Von Oktober 1941 bis zum Frühjahr 1945 wurden über 50.000 Jüdinnen*Juden aus Berlin in die Ghettos, Konzentrations- und Todeslager in den von den Deutschen besetzten Gebieten in Osteuropa und der Sowjetunion deportiert und dort ermordet. Seit dem Jahr 2020 erinnert der Audiowalk der Initiative „Ihr letzter Weg“ und des Vereins „Sie waren Nachbarn“ auf 16 Stationen in Berlin-Moabit an ihre Geschichte. Der Audiowalk folgt einem der vielen Deportationswege durch die Stadt: Er beginnt am ehemaligen Standort der Synagoge in der Levetzowstraße, die die Gestapo als Sammellager für Jüdinnen*Juden missbrauchte, und führt auf zwei Kilometern zum ehemaligen Standort des Güterbahnhofs Moabit, einem der drei Berliner Deportationsbahnhöfe von dem rund 30.000 Jüdinnen*Juden deportiert wurden.
Der Audiowalk dauert ein bis zwei Stunden. Eine Station besteht aus einem erläuternden Text beispielsweise zur Geschichte einer jüdischen Familie aus Moabit oder zu einem Aspekt der NS-Herrschaft und der Verfolgung der Jüdinnen*Juden. Viele der Stationen enthalten ergänzende Berichte von Zeitzeug*innen, die einen persönlicheren Zugang zu Ort und Thema schaffen. Die Audiodateien zu den 16 Stationen lassen sich auf der Webseite entweder einzeln oder als Gesamtpaket auf ein Smartphone oder Tablet herunterladen oder können vor Ort direkt über die Webseite angehört werden. Die Texte, die Zeitzeug*innen-Berichte und historische Fotografien von Personen, Gebäuden und Orten stehen zudem auf der Webseite.
Die Station 1 des Audiowalks stellt den historischen Kontext und die Vorgeschichte zu den Deportationen der Berliner Jüdinnen*Juden vor. Berlin war Anfang der 1930er-Jahre mit einer jüdischen Bevölkerung von etwa 160.000 Menschen das Zentrum des jüdischen Lebens im Deutschen Reich. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 gingen diese umgehend dazu über, mit immer radikaleren Gesetzen die jüdische Bevölkerung auszugrenzen, einzuschränken und zu isolieren: „Beruf verloren, Wohnung genommen, kein Radio, keinen Besuch im Park, kein Theater. […] Keine Verkehrsmittel, Einsperrung in sogenannte Judenhäuser, keinen Ausgang nach 20 Uhr, Markierung mit dem Judenstern.“ Im Herbst 1941 begannen die Nationalsozialisten mit den Deportationen der Berliner Jüdinnen*Juden. Diese fanden „vor aller Augen“ statt, wie die Station 1 des Audiowalks betont. „Aber im Nachhinein wollte niemand etwas bemerkt haben.“
Die Stationen 2 bis 4 widmen sich der Geschichte des Orts der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße. Die im Jahr 1914 eingeweihte Synagoge überstand die Reichspogromnacht im November 1938 vergleichsweise glimpflich. Sie konnte bis ins Jahr 1941 als Gotteshaus genutzt werden und wurde dann von der Gestapo in ein Sammellager für Jüdinnen*Juden zur Vorbereitung der Deportationen umfunktioniert. Bis Oktober 1942 diente das Gebäude als erstes Sammellager für die Transporte in den Osten. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Mahnmal, dessen Entstehungsgeschichte und Aufbau die Station 4 schildert.
Im Mittelpunkt der biografischen Stationen 5, 6, 8 und 12 stehen Jüdinnen*Juden aus Moabit. Sally und Emma Gottfeld (Station 5) konnten 1933 gemeinsam mit ihren Kindern nach Palästina emigrieren. Ihre Verwandten hatten kein Glück. Fast alle wurden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Laut Benjamin Gidron, einem Enkel von Emma und Sally Gottfeld, haben 37 Familienmitglieder in der Shoah ihr Leben verloren. Therese und Elias Hirsch (Station 6) haben die Verfolgung dank eines kolumbianischen Visums überlebt. Mithilfe des Visums konnte Therese ihren Mann 1938 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreien. Einen Monat nach der Entlassung floh das Ehepaar nach Kolumbien.
