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Die Studie MEMO wird von vielen Kolleg*innen aus den Gedenkstätten mit Interesse verfolgt. Manches kann dabei einfach zur Kenntnis genommen werden und hat wenig Einfluss auf die tägliche Arbeit. Andere Befunde hingegen müssen intensiv im Hinblick auf ihre Folgen für den Umgang mit dem Publikum im Rahmen von Ausstellungen, Recherchebegleitung und Bildungsveranstaltungen diskutiert werden.
Da das Forschungsteam um Andreas Zick frühzeitig Praktiker*innen aus den Gedenkstätten zur Weiterentwicklung der Fragen für die Studien einbezog, konnten für die Gedenkstättenarbeit wichtige Aspekte generiert werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich die Fragen in weiten Teilen auf Einstellungen zum Nationalsozialismus, seinen Folgen und dem Umgang damit und nur an notwendigen Stellen auf konkretes Wissen über den Nationalsozialismus und die Shoah beziehen, was sie für die eigene Arbeit relevanter macht.
Besucher*innen beispielsweise, die zunächst nichts mit spezifischen Begriffen wie Gestapo oder Majdanek anfangen können, werden, wenn sie Interesse für das Thema mitbringen, die im Rahmen eines Besuches angebotenen Erklärungen an- und aufnehmen und den historischen Ort mit mehr Wissen verlassen. Wer von Beginn an das Gefühl hat, sich schon zu viel mit dieser Epoche befasst zu haben, wird in der Regel wenig Neues zulassen.
Die Befunde bestätigen vielfach die bis dato nicht empirisch belegt aber gefühlt richtigen eigenen Erfahrungen aus der täglichen Arbeit. Dass sich beispielsweise das Interesse am Nationalsozialismus von sogenannten Menschen mit Migrationshintergrund nicht unterscheidet vom Interesse derer ohne Migrationshintergrund.
Andere Befunde überraschen aber auch und führen zu Veränderungen der Diskussionen.
Manche Befunde sind ambivalent und verweisen eher darauf, dass weitere Befragungen für ein eindeutiges Urteil nötig wären. So gaben in der ersten Studie eher Jüngere an, vor allem in der Schule etwas über den NS gelernt zu haben. Nachdem die Frage in späteren Studien auf das in der Schule zum NS Gelernte fokussiert wurde, sind die Zahlen ambivalenter und reichen von Aussagen, dass in der Schule „wenig bis kaum“ bis hin zu „eher viel“ zum NS gelernt wurde. Ob damit eine Beziehung zu den Erkenntnissen von Studien herzustellen ist, die die Auseinandersetzung mit dieser Epoche im schulischen Kontext problematisieren, weil Werteerziehung und Notengebung generell schlecht in Einklang zu bringen sind oder ob sie einen Generationenwechsel dokumentieren, nach dem jüngere Lehrkräfte diesen historischen Abschnitt weniger beleuchten, weil sie selber im Studium zu wenig dazu gelernt haben, ist schwer einzuschätzen.
Hier können die Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten sich lediglich auf ihre Erfahrungen verlassen, dass sogenannte Zwangsbesuche in Gedenkstätten eher kontraproduktiv sind. Auch wenn diese angesichts der Aussage, Gedenkstättenbesuche seien (neben Spielfilmen) sehr prägend gewesen, als vermeintliche Antwort auf geringen schulischen Lehrstoff gegeben werden könnten.
Die Aussage hingegen, dass Spielfilme prägend für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus waren oder bei der Beschäftigung mit dem Thema eine große Rolle spielen, ist relevant. Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten müssen sich immer wieder vergegenwärtigen, dass ihr Publikum mit spezifischen Bildern im Kopf die Ausstellungen wahrnimmt oder den mündlichen Ausführungen folgt. Und sie müssen versuchen, mitgebrachtes spielfilmbasiertes Wissen mit den neuen Informationen so zu verbinden, dass das reale historische Geschehen die Spielfilmsequenzen ablösen oder überlagern kann.
Dass das Internet oder digitale Medien noch nicht oder kaum zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus genutzt werden, wohl aber auf Interesse stoßen, zeigt, wie wichtig die Gedenkstätten als historische Orte sind. Zunehmend werden sie die Rolle der Überlebenden übernehmen und wir Mitarbeiter*innen werden weiterhin gewissenhaft mit den dort vorhandenen Objekten und den analogen Zeugnissen umgehen müssen, um sie gewinnbringend dem Publikum näher zu bringen. Gleichzeitig aber deuten die Aussagen auch darauf hin, dass wir verantwortungsvoll neue Medien in unsere Arbeit einbeziehen müssen. Nachwachsende Generationen werden zunehmend an sie gewöhnt sein und über sinnvolle digitale Angebote Zugang zu historischen Quellen finden.
