Mit „Ausgrenzung, Raub, Vernichtung. NS-Akteure und ‚Volksgemeinschaft‘ gegen die Juden Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945“ ist 2019 ein Sammelband erschienen, der einen umfangreichen Blick auf die Vorgänge in Südwestdeutschland gibt. Die 42 Beiträge sind in fünf Kapitel geordnet, die der chronologischen Entwicklung und zunehmenden Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen*Juden in Württemberg und Hohenzollern von 1933 bis nach dem Kriegsende folgen. Die abgedruckten Aufsätze sind eine Mischung aus landesweiten Entwicklungen und Folgen der nationalsozialistischen Politik, etwa zur Bedrängung von Berufsgruppen, sowie Lokalstudien, insbesondere zur Situation jüdischer Wirtschaftsunternehmen und der Bereicherung an Privatpersonen und jüdischen Gemeinden. Im Folgenden soll anhand der Vorstellung einzelner Texte eine repräsentative Übersicht gegeben werden.
Im ersten Beitrag, außerhalb der Struktur der Veröffentlichung, stellt Martin Burkhardt die Wirtschafts- und Berufssituation der Juden*Jüdinnen vor 1933 in der Region dar. Anhand von zeitgenössischen Statistiken und eigenen Berechnungen widerlegt er dabei auch die antisemitische Behauptung einer jüdischen Wirtschaftsdominanz. Den ersten beiden Kapiteln ist jeweils ein Überblick über antijüdische Gesetze und Verordnungen von Nicole Bickhoff vorangestellt. Durch die kommentierten Auszüge aus dem Reichsgesetzblatt wird dabei auch erkennbar, inwieweit spätere Erlasse auf der Gesetzgebung der ersten Jahre des NS-Regimes aufbauten und durch sie ermöglicht wurden.
Die Entrechtung jüdischer Rechtsanwält*innen fasst Susanne Wein zusammen. Dabei kann sie sich auf die beeindruckende, schon 1965 veröffentlichte, biographische Übersicht des ebenfalls verfolgten Juristen Alfred Marx stützen, hat jedoch noch eine Vielzahl weiterer Quellen herangezogen. Wein geht dabei auf die jüdischen Jurist*innen als „besonderes Hassobjekt der Nationalsozialisten“ (S. 60) ein und beschreibt vier Phasen der Verfolgung. Auf den frühen Terror durch gewaltsame Übergriffe und die Stigmatisierung, etwa durch eine Auflistung im Stuttgarter NS-Kurier, folgten die gesetzliche Ausgrenzung, zunehmende Verschärfungen und Verhaftungen und das vollständige Berufsverbot 1938. Die finanzielle Ausbeutung, Deportationen und die Ermordung der Jurist*innen wird anhand der beispielhaften Biographien, unter anderem der von Fritz Bauer, dargestellt.
Die Versuche ihrer Großeltern, das eigene Schuhgeschäft zu erhalten und vor antisemitischen Verunglimpfungen zu schützen, schildert Amelie Fried. Franz Fried überträgt den Betrieb bereits im Mai 1933 auf seine nichtjüdische Ehefrau Martha Fried. Ihre Bemühungen gegenüber den Behörden, das Schuhhaus Pallas als „deutsch“ anerkennen zu lassen, fruchten nicht: Das Geschäft wird fortlaufend als „jüdisch“ markiert und drangsaliert. Weitere Versuche, das Schuhhaus zu schützen, durch die Übertragung auf den Sohn, einen geplanten Unternehmenstausch mit einem Grazer Nationalsozialisten und später die Einsetzung eines Mitglieds der Waffen-SS als Kommanditisten ändern nichts an der Stigmatisierung. 1939 entschließt sich das Ehepaar zu einem drastischen Schritt, um die Anerkennung als „arisches Geschäft“ zu erlangen, lassen sich (pro forma) scheiden. 1943 verfügt das Wirtschaftsministerium dennoch die Schließung des Geschäfts. Die Scheidung scheint interessanterweise nicht bei allen Stellen der NS-Bürokratie angekommen zu sein, bei Münchener Behörden wird Franz fried weiterhin als verheiratet geführt. Denn obwohl Franz Fried Zwangsarbeit und Konzentrations- und Deportationslager erleiden muss, ist es möglich, dass ihn dieser Eintrag vor schlimmeren Maßnahmen bewahrt hat.
