Das eindrucksvolle Curiohaus unweit der Außenalster und der Hamburger Universität beherbergt Büros, Veranstaltungsräume und den Hamburger Sitz der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Nur ein Teil einer kleinen Tafel erinnert daran, dass zwischen 1946 und 1949 hier eine Reihe von Militärgerichtsprozessen, u.a. gegen Täter*innen der Konzentrationslager Neuengamme und Ravensbrück stattfanden.
Zu diesen Prozessen konzipierte die Gedenkstätte Neuengamme eine Ausstellung, die 2017 für einen Monat im Hamburger Rathaus und im Anschluss an weiteren Orten zu sehen war.
Begleitend haben das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, die Bürgerschaft Hamburgs und die Gedenkstätte Bildungsmaterialien erarbeitet, die unabhängig von der Ausstellung genutzt werden können. Als Lernziele werden in der Handreichung die Situation juristischer Aufarbeitung von Verbrechen durch eine Besatzungsmacht am Beispiel der Curiohaus-Prozesse, die multiperspektivische Betrachtung einzelner Prozesse und die Beurteilung der Prozessergebnisse sowohl aus zeitgenössischer als auch aus heutiger Perspektive genannt.
Neben Überblicken zu Gerichtsverfahren zu NS-Verbrechen in Deutschland und den Hamburger Curiohaus-Prozessen wird sich konkret mit den Prozessen zum KZ Neuengamme und seinen Außenlagern, dem Prozess gegen den Zyklon B-Produzenten „Tesch & Stabenow“, Verbrechen gegen Zwangsarbeiter*innen und deren Kinder sowie Verbrechen an Kriegsgefangenen vor Gericht auseinandergesetzt. Das letzte Thema widmet sich Kampagnen für die Freilassung von Inhaftierten und der Haftentschädigung, die entlassenen NS-Verbrechern durch das Kriegsgefangenentschädigungsgesetz von 1954 zustand.
Zu jedem der Themen werden kurze Überblickstexte zur Verfügung gestellt, die etwa die Rolle der Beteiligten an den Curiohaus-Prozessen – Ermittler*innen, Zeug*innen, Gerichtspersonal und Verteidiger – oder die im jeweiligen Prozess verhandelten Verbrechen zusammenfassen.
Ein ausdrückliches Ziel der Lernmaterialien ist die Befähigung Originalquellen eigenständig interpretieren und aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können.
Daher finden sich in der Broschüre zu jedem Themenkomplex Zitate von Anklägern oder Zeug*innen aus den Prozessprotokollen, zeitgenössische Zeitungsberichte sowie Fotografien und Dokumente. Gestaffelt nach Anforderungs- und Selbständigkeitsniveau finden die Pädagog*innen Vorschläge für Arbeitsaufträge. Die Schüler*innen werden aufgefordert Informationen zusammenzufassen, zu vergleichen und zu bewerten. Manche Aufgaben gehen über die Lernmaterialien hinaus und fordern etwa zur weiteren Recherche oder Diskussionen auf.
Die Materialien – die aus der Broschüre bereits in Arbeitsblattform abgedruckt sind – wurden für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit entwickelt. Angesichts der bewusst übersichtlich gehaltenen Materialien und der Arbeitsaufträge wird jedoch deutlich, dass die Autor*innen sich vor allem an den Kapazitäten von Lehrkräften und Fähigkeiten der Schüler*innen orientieren. Die verschiedenen Aufgaben ermöglichen es, das Thema in nur einer Doppelstunde zu behandeln, wenngleich drei Doppelstunden empfohlen werden.
Bei beiden vorgestellten Varianten bleibt der Dreischritt aus Überblick über die Herausforderungen nach 1945 NS-Verbrechen zu bestrafen, der Beschäftigung mit einzelnen Prozessen sowie einer Präsentation und Diskussion von Ergebnissen gleich.
Darüber hinaus wird auch eigenständiges, projektorientiertes Arbeiten anhand eines Forschungsauftrags vorgeschlagen. An mehreren Stellen werden Lehrkräfte und Schüler*innen darauf hingewiesen, dass die Aufgaben und Aufträge nur als Anregung zu verstehen sind und andere Fragestellungen ebenso möglich sind.
Als Beispiel für die Bearbeitung eines Prozesses soll an dieser Stelle das Thema „Verbrechen gegen die Kinder von Zwangsarbeiterinnen“ vorgestellt werden. Die Materialien befassen sich mit der „Ausländer-Kinderpflegestätte“ Lefitz, in der die Kinder von Zwangsarbeiterinnen untergebracht wurden. Den Schüler*innen und Lehrer*innen stehen knappe Texte zum Pflegeheim und dortigen Bedingungen und dem Prozess gegen die Heimleiterin und deren Vorgesetzte im Jahr 1948 sowie Informationen über zwei weitere britische Militärgerichtsprozesse zu „Ausländer-Kinderpflegestätten“ zur Verfügung.
Hinzu kommt die Prozess-Aussage einer Zwangsarbeiterin, die die mangelnde Versorgung ihres Kindes beschreibt und eine Archivalie, die die Zwangsbeitrag der Zwangsarbeiterinnen an das Heim dokumentiert. Nebeneinandergestellt werden zudem die Nahrungsrationen von Kindern im Deutschen Reich und von „Ostarbeiterkindern“ 1944.
Als Arbeitsaufträge werden unter anderem ein Vergleich anhand der Nahrungsrationen, die Sammlung von Argumenten für eine Klageschrift und ein Vergleich samt Beurteilung der unterschiedlichen verhängten Strafen in den drei vorgestellten Prozessen vorgeschlagen. Auf einer weiteren Ebene wird eine Diskussion über die Haltungen eines Bauern und der Heimleiterin angeregt, nachdem dieser sie auf die schlechten Zustände im Heim angesprochen und sie ihn daraufhin bei der Polizei angezeigt hatte.
Die Lehrmaterialien zu den Curiohaus-Prozessen bieten Pädagog*innen eine überaus hilfreiche Unterstützung bei der Behandlung von frühen NS-Verbrecherprozessen und dem Hamburger Beispiel. Die Materialien sind übersichtlich gestaltet, leisten viel Vorarbeit und sind ohne Veränderungen direkt in der Bildungsarbeit anwendbar. Gelungen ist, dass Informationen über Verbrechenskomplexe, etwa Verbrechen gegen Kriegsgefangene, stets mit konkreten Taten und darauffolgenden Gerichtsverfahren verknüpft werden. Die vorgeschlagenen Arbeitsaufträge sind klar formuliert und bieten durch ihre unterschiedlichen Kompetenzvoraussetzungen und Perspektiven Pädagog*innen die Möglichkeit die passenden Aufgaben für die jeweilige Lerngruppe auszuwählen.
Es hätte sich angeboten, für die Lehrkräfte noch einen Hintergrundtext zum Komplex der NS-Aufarbeitungsprozesse und deren Nachwirkungen zur Verfügung zu stellen, dafür findet sich aber eine hilfreiche Literatur- und Linkliste, die die Vertiefung ermöglicht.
Die Lernmaterialien können für 2€ bei der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bestellt oder auf der Seite der Hamburgischen Bürgerschaft kostenlos als PDF heruntergeladen werden.