Viel schwieriger jedoch, weil im gesellschaftlichen Diskurs verankert, sind die Befunde, die Ambivalenzen in Bezug auf die Bewertung des Nationalsozialismus und seiner Folgen aufzeigen. Da sind zunächst die Aussagen, die eine Schieflage in Bezug auf die Täter-Opfer Perspektive verdeutlichen. Natürlich ist bemerkenswert, dass eine Mehrheit bei der ersten Studie äußerte, sie hätten keine Verwandte, die Jüdinnen*Juden geholfen haben. Ebenso ist interessant, dass in der vierten Studie nur eine Minderheit der Meinung ist, die damalige deutsche Bevölkerung habe keine Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Oder die Mehrheit in derselben Studie stark ablehnt, dass die deutsche Bevölkerung während der NS Zeit genauso gelitten habe wie die Gruppen, die verfolgt wurden.
Dass aber in der ersten Studie gleichzeitig 54% davon überzeugt sind, dass ihre Vorfahren unter den Opfern waren, ist ein problematischer Befund. Er zeigt einerseits, wie sehr das Narrativ über die Deutschen als Opfer von Hunger, Bomben, Krieg, Flucht und Vertreibung im gesellschaftlichen Diskurs festgeschrieben ist. Er dominierte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Rückschau auf den Nationalsozialismus und gewann ab 2002 mit dem Roman Krebsgang von Günter Grass zunehmend wieder an Bedeutung. Auch zeigt uns dieser Befund, dass bei der Rede vom Sterben der Zeitzeug*innen oft eines vergessen wird: In vielen Familien gibt es noch Zeitzeug*innen. Nämlich die Großeltern, die das Kriegsende als Kinder erlebten und nach ihren Erinnerungen gefragt, überwiegend von Bombennächten, Hunger und vielfach von Flucht berichten. Unabhängig, wie wichtig sie eine Auseinandersetzung mit den während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen halten.
Ähnlich ambivalent verhält es sich mit dem einerseits differenzierten Wissen zu Täterschaft und dem andererseits im privaten Umfeld genannten widerständigen Handeln oder Unterstützung für die Opfer.
Und so ist für die Gedenkstättenarbeit immens wichtig, in pädagogischen Kontexten mit diesen Unstimmigkeiten umzugehen. Zunächst müssen wir uns fragen, ob nicht auch unsere Ausstellungen die bestehenden gesellschaftlichen Narrative verstärkt oder zumindest mitgetragen haben. So gibt es Gedenkstätten, die als sogenannte Täterorte den Fokus auf Täter*innen und Täterschaft legen, ohne dabei eine wirkliche Verbindung zu den Betroffenen und Opfern herzustellen. Diese werden vielfach in der Gestaltung isoliert mit ihrem Schicksal präsentiert. In den KZ Gedenkstätten wird hingegen die Geschichte der Orte vielfach ausschließlich aus der Perspektive der Verfolgten erzählt – Täter*innen und Täterschaft gibt es nicht. Auch wenn dies aus der nachvollziehbaren Haltung geschah, an diesen Orten dürfe nur die Perspektive der Überlebenden präsentiert werden, nachdem es so lange dauerte, bis überhaupt eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen stattfand, so fehlt in der Darstellung die Frage danach, wieso es zu deren Leid hat kommen können.
Die oft fehlende multiperspektivische Erzählung erlaubte und erlaubt, voneinander losgelöste Gedankenkonstrukte zu bilden. So kann beispielsweise Täterschaft zwar theoretisch benannt werden, gleichzeitig fehlt aber das Verständnis für die Bedeutung von Zuschauen, Profitieren oder realen Widerstand.
Die von Besucher*innen am häufigsten formulierte Frage, wie es dazu kommen konnte, muss fundiert und differenziert beantwortet werden. Beantwortet werden im Spannungsfeld zwischen Erklärung, die verdeutlicht, dass das System mit dem Handeln der Gesellschaft nicht vom Himmel fiel, und Erklärung, die nicht apologetisch wirkt. Strukturen des NS-Staates und Motivationen und Handlungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppe in diesem Staat aufzuzeigen ist Teil davon.
Wenn Gedenkstätten bleibend Orte sein werden, die einen wesentlichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus leisten, werden wir – gemeinsam mit formellen Bildungseinrichtungen – an Konzepten arbeiten müssen, die das Wissen langfristig weniger abstrakt bleiben lassen. Durch eine multiperspektivische Darstellung und Erzählung, wie das Publikum sie aus ihrer Gegenwart gewohnt ist, sollte das Verständnis für ein differenziertes Bild von Täter*innen, Widerständigen, Zuschauer*innen und Betroffenen und Opfern ermöglicht werden. Dieses ist auf lange Sicht die Grundlage für eine realistischere Sicht auf familiäre Verstrickungen, wenngleich sie im Rahmen von üblichen Gedenkstättenbesuchen eher nicht besprochen werden. Damit einher geht schließlich die Chance, ein differenziertes Bild von eigenen Handlungsoptionen in der Gegenwart zu gewinnen.
Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke „Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts“, Frankfurt a. M. 2004.
Verena Nägele „Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland“, 2018.