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Das DDR-Strafrechtswesen spielte für die Untersuchungshaft eine zentrale Rolle und entschied darüber, ob ein Haftbefehl ausgestellt wurde, wie die Haftbedingungen waren, ob die verhaftete Person wieder auf freien Fuß gesetzt oder ob sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Aus diesem Grund hat das Team des Lernorts Keibelstraße entschieden, das eher komplexe Thema DDR-Justiz in die Lernwerkstätten mit aufzunehmen. In diesem Aufsatz stelle ich die Recherchen, unsere Ergebnisse und das Bildungsangebot zur DDR-Justiz des Lernorts Keibelstraße vor.
Der Lernort Keibelstraße befindet sich in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt (UHA II) in Berlin-Mitte. Die UHA II war im Gebäude des Präsidiums der Volkspolizei verortet. Sie wurde am 1. November 1951 vom Ministerium des Innern (MdI) in Betrieb genommen und im Juni 1990 aufgelöst.
Die Anzahl der Untersuchungshäftlinge und damit die Untersuchungshaftrate waren in der DDR im Vergleich zur alten Bundesrepublik recht hoch. So befanden sich im Jahr 1975 in der DDR über 19.000 Personen und im Jahr 1976 über 17.700 in Untersuchungshaft. Im Vergleich wurden in der alten Bundesrepublik ca. 12.000 Personen in einer UHA inhaftiert (Bevölkerung 1975: DDR – 16,82 Mio., BRD – 61,64 Mio.). Nach unseren Recherchen waren die Deliktvorwürfe an die Männer und Frauen in der UHA II sehr heterogen und umfassten sämtliche Straftatbestände: Der größten Gruppe wurde sogenannte Asozialität vorgeworfen, danach folgten als Straftatbestände Diebstahl, „Rowdytum“ und ungesetzlicher Grenzübertritt. Auch vorsätzliche Körperverletzung, unbefugte Benutzung von Fahrzeugen, Betrug und Veruntreuung von Eigentum sowie sexueller Missbrauch von Kindern waren Straftatbestände der Verhafteten in der UHA II.
In der Bildungsarbeit greift das Team des Lernorts für die Sekundarstufen I und II sechs Straftatbestände, die Haftbedingungen, das DDR-Justizsystem und einen deutsch-deutschen Vergleich der Untersuchungshaft auf. Die Lernangebote basieren auf Haftakten, auf videografierten Interviews mit Zeitzeug*innen, die in der UHA II inhaftiert waren, und auf Egozeugnissen, Zeitungsartikeln und Fachliteratur. Bei der Lernwerkstatt für die Grundschule konzentrieren wir uns auf den historischen Ort und seinen Veränderungen. In den Führungen für Erwachsenengruppen steht die Geschichte der UHA II im Vordergrund.
Die Justiz mit seinen Rechtspflegeorganen spielte eine zentrale Rolle bei den Verhafteten in der UHA II und entschied über ihre Zukunft. Aus diesem Grund entschieden wir als Team des Lernorts, dieses Thema in die Bildungsarbeit mit aufzunehmen und beantragten ein Projekt bei der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Lernziele der Bildungsarbeit sind u.a. die Einführung in die verschiedenen Rechtspflegeorgane (Staatsanwaltschaft, Rechtsanwaltschaft und Gerichte) und ihre Rolle in der Untersuchungshaft. Zwischen Januar 2020 und November 2021 setzte sich das Projektteam – Dora Busch, Hendrik Wehling, Julia Nießler und ich – intensiver mit der DDR-Justiz auseinander. Hierfür zogen wir stichpunktartig auch Vergleiche mit der Justiz in der alten Bundesrepublik. In unseren Recherchen konzentrierten wir uns auf juristische und historische Fachliteratur, Quellen aus dem Bundes- und Landesarchiv, interne Literatur des Strafvollzugs und der Volkspolizei sowie Gespräche mit Jurist*innen.