Um jüdischen Widerstand gegen Verfolgung und Deportationen geht es an der Station 8 anhand der Geschichte von Werner Scharff. Scharff nutzte seine Kontakte zu Berliner Gestapo-Beamten, um Informationen über die geplanten Deportationen zu erhalten, und konnte so zahlreiche Menschen vor der Verhaftung warnen. Die Nationalsozialisten nahmen ihn im Sommer 1943 gefangen und deportierten ihn nach Theresienstadt. Nach einer erfolgreichen Flucht kehrte er zurück nach Berlin und engagierte sich wieder im Widerstand. Er organisierte eine Gruppe mit 30 Personen, die unter anderem Fluchthilfe für andere Jüdinnen*Juden leistete. Die Station 12 macht Halt am Geburtshaus des bekannten Journalisten, Schriftstellers und NS-Kritikers Kurt Tucholsky und nennt seine wichtigsten Lebensstationen.
Die restlichen Stationen des Audiowalks befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten der jüdischen Geschichte Moabits, der Herrschaft der Nationalsozialisten und ihrer antijüdischen Politik. Um das Überleben im Bombenkrieg dreht sich die Station 7. Die Stationen 9 und 14 an der Heilandskirche und der Heiligen-Geist-Kirche thematisieren das (Nicht-)Verhalten der Kirchen im Nationalsozialismus, insbesondere zur Diskriminierung und Verfolgung der Jüdinnen*Juden. Zwangsmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte von den ersten Boykotten 1933 bis zu den Arisierungen jüdischer Unternehmen stehen an der Station 10 im Fokus. Im Moabiter Hansaviertel befanden sich neben der großen Synagoge in der Levetzowstraße weitere sowohl liberale als auch orthodoxe Synagogen, die an der Station 11 vorgestellt werden.
Die Station 13 erzählt die bewegte Geschichte des Krankenhauses Moabit und seiner Mitarbeiter*innen. Die Erzählung spannt den Bogen von der Entstehungszeit des Krankenhauses und den hygienischen und medizinischen Bedingungen in Berlin Ende des 19. Jahrhunderts, über die Ausgrenzung von jüdischen Ärzt*innen in den 1930er-Jahren bis zum Krankenhaus-Personal im Widerstand gegen die Nationalsozialisten: Dr. Georg Groscurth, Oberarzt und ab 1939 Leiter des Krankenhauses, unterstützte mit der Widerstandsgruppe „Europäische Union“ Jüdinnen*Juden beim Verstecken und bei der Flucht. Die Station 15 erläutert ausführlicher das Thema Flucht in die Illegalität.
Am ehemaligen Standort des Güterbahnhofs Moabit erreicht der Audiowalk die Station 16. Für mehr als 30.000 Jüdinnen*Juden endete ihr Weg in Berlin an diesem Ort. Hier wurden sie gezwungen, in die Waggons der Deportationszüge zu steigen. Die zwei Kilometer vom Sammellager in der Levetzowstraße bis zum Güterbahnhof legten die Jüdinnen*Juden entweder quer durch Moabit zu Fuß zurück oder sie wurden in Lastwagen gefahren. In der Nähe des ehemaligen Standorts des Bahnhofs gibt es heute mehrere Erinnerungsorte. 1987 wurde auf der Putlitzbrücke direkt an der S-Bahnstation Westhafen ein Mahnmal an die Deportationen errichtet. 2017 folgte die Eröffnung eines Gedenkorts in der Form eines kleinen Parks am „originalen Schauplatz der Deportationen“ in der Ellen-Epstein-Straße. Hier endet auch der Audiowalk „Ihr letzter Weg“.
Die 16 Stationen beeindrucken durch die Vielfalt der Perspektiven und die Schwerpunktsetzung auf Jüdinnen*Juden als Akteur*innen. Die lokale Einbettung und das Begehen der gleichen Straßen und Orte wie in den dargestellten Biografen sind eine alltägliche Mahnung und Erinnerung an Geschichten des Widerstandes, der Flucht aber auch der Deportationen in den Tod.