Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, das Lernen aus der Geschichte braucht Menschen, die sich vor Ort für eine lebendige Erinnerungskultur einsetzen. Allenthalben hören wir insbesondere aus der Politik, aber auch von Überlebenden der NS-Verfolgung, dass sie in die junge Generation die Hoffnung legen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das ist eine große Erwartungshaltung an die junge Generation. Wissen diejenigen, die im Themenfeld unterwegs sind, doch darum, wie komplex das ganze Thema ist. In diesem Beitrag geben wir Einblick in die in Brandenburg von Januar bis April 2022 stattfindende Ausbildung Jugendlicher als „Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort“, an deren Vorüberlegungen und Ausgestaltung sich ein brandenburgweites Netzwerk beteiligt hat.
Jens-Christian Wagner, Gedenkstättenleiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, erläuterte jüngst, dass der Begriff „Erinnern“ einem erhobenen Zeigefinger gleicht, da Jugendliche sich nicht an etwas erinnern können, das sie selbst nicht erlebt haben. Wagner hält fest, dass der passendere Begriff der einer Auseinandersetzung sei (Sandrisser 2022). Dennoch wird in diesem Text von jugendgerechtem Erinnern gesprochen und unserer Erfahrung nach im Alltag auch synonym verwendet. Wenngleich die Definition von Begriffen wie Erinnern, Gedenken und Mahnen immer auch Teil einer Auseinandersetzung mit dem Thema sein und zu dessen Schärfung beitragen sollte. In unseren Zusammenhängen ist damit die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus gemeint. Insbesondere die mit den konkreten Ausformungen, Auswirkungen und Ereignissen im lokalen Umfeld der Jugendlichen. Erinnern meint, dass Jugendliche zu Forscher*innen vor Ort werden, dass sie sich mit heute verfügbaren Informationen beschäftigen, diese einordnen und für sich bewerten. Erinnern meint, dass Jugendliche diese Informationen in die Öffentlichkeit tragen und ihr Umfeld an diesem Wissen teilhaben lassen. Erinnern meint, dass Jugendliche selbst bestimmen, in welcher Form sie „Erinnerungen ins Bewusstsein“ holen.
„Eine Auseinandersetzung (…) muss immer selbstbestimmt und freiwillig sein“, so Wagner weiter (Sandrisser 2022). Doch wie erreichen wir überhaupt Jugendliche? Wie können sich Jugendliche Wissen zur lokalen Geschichte aneignen, ohne etwas über die Kontexte des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu erfahren? Wie wird schon vor Ort erinnert, gedacht, gemahnt? Welche Formate, welche Ansprache braucht es, um Jugendliche daran zu beteiligen? Welche, um Jugendliche neugierig zu machen? Was, um ihnen tatsächliche Mitwirkung zu ermöglichen? Diese und andere Fragen stellen sich seit Anfang 2021 Menschen aus Gedenkstätten, Bildungsstätten, von Erinnerungsinitiativen und aus der Jugendarbeit in Brandenburg, die sich in einem von der Beratungsstelle Zeitwerk im Landesjugendring Brandenburg e.V. koordinierten Netzwerk zusammengefunden haben. Entwickelt wurde in mehreren Netzwerktreffen das Konzept für die Ausbildung als „Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort“, welches nun als Pilotprojekt seit Januar 2022 umgesetzt wird. Darüber hinaus will das Netzwerk weiter zusammenarbeiten, als Forum für kollegiale Beratung, Fachaustausch und gemeinsame jugendgerechte Gedenkaktionen. Es gab und gibt inzwischen immer mehr Akteur*innen, die sich erinnerungskulturell in die Gesellschaft einbringen. Ziele des Netzwerks
„Als Netzwerk in Brandenburg wollen wir…
