschichte vor Ort – Praxisorientierte Fortbildung zur Begleitung von lokalen Jugendgeschichtsprojekten“ teilzunehmen. Online: https://www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ausbildung-jugendguide-zur-ns-geschichte-vor-ort/infos-fuer-mentorinnen/
Dr. Leonard Schmieding: Museum Education — Political Awareness Youth Empowerment: Work in Progress at the Berlin State Museums in: EU-Presidency Trio Conference: Museums and Social Responsibility — Values Revisited. Online: broschuere-eu-presidency-trio-conference.pdf (museumsbund.de)
Die neue ICOM-Definition von Museen erfasst sehr gut, wie soziale Verantwortung ein integraler Bestandteil der Museumsarbeit ist: „Museen sind demokratisierende, inklusive und polyphone Räume für einen kritischen Dialog über die Vergangenheit und die Zukunft (…)“.