Über „Arisierungshyänen“ in Württemberg schreibt Cornelia Rauh. So wurden zur NS-Zeit als auch während der Entnazifizierung diejenigen bezeichnet, die sich an der Verdrängung von Jüdinnen*Juden aus dem Wirtschaftsleben bereicherten (Vgl. S. 251). Rauh legt dar, welche Rolle Korruption bei der „Arisierung“ von Betrieben unter dem Gauleiter Wilhelm Murr spielte. 1936 wurde eine „Vermittlungszentrale“ gegründet, die „Arisierungen“ in Gang setzen und begleiten sollte. So durften insbesondere verdiente Parteigenossen enteignete Unternehmen erwerben, zu Beginn Mitarbeiter und Bekannte der Gauleitung – vom Historiker Frank Bajohr als „Förderprogramm für NSDAP-Mitglieder“ bezeichnet. Auch mittellose Parteimitglieder konnten Häuser und Betriebe erwerben, da ihnen Gauleitungsmitglieder in Gremien der Württembergischen Landessparkasse problemlos Kredite zusprachen. Auch Zahlungen auf ein Konto der Gauleitung beförderten die Übernahme ehemals jüdischer Geschäfte.
Die Geschichte der bereits bei Rauh erwähnten Schramberger Majolikafabrik für Steingut und Porzellan betrachtet Carsten Kohlmann. Auf eine lange Tradition des Handwerks in der Stadt zurückblickend, gründeten die Brüder Moritz und Leopold Meyer ihr Unternehmen im Jahr 1912. In der Stadt anerkannt, sahen sie sich ab 1930 den Anfeindungen der NSDAP-Ortsgruppe ausgesetzt. Ab 1937 bekamen sie verstärkt den Druck des Bürgermeisters Fritz Arnold zum Verkauf der Firma zu spüren, der mit und im Anschluss an ihre Verschleppung in das KZ Dachau im Zuge der Novemberpogrome 1938 gipfelte. Nur durch die Verpflichtung zum Verkauf des Unternehmens und zur Auswanderung konnten die Brüder nach Schramberg zurückkehren. Die bereits im November geführten Verhandlungen mit Übernahmeinteressenten durch Arnold zeichnet Kohlmann detailliert nach. Einen spannenden Aspekt stellt auch die Zeit nach 1945 dar. Der neue Bürgermeister Christian Breiter bemühte sich früh um einen Kontakt zum 1939 in die USA geflohenen Leopold Meyer und dem ebenfalls 1939 nach Großbritannien geflohenen Moritz Meyer, um eine Rückübereignung zu vollziehen und vor „Konjunkturrittern“ (S. 358), so Breiter, zu schützen. Die Majolikafabrik wurde 1948 restituiert und von Moritz Meyer fortgeführt.