Das Team hat im Projekt folgende Aspekte des Justizsystems der DDR recherchiert und bearbeitet:
Um das Justizsystem der DDR grundsätzlich zu verstehen, haben wir uns in das Rechtsverständnis eingearbeitet. Dieses wurde in den 1950er Jahren in Gesetzen und Beschlüssen der SED-Parteispitze festgelegt. Walter Ulbricht setzte nach einem Richtungsstreit das Rechtssystem nach sowjetischem Vorbild auf der Babelsberger Konferenz im Jahr 1958 endgültig durch. Der Leiter der Abteilung Staatsfragen Anton Plenikowski brachte das Rechtsverständnis bereits im Januar 1952 auf den Punkt: „Die Organe der Justiz sind Teile des Staatsapparates, und deshalb gelten alle die Anweisungen, Maßnahmen der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Justizapparat.“ (Behlert 1994: 153)
Der Staatsanwaltschaft wurde eine zentrale Rolle in sämtlichen Bereichen der Justiz zugeschrieben. Sie überprüfte Gesetzesentwürfe der SED-Spitze, sie hatte die Aufsicht aller Strafvollzugseinrichten und Untersuchungshaftanstalten, sie leitete die Ermittlungen und erhob die Anklage. Sie überprüfte Gerichte über die Einhaltung der Gesetzlichkeit, der Anleitungen der SED und der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Die Staatsanwaltschaft war die Leiterin der Ermittlungen und Herrin des Strafverfahrens. In den Strafverfahren hatte sie die komplette Akte schriftlich vor sich, während die Rechtsanwaltschaft in der Regel nur eine Woche Zeit hatte, sich an den Gerichten handschriftliche Notizen aus den Akten zu notieren. Die Staatsanwaltschaft war eine eigene Behörde und unterstand direkt dem Staats- bzw. Ministerrat. Die Gerichte und Rechtsanwaltschaft hatten nur einen kleinen Tätigkeitsbereich und hatten somit nur eine sekundäre Rolle. Die Gerichte stützten sich größtenteils auf Ergebnissen und Beurteilungen der Staatsanwaltschaft. Der Rechtsanwaltschaft wurden für die freie Ausübung ihrer Tätigkeit und der Verteidigung ihrer Mandant*innen viele Steine in den Weg gelegt.
Die Ziele und Funktionsweise der Rechtspflege unterstanden, wie in der Verfassung von 1968 endgültig festgelegt, den Vorstellungen der SED-Parteispitze. Diese Struktur wirkte sich auch auf die allgemeine Bevölkerung aus. Menschen, die gegen die sozialistische Ordnung im Sinne der SED verstießen, wurden als Kriminelle eingestuft, zum Feindbild erklärt und häufig juristisch verfolgt.
Das Justizsystem der DDR veränderte sich zwischen der Staatsgründung und dem Fall der Mauer immer wieder. Es fand mit der Zeit eine Verrechtlichung statt, d.h. das sämtliche Bereiche immer stärker durch Gesetze, Verordnungen und Erlasse bestimmt wurden. Dies ist ein Prozess, den viele moderne Staaten durchlaufen. Das Justizsystem mit seinen Rechtspflegeorganen hat sich langsam auf die Vorstellungen der SED eingespielt und eine direkte Einflussnahme auf Strafverfahren erfolgte seit Mitte der 1960er Jahren nur in Ausnahmefällen.
Die DDR verstand sich als ein demokratisch-zentralistischer Staat, der keine Gewaltenteilung vorsah. Sämtliche staatliche Einrichtungen wurden auf die SED und Regierung zugeschnitten. Die Justiz wurde eher als ein Teil der Verwaltung verortet, als ein Organ, das die Regierung und die Volkskammer kontrolliert. Handlungsspielräume wurden von den Rechtspflegeorganen oft nur wenig ausgereizt. Die Staatstreue war bei den Gerichten und der Staatsanwaltschaft stark verankert. Dies zeigt sich auch am Anteil der SED-Mitgliedern im Jahr 1988: Staatsanwaltschaft waren fast zu 100% Parteimitglieder, bei der Rechtsanwaltschaft waren es 69%, Richter*innen an den Kreisgerichten zu 96%. Hinzu kamen die Parteizugehörigkeiten in den Blockparteien. Durch das Ministerium der Justiz bestand der Einfluss der SED bereits bei der Kontrolle zur Zulassung zum Jurastudium und in der späteren Berufslenkung am Ende des Studiums.
