Bei reaktionären bis rechtsradikalen Kräften in der Gesellschaft ist das Heraufbeschwören von gesellschaftlichen Untergangs- und Degenerationsvorstellungen eine bekannte Strategie. Gleichzeitig sind diese Untergangsvorstellungen stark unterkomplex und basieren auf einem völkischen Weltbild. Das Narrativ des ‚Volkstods‘ verknüpft diese Untergangs- und Degenerationsvorstellungen mit klaren Rollenzuschreibungen an Frauen und positioniert sich offen gegen LGBTQIA-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual and Asexual). Wem das Wort Volkstod zu sehr nach Nationalsozialismus riecht und deshalb glaubt, neben rechtsradikalen Parteien wie dem III. Weg[2] oder der NPD[3] würde diese Vorstellungen keine Relevanz besitzen, liegt leider falsch. Mit der AfD ist eine Partei im Bundestag vertreten, von der manch prominente Politiker*innen von „Umvolkung“ und „Bevölkerungsaustausch“ reden (Botsch/Kopke 2019: 8; Höcke 2018: 215f.). Rechtsradikale Attentäter bezogen sich auf einen angeblichen ‚großen Austausch‘ und ermordeten in dessen Sinne Menschen. Hinter den Wörtern verbirgt sich stets der gleiche Gedanke, nämlich der des homogenen weißen Volks, das durch eine fremde Macht bedroht würde. Diese Macht versuche das Volk zu ersetzen, indem es die Geburtenrate senke und Migrationsbewegungen in Gang setze. Je nach Erzählung werden verschiedene Feindbilder ausgemacht, die für diesen Umstand verantwortlich sein sollen. Zu berücksichtigen ist der historische Umstand, dass in der Entstehung dieser Ideen Jüdinnen*Juden als Strippenzieher*innen dieses Plans ausgemacht wurden und auch bis in die Gegenwart sich strukturell an dem Narrativ nichts geändert hat. In den prominentesten Erzählungen sind es auch Jüdinnen*Juden, die als diese Position einnehmen[4]. Neben der antisemitischen und rassistischen Grundlage spielt der Antifeminismus eine entscheidende Rolle in diesem Phantasma. Dem antifeministischen Rollenbild zufolge finden Frauen ausschließlich in der Mutterrolle innerhalb einer heterosexuellen Ehe Platz. In dieser Weltsicht sind Frauen konkret für die (biologische) Reproduktion und Erziehung weißer Kinder zuständig. LGBTQIA-Personen treten hier als klares Feindbild auf und werden als Beispiel einer angeblichen Degeneration des Volkes angesehen. So auch Frauen, Lesben, Inter-, Nonbinary- und Transpersonen (FLINT), die sich für die Emanzipation von männlicher Herrschaft einsetzen und auch im Wissenschaftsbereich Themenfelder wie Geschlecht, Sexualität und Patriarchat bearbeiten. Feminist*innen wird in diversen Fällen die Verantwortung für Geburtenrückgänge zugeschrieben, Entwicklungen von Verhütungsmethoden als „Förderung“ des Volkstods gelabelt und Schwangerschaftsabbrüche als Mord chiffriert. Sexuelle und körperliche Selbstbestimmung, geschlechtliche Diversität, die der Realität entspricht, und Emanzipation auf dem (Lohn-) Arbeitsmarkt sind Faktoren, die im Narrativ ‚Volkstod‘ eine tragende Bedeutung haben. Damit stellt sich auch ein Spezifikum bei diesem Narrativ heraus: Frauen* sind nur sehr selten Akteur*innen im Diskurs – fast alle Schriften oder Aktionen zum phantasierten Volkstod stammen von (Cis-)Männern.
Es lohnt sich, einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Volkstod-Gedankens zu werfen. Im 19. Jahrhundert entstand aus der deutschen Nationalbewegung die völkische Bewegung. Diese verstand sich als biologistische Schicksalsgemeinschaft, die ihre Zukunft durch das Judentum gefährdet sah. Diese Gefährdung sahen sie einerseits von „Innen“ heraus, also dass Jüdinnen*Juden als Gegenprinzip zum „Deutschtum“ das deutsche Volk „zersetzen“ würden. Andererseits von „Außen“ durch die Immigration osteuropäischer Jüdinnen*Juden, denen vorgeworfen wurde, das Volk ersetzen zu wollen. Von Beginn dieser Bewegung an existierten Untergangsszenarien, mit denen Affekte – Ängste, Sorgen, Überlegenheitsgefühle – mobilisiert werden konnten. Oswald Spengler formulierte diese Untergangsszenarien in seinem Werk ‚Der Untergang des Abendlandes‘ (Botsch/Kopke 2019: 13ff.) von 1918 öffentlichkeitswirksam aus und bot Anknüpfungspunkte für nachfolgende Werke. In den 1930ern erschienen weitere Publikationen, die nun konkret vom „Volkstod“ sprachen, gegen den angekämpft werden müsse. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik griff auf eben dieses Untergangsszenario zurück und ermordete Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen. Also all jene, die gesellschaftlich behindert und als „krank“ klassifiziert wurden.