Bestandteil der Ausbildung als „Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort“ ist die Befähigung der teilnehmenden Jugendlichen zu Jugendgruppenleiter*innen, verbunden mit der Möglichkeit, eine Jugendleiter*innen-Card (Juleica) zu erhalten. Diese ist der bundesweit einheitliche Nachweis für ehrenamtliche Mitarbeiter*innen in der Jugendarbeit. Sie dient zur Legitimation und als Qualifikationsnachweis der Inhaber*innen. Zusätzlich soll die Juleica auch die gesellschaftliche Anerkennung für das ehrenamtliche Engagement zum Ausdruck bringen (Landesjugendring Niedersachsen e.V., 2021). Die Ausbildung garantiert eine hohe Qualität, da jede*r Juleica-Inhaber*in eine Ausbildung nach festgeschriebenen Standards absolviert. Die bundesweiten Mindestanforderungen wurden von der Jugendministerkonferenz 2009 beschlossen. Zu den vorgeschriebenen Inhalten der Juleica-Ausbildung gehören bspw. Methoden, Kommunikations- und Gruppenprozesse, Lebenswelten Jugendlicher sowie Rechtsfragen. Für die Jugendarbeit gibt es mit der Juleica damit eine qualitativ hochwertige Ausbildung für Ehrenamtliche. Ein vergleichbares Qualifikationsinstrument für Ehrenamtliche gibt es in kaum einem anderen Bereich des ehrenamtlichen Engagements. (Landesjugendring Niedersachsen e.V., 2021)
Die etwa 90 Stunden umfassende Ausbildung als Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort richtet sich an Jugendliche, die in Brandenburg leben und sich für die Auseinandersetzung mit NS-Geschichte in ihrem Ort interessieren, mitreden und ihr Wissen mit anderen teilen wollen. Die Ausbildung befähigt die Jugendlichen dazu, in ihrem lokalen Umfeld zu NS-Geschichte zu forschen und mit diesen Erkenntnissen eine eigene Aktion/einen Rundgang zu erarbeiten. Der Fokus der Ausbildung liegt darauf, mit Jugendlichen Wissen zu den vielfältigen Bezügen lokaler NS-Geschichte zu heben und dieses Wissen an Gleichaltrige und weitere Zielgruppen zu vermitteln. Die Ausbildung umfasst vier Bausteine: Baustein 1 Geschichte entdecken als niedrigschwelligen Zugang zu jugendgerechter Geschichtsarbeit, Baustein 2 Gruppen (beg)leiten befasst sich mit den Zielen, Aufgaben und Methoden der Jugendarbeit, den rechtlichen Hintergründen und gibt erste Einblicke ins Projektmanagement. Baustein 3 Geschichtskontexte dient dazu, Initiativen vor Ort und Formen der Kommunikation und Vermittlung kennenzulernen. In Baustein 4 Lokal forschen geht es um die Recherche vor Ort, darum, wie Wissen gesammelt und gesichert wird und die Erarbeitung einer eigenen Aktion/eines Rundgangs. Darüber hinaus soll die Teilnahme durch das Knüpfen von Kontakten zu lokalen Gedenk- und Erinnerungsinitiativen zu langfristigem Engagement anregen.
Im Konzept der Ausbildung „Jugendguide zur NS-Geschichte“ vor Ort werden die Prinzipien der Jugendarbeit mit denen der Geschichtsarbeit zum Ansatz der lokalen Jugendgeschichtsarbeit miteinander verbunden. Konkret meint dies:
Zu den Akteur*innen der Ausbildung Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort gehören:
Die teilnehmenden Jugendlichen arbeiten während der Ausbildung in einem Tandem mit lokalen Mentor*innen zusammen, d.h. die Mentor*innen unterstützen die Jugendlichen bei der Wissensaneignung, Organisation und Aufgabenverteilung, bei der Suche nach einem Forschungsthema und im Prozess sowie bei der Präsentation des Projektergebnisses im öffentlichen Rahmen. Sie motivieren die Gruppe in schwierigen Projektphasen und behalten die Atmosphäre der Gruppe im Blick. Fachlich begleitet wird die Projektarbeit von der Beratungsstelle Zeitwerk im Landesjugendring sowie dem sich gegründeten Netzwerk "Erinnerungsschmiede"(Arbeitstitel). Durch die langjährige Zusammenarbeit mit Gedenkstätten, Museen und wissenschaftlichen Einrichtungen im Land Brandenburg kann eine historisch fachlich fundierte Begleitung der Ausbildung sichergestellt und ausgebaut werden. Durch die langjährige Etablierung verschiedener zeitgeschichtlicher Jugendprogramme und -projekte entfaltet die Beratungsstelle Zeitwerk eine Wirkung über die Jugendverbandsarbeit hinaus in die Jugendarbeit, Sozialarbeit an Schule, Jugendhilfe, Heimatvereine und -geschichtsvereine sowie lokale und landesweite Initiativen für Vielfalt und Toleranz, die sich auch erinnerungskulturell engagieren.
