Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Die folgenden Ausführungen stellen eine Reflexion der Kooperation im Projekt „überLAGERt – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg“ dar.
In der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Sachsenhausen betreuen wir Gruppen, die Mehrheit davon Schüler*innen, in Form von geführten Rundgängen, Studientagen oder auch Mehrtagesprojekten. Hierbei stellt der geführte Rundgang in Form einer zweistündigen Überblicksführung das meist gebuchte Angebot dar, sich mit der Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen.
An den Besuch von NS-Gedenkstätten werden häufig ganz besondere pädagogische Erwartungen geknüpft, von unterschiedlicher Seite wird hervorgehoben, dass gerade hier besonders eindrücklich Geschichte begriffen werden kann. Lernen aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft ist ein zentraler Topos, wenn es um Effekte von Gedenkstättenbesuchen geht. Die Aufrufe und Diskussionen zum verpflichtenden Besuch von Schüler*innen reißen seit Jahren nicht ab. Die Erfahrungen zeigen, dass Führungen und Gedenkstättenbesuche ganz allgemein nur selten von allen Gruppenmitgliedern beschlossen werden, und somit selten freiwillig erfolgen.
Ob von den Schüler*innen der in den pädagogischen Programmen der Gedenkstätte thematisierten Vergangenheit eine konkrete Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung und Gegenwart beigemessen wird, ist nur für eine Minderheit anzunehmen und bedarf einer gezielten empirischen Untersuchung. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass ein zweistündiger Rundgang kaum selbstreflexive Auseinandersetzung bewirken kann.
Für die Geschichte der Außenlager gilt, dass über die meisten von ihnen wenig sicheres Wissen existiert. Bis heute liegt keine Gesamtdarstellung über das System der Außenlager des KZ Sachsenhausen vor. Daher bot das überLAGERt-Projekt nicht nur die Möglichkeit, die Expertise der Gedenkstätte Sachsenhausen im Bereich Bildung und Forschung einzubringen, sondern durch die lokale Forschung der Jugendlichen auch von diesem neuerworbenen Wissen zu profitieren.
Ich stieß Ende 2020 in einer Zeit zum Projekt dazu, als die pandemische Lage die Zusammenarbeit und Unterstützung der lokalen Jugendgruppen vor eine große Herausforderung stellte. Der Besuch der Gedenkstätte, das Kennenlernen des Ortes und seiner Geschichte sowie die Recherchen zu den Außenlagern in Archiv und Bibliothek konnte nicht wie geplant stattfinden. Gemeinsam wurde von allen Kooperationspartnern über verschiedenste virtuelle Möglichkeiten und auch hybride Seminarformen nachgedacht und diese schließlich auch konzipiert und durchgeführt. Beim hybriden Workshop im Juni 2021 trafen sich alle Gruppen sowohl vor Ort als auch virtuell, um sich mit Fragen des Erinnerns vor Ort zu beschäftigen und Erinnerungszeichen zu gestalten.
Nicht selten sahen sich die Jugendlichen mit der Tatsache konfrontiert, dass historisches Forschen zur Lokalgeschichte eine Art Detektivarbeit darstellt sowie damit, wie schwer es ist, Quellen zu finden, dass Spuren auch ins Leere laufen können. All dies beinhaltete ein Frustrationspotential, das es beim Forschen galt aufzufangen und damit einhergehend ein Verständnis für die Lücken und das Nichtwissen zu ermöglichen und über deren Hintergründe ins Gespräch zu kommen. Von Seiten der Gedenkstättenpädagogik war es auch wichtig, bei der Auswahl der Quellen und deren Einordnung zu unterstützen und somit die Übersetzungsleistung zu begleiten.
Die Offenheit aller Beteiligten stellte die Voraussetzung dar, damit sich die Jugendlichen als gleichwertige Akteure wahrgenommen fühlten, deren Gedanken und Meinungen etwas zählen, die eigene Ideen einbringen können und Zeit und Raum haben, ihre ganz eigenen Formen des Erinnerns zu entwickeln. Nicht selten erleben Jugendliche von Seiten der Erwachsenen eine moralische Haltung, die sie unterschwellig oder auch ganz direkt an sich herangetragen sehen.