Die Untersuchungshaft war ein weiteres Thema, das auf der Agenda des Projekts stand. Hierbei ging es hauptsächlich um Haftbeschwerden, Haftraten, Straftatbestände und um Untersuchungshaft allgemein. Diese Dokumente werden in der Bildungsarbeit eingesetzt, um die Haftbedingungen aufzuzeigen, wie häufig Beschuldigte einen Haftbefehl ausgestellt bekamen und welche Delikte den Verhafteten vorgeworfen wurden.
Die rechtswissenschaftlichen Untersuchungen über das DDR-Justizsystem zeichnen sich durch eine größere Breite des Untersuchungsgebietes und eine geringere geschichtspolitische Bewertung im Vergleich zur geschichtswissenschaftlichen Fachliteratur zu Strafvollzug und Justizwesen aus. In den Geschichtswissenschaften liegt ein starker Fokus auf politische Haft und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Sozialwissenschaftliche Untersuchungen sind mir zum Thema DDR-Justiz und Strafvollzug des MdI nicht bekannt. Diese könnten aber ganz neue Perspektiven in die Diskussionen einbringen. Um weitere Perspektiven und neue Erkenntnisse in das Thema Justiz und Strafvollzug zu bringen, wären interdisziplinäre Forschungsarbeiten sehr wichtig. Die einzelnen Disziplinen würden sich sicherlich gut ergänzen und sich gegenseitig befruchten.
Im Rahmen des Projektes zeichnete das Team ein Interview mit einem DDR-Staatsanwalt und eines mit einer DDR-Rechtsanwältin für die Bildungsarbeit auf. Beide haben in den 1960er Jahren an der Humboldt-Universität zu Berlin Jura studiert. Die leitfragengestützten Interviews behandeln die Biografie der interviewten Person und ihre Erfahrungen als Staatsanwalt bzw. Rechtsanwältin. Die Interviews wurden gekürzt und in vier thematisch unterschiedliche Clips geschnitten: „Vor dem Studium“, „Studium“, „aus der Praxis“ und „Justizsystem“. Für die Bildungsarbeit mit Schüler*innen verwenden wir hauptsächlich den Clip zur Praxis, da er die Arbeit der Staats- und Rechtsanwaltschaft in der DDR gut aufzeigt. Bei der Bildungsarbeit mit Studierenden ist die Reflexion über das Justizsystem und das Jurastudium in der DDR interessant, weil die Clips viele Informationen zum Aufbau und zur Struktur des Rechtswesens liefern. Die Interviewten beurteilen als ehemalige Akteur*innen der Rechtspflege das DDR-Justizsystem aus heutiger Sicht. Ihre Aussagen zum Studium zeigen bereits, welche Rolle die Rechtspflege in der DDR einnehmen sollte.
Die Interviews sind für die Lernenden die wichtigste Quelle. Sie liefern einen guten Überblick über den Ablauf eines Strafverfahrens und über die unterschiedlichen Rollen der DDR-Rechtspflegeorgane. Weiterhin entwickelte das Projektteam eine Schautafel, die das Rechtswesen im Kontext der Verhafteten in der UHA II erklärt, schrieben ein Dossier für interne Zwecke und wählten Quellen für die Bildungsarbeit aus. Bei den Quellen handelt es sich um Dokumente des Obersten Gerichts und der Generalstaatsanwaltschaft, die die Zusammensetzung der Häftlingsgemeinschaft dokumentieren, die verschiedenen Haftgründe zur Untersuchungshaft (wie Flucht- oder Wiederholungsgefahr) auflisten, die Haftbedingungen aufzeigen und in denen die geringen Erfolgschancen von Haftbeschwerden belegt werden.
Behlert, Staatsanwaltschaft. In: Bundesministerium der Justiz (Hg.), Im Namen des Volkes?: Über die Justiz im Staat der SED. Wissenschaftlicher Begleitband, 5), Leipzig (1994), S. 149-156.