Die Ausbildung von Jugendlichen als „Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort“ soll auf gesellschaftlicher Ebene bewirken, dass Jugendliche als Multiplikator*innen Empowerment erfahren. Um diese Wirkung zu erreichen, sollen auf der Ebene der Zielgruppe „Jugendliche“ folgende Ziele erreicht werden:
Die Anmeldung zur Teilnahme ist freiwillig. Neben einer Seminarwoche sowie einzelner Termine, an denen gemeinsam Erinnerungsorte in Brandenburg besucht werden, enthält der Ausbildungsplan mehrere Bausteine als Selbstlernzeiten, die sich die Jugendlichen selbst einteilen können. Die Beteiligung der Jugendlichen innerhalb der Ausbildung kann gemäß den persönlichen Affinitäten der Jugendlichen erfolgen, indem bspw. innerhalb einer Gruppe oder für eine konkrete Aktion Verantwortlichkeiten sinnvoll verteilt und übernommen werden. In gemeinsamen Treffen sowie vor und nach Ausbildungseinheiten sind Erwartungs- und Feedbackrunden mit jugendgerechten Methoden obligatorisch. Die inhaltliche Konzeption eines eigenen Rundgangs oder der Aktion sowie die Umsetzung werden von den Jugendlichen selbst erdacht – ein Feedback erfolgt durch die Mitarbeitenden der Pädagogischen Dienste der Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Der erste Durchgang der Weiterbildung wird kontinuierlich evaluiert und im Nachgang, gemäß der Rückmeldungen durch die Jugendlichen sowie durch die weiteren Projektbeteiligten, für weitere Ausbildungsgänge angepasst.
Im gesamten Prozess der Ausbildung werden die teilnehmenden Jugendlichen begleitet und beraten. Sie werden damit in ihrer Kompetenz gestärkt, sinnvoll eigene Aktionen zu planen und durchzuführen. Durch die Möglichkeit, eigene finanzielle Budgets zu bekommen, werden sie in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt und übernehmen Verantwortung für die nachhaltige Nutzung ihrer Aktionskonzepte.
Die zu Jugendguides zur NS-Geschichte vor Ort ausgebildeten Jugendlichen erreichen durch die Zusammenarbeit mit lokalen Geschichtsinitiativen auch ehrenamtlich tätige Personen in ihrem lokalen Umfeld, ihre eigenen Peergroups im familiären, schulischen und außerschulischen Umfeld sowie weitere Jugendliche, die bspw. an den erarbeiteten Rundgängen der Jugendlichen als Publikum teilnehmen. Diese Strahlwirkung der ausgebildeten Jugendguides für NS-Geschichte vor Ort auf die benannten indirekten Zielgruppen soll eine langfristige Stärkung von Jugendlichen als aktiven Erinnerungsakteur*innen sichern sowie das Interesse und die Aktivierung weiterer Jugendlicher befördern. Angestrebt wird, eine nachhaltige Verankerung des Konzeptes der Ausbildung als Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort auf lokaler Ebene zu befördern. Der Kontakt zu den "alten" Gruppen soll so gehalten und nach Möglichkeiten gesucht werden, die Expertise dieser Teilnehmenden den neuen Gruppen zur Verfügung zu stellen.
Aktuell sind die Jugendlichen dieser ersten Ausbildung mitten bei der Arbeit. Trotz der Schwierigkeiten der aktuellen pandemischen Lagen haben sie sich als Gruppe gefunden, die gemeinsame Interessen verbindet. Ende April läuft leider die Förderung aus. Eine Folgefinanzierung für weitere Durchgänge ist angestrebt. Diese würde auch die Weiterarbeit im Netzwerk sichern und den Aufbau eines Jugendnetzwerks ermöglichen.
Landesjugendring Niedersachsen e.V. (20. Dezember 2021). juleica.de. (L. N. e.V., Herausgeber) Online: https://www.juleica.de/antrag-und-infos/information/
Sandrisser, N. (22. Januar 2022). "Der Schutzschirm unserer Gesellschaft ist brüchig". (J. Allgemeine, Herausgeber): https://www.juedische-allgemeine.de/politik/der-schutzschirm-unserer-gesellschaft-ist-bruechig/