Ich habe in dem Projekt Jugendliche aus Brandenburg kennenlernen dürfen, die das Interesse mitbringen, in ihrem Ort genauer hinzuschauen und zu fragen, was hier während der NS-Zeit passiert ist. Ohne die Kooperation und auch die langjährige Erfahrung mit Jugendforschungsgruppen des Landesjugendrings hätten wir als Gedenkstätte Sachsenhausen die interessierten Jugendlichen nicht erreicht, wir wüssten schlicht und einfach nicht, dass es sie gibt und sie wären mit ihren Fragen allein gelassen worden.
Es ging den Jugendlichen aber nicht nur ums Erforschen und damit um neu erworbenes Wissen zu ihrem Heimatort, sondern ganz konkret auch um die Weitergabe: „Ich will, dass die Menschen hier wissen, was hier passiert ist“, so ein Projektbeteiligter. Bis heute haben sich wenige Städte in Brandenburg mit ihrer Geschichte während des Nationalsozialismus auseinandergesetzt, was sich nicht nur in den Ausstellungen der Lokalmuseen zeigt (dazu auch Susanne Köstering: NS-Geschichte in brandenburgischen Museen).
Mir war es während des Projektes besonders wichtig, die beteiligten Jugendlichen darin zu bestärken, dass sie eine Stimme haben. Es war inspirierend zu sehen, dass sie sich nach und nach als Wissensträger und -vermittler verstanden, die Initiativen vor Ort anschieben, Teil des städtischen Diskurses werden können und somit den gegenwärtigen Umgang mit der Geschichte der Lager in Frage stellen. Außenlager als Erinnerungsorte sind mit negativer Erinnerung verbunden und bis heute oft ein hartnäckig tabuisiertes Thema im öffentlichen Gedenken, denn sie zeigen, wie dicht und vielfältig das NS-System mit dem sozialen und ökonomischen Alltagsleben verknüpft war.
In der gemeinsamen Auseinandersetzung und Reflexion erfuhren die Jugendlichen unmittelbar, dass Erinnern nichts Gegebenes ist, sondern ein aktiver Prozess, dem unterschiedliche Fragen und Auseinandersetzungen vorausgehen. Ein wichtiger Teil der lokalen Jugendgeschichtsarbeit beinhaltete somit nicht nur die Auseinandersetzung und Erforschung der NS-Geschichte vor Ort, sondern auch das Bewusstsein von der historischen Gewordenheit der eigenen Lebensverhältnisse und damit von deren prinzipieller Veränderbarkeit.
In Brandenburg existieren unterschiedliche Initiativen, die sich mit lokaler Geschichte beschäftigen wollen oder es bereits tun. Oft fehlt es den Projektinitiator*innen an konkretem Wissen, wie sie sich dem Thema der NS-Geschichte vor Ort nähern sollen.
Neue digitale Möglichkeiten ermöglichen das in Kontakttreten und Kontakthalten über weite Entfernungen hinweg und erweitern die Möglichkeiten der Gedenkstätte Sachsenhausen, für diese Projekte beratend und unterstützend ansprechbar sein zu können. Die Jugendlichen, aber auch die Mentor*innen vor Ort benötigen diese Ansprechpartner*innen in Bezug auf Recherche, den Umgang mit Quellen, den historischen Hintergründen und deren Einordnung. Die Mitarbeiter*innen der Pädagogik der Gedenkstätte können hierbei wichtige Partner*innen sein, ihre Erfahrungen einbringen und gleichzeitig aus den Kooperationen neue Impulse für die eigenen Gedenkstättenprojekte mitnehmen. Voraussetzung hierfür sind allerdings eine längerfristige Zusammenarbeit und ein gutausgestattetes Zeitkontingent seitens der pädagogischen Mitarbeiter*innen.