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„Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945“ lautete der Name einer Sonderausstellung, die das NS-Dokumentationszentrum München in den Jahren 2017 und 2018 zeigte. In der Ausstellung und den begleitenden Publikationen (vgl. Nerdinger, 2017) wurden Beispiele und Indikatoren rechtsextremen Denkens und Handelns in Deutschland aufgezeigt und diskutiert. Dabei behandelte die Ausstellung chronologisch nicht allein das Auftreten von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus über 1945 hinaus, sondern auch staatliche, institutionelle und zivilgesellschaftliche Reaktionen auf diese demokratie- und menschenfeindlichen Phänomene. Die aufgezeigte Chronik endet im Jahr 2017 mit einem Foto aus einem Prozess am Oberlandesgericht in Dresden, bei dem Mitglieder der rechtsextremen Gruppe Freital unter anderem wegen ihrer Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung angeklagt und letztlich verurteilt wurden. Dieses Foto stellt das vorläufige Ende einer langen und nur auszugsweisen Liste von Beispielen rechtsextremer Kontinuität dar. Welche Bilder kommen uns in den Sinn, wenn wir die Chronik der Ausstellung über 2017 hinaus weiterdenken? An welche Ereignisse und Vorfälle denken wir, die wir mit Rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und der Ideologie des Nationalsozialismus in Verbindung bringen?
Grundsätzlich ist die Frage einer historischen Kontinuität der NS-Zeit komplex und sie kann, ebenso wie der gesellschaftspolitische Umgang, auf verschiedenen Ebenen analysiert werden. Betrachtet man die Einstellungsebene, so lassen sich beispielhaft die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien heranziehen. Diese untersuchen seit geraumer Zeit individuelle und gesellschaftliche Einstellungsmuster, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Ideologie des Nationalsozialismus stehen. Trotz Schwankungen in den Ausprägungen unterstreichen Untersuchungen wie die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (vgl. Zick / Küpper, 2021) und die Leipziger Autoritarismus-Studien (vgl. Decker / Brähler, 2020) die Existenz von rechtsextremen und gruppenbezogen menschenfeindlichen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Dabei zeigen sich neben geschlossen rechtsextremen Weltbildern auch breiter geteilte Einstellungsmuster, die anschlussfähig sind an rechte und neurechte Ideologien. Dazu zählt etwa der Glaube an Verschwörungserzählungen oder chauvinistische und autoritäre Denkweisen. Betrachtet man die Frage von historischer Kontinuität auf der Verhaltensebene, also in Form konkreter rechtsextremer und menschenfeindlicher Vorfälle, so lassen sich vielfältige Beispiele anführen. In besonders prägnanter Weise scheint dabei die Geschichte des rechtsextremen Terrors nationalsozialistische Kontinuitäten in Deutschland zu verdeutlichen. Als Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit kommen etwa die rassistisch motivierte Mordserie der Terrorgruppe des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die Anschläge in Halle und Hanau oder der Mord an Walter Lübcke in den Sinn. Die vom Bundesinnenministerium (2021) veröffentlichten Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität verdeutlichen aktuell nicht nur eine allgemeine Zunahme politisch motivierter Straftaten, sondern dabei insbesondere auch eine Zunahme von Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Schätzungen der Anzahl von Opfern rechtsextremer Gewalt in Deutschland fallen dabei in verschiedenen Dokumentationen noch höher aus, etwa in der von der Amadeu Antonio Stiftung geführten Liste der Todesopfer rechter Gewalt.
Sowohl in Bezug auf Einstellungen als auch in Bezug auf rechtsextremen Terror und rechtsextrem motivierte Gewalt gilt, dass eine systematische Dokumentation erst seit wenigen Jahrzehnten stattfindet. Hohe Dunkelziffern sind insbesondere für die Zeit von 1945 bis in die 1990er-Jahre anzunehmen. Eine konsequente gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Kontinuitäten in Deutschland fand im Zuge von individueller und gesellschaftlicher Leugnung oder Verdrängung, einer inkonsequenten Entnazifizierung und unzureichender Aufarbeitung nach 1945 über viele Jahrzehnte nicht statt. Und auch in der Gegenwart lassen sich weitere Beispiele für Kontinuitäten von Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft aufzeigen. Dazu können die Erfolge politisch rechter Parteien gezählt werden, das Fortbestehen rechter, neurechter und völkischer Gruppierungen, wiederholte rechtsextreme Vorfälle in staatlichen Institutionen oder antisemitische und geschichtsrevisionistische Äußerungen im Kontext der Corona-Pandemie. Die Auflistung ist selbstverständlich unvollständig und die möglichen und notwendigen Perspektiven auf die Frage historischer Kontinuitäten gehen über die dargestellten Einstellungs- und Verhaltensebenen weit hinaus. Tiefergehende soziologische und geschichtswissenschaftliche Analysen müssen auch die überdauernden gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen einbeziehen, die diesen Einstellungs- und Verhaltensmustern zugrunde liegen, um einer Betrachtung als „Einzelfälle“ vorzubeugen.