Zugrunde liegt immer der Gedanke der Höherwertigkeit des eigenen Volkes, das im Sinne einer Volksgemeinschaft sich nicht mit Menschen mischen dürfe, die nicht als „arisch“, bzw. weiß und abled angesehen wurden. Auch in der Nachkriegszeit hielten rechtsradikale Gruppierungen und Einzelpersonen am Glauben eines bevorstehenden Volkstods fest. Zwar ließ im Zeitraum des Babybooms die Mobilisierung des Ressentiments stark nach (Botsch/Kopke 2019: 24), mit dem Ende der gestiegenen Geburtenrate in der Nachkriegszeit und der Verbreitung der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln (insbesondere der ‚Pille‘) setzte in rechtsradikalen Kreisen der Alarmismus jedoch wieder ein. Diese Gruppierungen sahen sich nun mit dem Aufkommen der Schwulen- und Lesbenbewegung sowie der vom Staat geforderten Einwanderung von Vertragsarbeiter*innen konfrontiert (ebd.: 32). Doch noch während des Babybooms entwickelte sich eine neue These, die unbeirrt an den Volkstod glauben ließ und sich mit dem Ausspruch „Kinder kriegen nur die Dummen“ (ebd.: 25f.; Ehrhardt 1959: 40) bzw. „die Falschen“ charakterisieren ließ. Thilo Sarrazins Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘ reiht sich in eben diese Sparte von Werken ein und zeigt, dass völkische und sozialdarwinistische Thesen bis in die Gegenwart großen Anklang finden. Der Ansatz einer völkischen Bevölkerungspolitik ist nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands von staatlicher Seite aus größtenteils verschwunden, diskursiv aber nie völlig überwunden worden. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der deutschen Bevölkerung hat die völkischen Annahmen nicht in Gänze aufgegeben und schenkt der Verschwörungstheorie des Volkstods Glauben. Im antifeministischen Diskurs lassen sich weitere Themenkomplexe ausmachen, die sich mit dem Volkstod-Konstrukt überschneiden. So etwa die herbeiphantasierte ‚Homosexualisierung‘ der Gesellschaft (durch die heterosexuelle Ehen verunmöglicht würden) oder auch eine angebliche ‚Überfremdung‘, deren Grundgehalt sich nicht nur als rassistisch ausweist, sondern auch versucht, sexualisierte Gewalt deutscher Männer unsichtbar zu machen. Nicht zuletzt bietet der Themenkomplex zu Schwangerschaftsabbrüchen ein zentrales Moment antifeministischer Akteur*innen. Hier wird unter anderem das Recht von Frauen über die Selbstbestimmung ihrer eigenen Körper verhandelt (und im selben Moment abgesprochen). Jeder Schwangerschaftsabbruch weißer deutscher Frauen wird von völkischer Seite als physischer Angriff auf das ‚deutsche Volk‘ interpretiert. Dieses antifeministische Verständnis muss nicht zwangsläufig auf eine Verschwörungstheorie hinauslaufen, man denke an die Bewegung christlicher Fundamentalist*innen. Sobald jedoch der Gedanke hinzukommt, es handele sich um einen mehr oder weniger geheimen Plan, das ‚deutsche Volk‘ umzuerziehen, auszutauschen oder bewusst zu schaden, erfüllt die Weltsicht die Kriterien einer Verschwörungsideologie. Beim Volkstod-Narrativ muss sich die antisemitische Historie und Gegenwart in Erinnerung gerufen werden sowie auch die rassistische Affekt-Mobilisierung als gegenwärtiger Erfolgsmoment des Narratives verstanden werden. Zudem muss das Spezifikum benannt werden, dass FLINT im Volkstod-Diskurs eine zentrale Rolle zugewiesen bekommen, die auf einer gewalttätigen völkischen Vorstellung beruht und sich gegen die Selbstbestimmung von FLINT richtet.
Fortsetzung der Thematik unter 5.5.2 "Antifeministische Narrative".
Botsch, Gideon/Kopke, Christoph (2019): “Umvolkung” und “Volkstod”. Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia. Ulm: Verlag Klemm+Oelschläger.
Ehrhardt, Arthur (1959): Lebensborn – oder Volkstod, in: Nation Europa, Heft 7.
Höcke, Björn (2018): Nie zweimal in den selben Fluss. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig. Mit einem Vorwort von Frank Böckelmann, Lüdinghausen/Berlin: Manuscriptum.
Middel, Andreas (2005): Liberale streiten erbittert, wer die Kinder kriegen soll. DIE WELT, 25.01.2005.
[1] Im Lied "Sexsexsex" des Interpreten Pöbel MC wird auf humoristische Weise auf die Verschwörungserzählung eingegangen. Im Lied heißt es "AfDler haben Angst, dass der Deutsche ausstirbt (Wow) / Haltet euch ran, dass dies Träumchen wahr wird".
[2] Im 10-Punkte Programm der Partei „Der III. Weg“ heißt es „Die Grundlage der Bevölkerungspolitik der Partei DER DRITTE WEG ist die konsequente Förderung von kinderreichen Familien zur Abwendung des Volkstodes“. Im gleichen Programm wird deutlich, dass es sich um eine völkische Konzeption des Deutschseins handelt und nur in diesem Sinne deutsche Familien gemeint sind. [3]Siehe beispielsweise die Kampagne der NPD Mecklenburg-Vorpommern „Deutsche Kinder braucht das Land – Volkstod stoppen!“ von 2012.
[4] Wenn auch oft, aber nicht immer, codiert durch Namen reicher Jüdinnen*Juden oder jüdischen Familien, oder Geheimbünden die in der Geschichte mit dem Judentum verbunden wurden.