Wie sich die Stadt Stuttgart vor allemdurch Immobilienzwangsverkäufe von jüdischen Eigentümer*innen bereicherte dokumentiert Josef Klegraf. Insbesondere nach den Novemberpogromen 1938 erwarb die Stadt Wohn- und Geschäftshäuser sowie Grundstücke deutlich unter Wert und profitierte von ihrer Verwaltung, die vor privaten Interessent*innen von einem anstehenden Verkauf erfuhr. Die in 56 Fällen erstandenen Immobilien wurden unter anderem als Ämter der Stadt oder verschiedene Heimformen genutzt. Intensiv hat sich Klegraf auch mit der Restitution durch die Stadt Stuttgart befasst. Vor Gerichten trafen ehemalige Besitzer*innen, deren Erb*innen oder – falls nicht zu ermitteln –die „Jewish Restitution Successor Organisation“ ausgerechnet auf Vertreter des Stuttgarter Liegenschaftsamtes, die bereits in der NS-Zeit die Zwangskäufe abgewickelten hatten. Penibel wurden Mieteinnahmen, Steuern und Abgaben berechnet, um sich, wie in den meisten Fällen, vor dem Amtsgericht auf einen Vergleich zu einigen. Ging ein Haus in den Besitz der Stadt über, zahlte sie eventuell durch den NS-Staat einbehaltene Gelder zuzüglich der Mieteinnahmen nach dem Kauf aus. Wurde ein Grundstück zurückerstattet, zahlten die Besitzer*innen den ursprünglichen Kaufpreis abzüglich der Hälfte der Mieteinnahmen an die Stadt. Über die Angemessenheit der Verkaufssumme in der NS-Zeit wurde nicht verhandelt.
Mehrere Beiträge befassen sich mit dem finanziellen Raub im Zuge der Deportationen der jüdischen Bevölkerung ab 1941. Martin Ulmer beschreibt die Versteigerungen, die anfangs Jüdinnen*Juden noch privat durchführten, ab Winter 1941 aber zunehmende als Zwangsversteigerungen durch Kommunen organisiert wurden. Am Beispiel des Zwangsaltenheims Eschenau bei Heilbronn zeigt Ulmer auf wie groß das Interesse der lokalen Bevölkerung an Mobiliar, Kleidung und Hausrat war, direkte persönliche Bereicherung durch Angehörige der Partei, Polizei, Gestapo und Finanzbehörden stattfand und durch Bestechung Vorteile bei den Versteigerungen gewährt wurden. Der Autor verdeutlicht, wie skrupellos die ehemaligen Nachbar*innen und Händler vorgingen und wie die staatliche Organisation den Raub legitimierte.
Der Zeit nach 1945 und den Restitutionsvorgängen widmet sich das letzte Kapitel. Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit der Stadt Horb am Neckar, etwa am Beispiel der Familie Esslinger im Text von Heinz Högerle. Die Familie musste ihr Textilgeschäft 1938 schließen, wurde 1941 nach Lettland deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Eine Freundin der Familie, Agnes Hermann, bemühte sich im Auftrag der Nachkommen um eine Wiedergutmachung. Das Landesamt für Wiedergutmachung bedrängte sie und die Familie Esslinger, forderte Belege ein und sprach den beiden über Jahre die Bevollmächtigung ab. Nachdem Esslinger und andere Miterb*innen verstorben waren und andere Verwandte im Ausland lebten, erklärte das Landesamt die Restitutionsanfrage 1965 für erledigt.
Der umfangreiche Sammelband gibt einen beeindruckenden Überblick über die Ausgrenzung, Ausplünderung und Ermordung der jüdischen Familien in Württemberg und Hohenzollern. Das Zusammenspiel aus überregionalen Darstellungen und lokalen Beispielen zeigt auf, welche Rolle verschiedene Ämter, Parteiorganisationen und Akteur*innen vor Ort bereits vor 1933 dazu beitrugen, die jüdische Bevölkerung um ihre Werte zu bringen und nach 1945 eine Wiedergutmachung zu behindern. Alle Beiträge von „Ausgrenzung, Raub, Vernichtung“ sind mit Fotografien von Betrieben, Boykottaktionen und Akteur*innen, Zeitungsausschnitten, Flugblättern, Geschäftsberichten und anderen Archivalien reich bebildert. An manchen Stellen wäre eine stärkere Kommentierung der Täterdokumente und deren Sprache wünschenswert gewesen. Dennoch ergibt sich durch den Sammelband ein vielschichtiges Bild der Vorgänge in Südwestdeutschland.
Den Sammelband begleitend, haben das Staatsarchiv Ludwigsburg und der Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e.V. eine Wanderausstellung erarbeitet, deren Inhalte online aufrufbar sind.