In welchem Zusammenhang steht das Beschriebene nun mit den MEMO-Studien und der empirischen Erforschung der deutschen Erinnerungskultur? Mindestens implizit geht die Erinnerung an und Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus auch mit Fragen eines Geschichtsbewusstseins, der Idee eines historischen Lernens und einer möglichen Sensibilisierung für Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit einher. In der vierten MEMO-Studie berichtet deutlich mehr als die Hälfte der Befragten, dass sie sich durch die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ihrer eigenen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst geworden und für die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen in unserer Gesellschaft sensibilisiert worden sind. Ein möglicher Indikator für Lerneffekte wie diese wäre ein erhöhtes Bewusstsein für rechtsextremes und nationalsozialistisches Denken und Handeln und für das Fortbestehen dieser Phänomene über die Zeit von 1933 bis 1945 hinaus.
Der komplexen Frage, inwiefern die deutsche Gesellschaft sich historischer Kontinuitäten bewusst ist, können die MEMO-Studien sich selbstverständlich nur annähern. Die Studienergebnisse erlauben keine grundlegenden Aussagen darüber, wie es um das Geschichtsbewusstsein in Deutschland steht, doch sie vermitteln einen ersten Eindruck. In MEMO IV wurden die Teilnehmer*innen gebeten, ein Ereignis oder einen Vorfall in der deutschen Geschichte nach 1945 zu benennen, das/der aus ihrer Sicht in einem deutlichen Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands steht. Das auffälligste Ergebnis scheint, dass fast die Hälfte der Befragten keine Antwort auf diese Frage gab (46,1 %). Bei genauerer Betrachtung der Daten zeigen sich dabei systematische Unterschiede: Diejenigen Befragten, die kein Ereignis benennen konnten, haben sich unter anderem weniger intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und sie vertreten seltener zivilcouragierte und häufiger fremdenfeindliche Ansichten. Die Ergebnisse legen also rein deskriptiv einen Zusammenhang zwischen einem Bewusstsein für Ereignisse mit Bezug zur NS-Zeit und aktuellen gesellschaftspolitischen Einstellungen nahe. Erwähnenswert scheint auch, dass die Befragten, die konkrete Ereignisse mit NS-Bezug benannt haben, sich am häufigsten auf Ereignisse bezogen, die nach 1990 stattgefunden haben (73,8 %), während deutlich seltener Ereignisse benannt wurden, die zeitlich zwischen 1945 und 1990 zu verorten sind (26,2 %). Diese Ergebnisse dürfen nicht überinterpretiert werden. Vor dem Hintergrund der eingangs beschriebenen Vielzahl prägnanter Beispiele für Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit nach 1945 lässt sich jedoch die Frage aufwerfen, inwiefern unsere Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus bisher tatsächlich in einer erhöhten gesellschaftlichen Sensibilität oder einem Lernen aus der Geschichte resultiert.
Diskussionen um die Notwendigkeit einer intensiveren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und ihrer Kontinuitäten sind nicht neu und sie beziehen sich nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Ein Mangel scheint in beiden Fällen weder an potenziellen Bezugspunkten noch an ausgewiesener fachlicher Expertise zu bestehen, sondern vielmehr an einer konsequenten Aufarbeitung und einer Förderung von Bildungsangeboten, die die Bezugspunkte aufgreifen und Reflexionen fördern.
Im April 2021 tagte eine hochkarätig besetzte Gruppe von Expert*innen der Geschichtsdidaktik und der historisch-politischen Bildung auf Einladung des Arbeitsbereichs der Didaktik der Geschichte der FU Berlin und der Berliner Landeszentrale für politische Bildung („Geschichte gegen Rechts – Gefahrenfelder und Handlungsräume“). Schlussfolgerungen waren dabei unter anderem, dass junge Menschen für die Auseinandersetzung mit Geschichte mit der notwendigen Kompetenz ausgestattet werden müssen, sich zu fragen, in welchem Zusammenhang Vergangenheit und Gegenwart stehen und was sie persönlich aus der Geschichte lernen und ableiten können. Auch dürfe der Geschichtsunterricht in Deutschland nicht mit dem Jahr 1945 enden, sondern müsse Themen wie die Verdrängung des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft, den rechtsextremen Terror in der Bundesrepublik und das Fortbestehen von Menschenfeindlichkeit bis in die Gegenwart thematisieren. Eine konsequente Umsetzung dieser wichtigen Vorhaben in der Praxis der schulischen und politischen Bildung stellt selbstverständlich eine große Herausforderung dar und muss aktiv gefördert werden. Sollte dies gelingen, mag zukünftig nicht zuletzt das Ergebnis empirischer Untersuchungen wie der MEMO-Studien weniger ernüchternd ausfallen, wenn es um Fragen des Bewusstseins für historische Kontinuitäten in der deutschen Gesellschaft geht.
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021): Verfassungsschutzbericht 2020, online: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020.html.
Oliver Decker / Elmar Brähler (Hg.) (2020): Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments – neue Radikalität.
Winfried Nerdinger (2017): Nie wieder. Schon wieder. Immer noch – Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Katalog zur Ausstellung.
Andreas Zick / Beate Küpper (Hg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21.