Videospiele haben in den letzten Jahrzehnten einen kontinuierlichen Zuwachs an Popularität und entsprechend auch finanzieller Bedeutung gewonnen. Spiele finden Eingang in Bereiche wie Kultur, Sport oder Bildung, in ihrer originären und sich gleichzeitig wandelnden Form oder als aus ihnen resultierender Gamification von Lebenswelten. Nico Noldens Studie „Geschichte und Erinnerung in Computerspielen“ von 2019 nimmt also eine gesellschaftlich äußerst relevante Lebenswelt in den Blick.
Ein Problem, das sich Nolden stellt, ist die eingeschränkte Forschungsliteratur zu historischen Aspekten in Computerspielen. Nolden stützt sich daher auf Analysen und Kommentare, die zwar – wie er mehrfach betont – keinen geschichtswissenschaftlichen Standards genügen, allerdings von Kenner*innen der Branche und erfahrenen Expert*innen und Praktiker*innen verfasst sind. Diese könnten der akademischen Geschichtswissenschaft helfen, Videospiele besser zu verstehen und als Folge die vermessen hohen Ansprüche, die Historiker*innen zuweilen von bisherigen Medientypen ableiten, an die computerspielspezifischen Eigenschaften anzupassen.
Einer möglichen, und sicherlich erwartbaren Skepsis der Geschichtswissenschaft gegenüber der Auseinandersetzung mit Computerspielen setzt Nolden eine kleinteilige Schilderung der Entwicklung der Branche in den letzten 30 Jahren entgegen. Die Anzahl von Computerspielen mit historischen Themen sei ebenso gestiegen wie deren Popularität. Dass Videospiele bereits über 50 Jahre bestehen, verleihe ihnen ihre eigene Historizität.
Dabei sei es nicht einfach, zu definieren wann ein digitales Spiel historische Bezüge aufzeige. Von einem solchen Format sei nur zu sprechen, wenn sich narrative und spielmechanische Elemente überschneiden und ggf. auch die Kulisse oder die im Spiel entworfene Welt historische Anteile aufwiesen.
Als Grundlage für seine Analyse erarbeitet Nolden am Beispiel von zahlreichen Computerspielen vier Erkenntnisinteressengebiete. „Geschichtsbilder“ im Sinne von Vorstellungswelten, die durch Vergangenheitsbilder erzeugt werden, eine „zeithistorische Rückkopplung“, die „technikkulturelle Geschichte digitaler Spiele“ und die Ausprägung von „erinnerungskulturellen Wissenssystemen“, welche dynamisch aus der Spieler*innen-Community entstehen. Anhand der aufgeführten Positivbeispiele zeigt Nolden seine umfangreiche Kenntnis der Materie.
Noldens empirische Analyse bezieht sich auf das Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) „The Secret World“ (2012) als Spielform bei der tausende Spieler im Internet mit- und gegeneinander spielen. Diese Spielform sieht Nolden als besonders gut geeignet um die erinnerungskulturellen Wissenssysteme zu untersuchen. In „The Secret World“ treten die Spieler*innen einem von drei Geheimbünden bei und kämpfen um die Macht in der Spielwelt. Nolden untersucht die „Sach- und Objektkultur“, die „narrativen Netzwerke“, die „makrohistorischen Rechenmodelle“ und die „mikrohistorischen Weltenwürfe“ im Spiel, die er mit den oben benannten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen zur Analyse des historischen Wissenssystem verknüpft.
Das Spiel selbst ist in der Gegenwart angesiedelt, Nolden untersucht u.a. die historischen Rückgriffe, wie Mythen über die Geheimbünde die im Laufe des Spiels eine Rolle spielen, die innerhalb des Spiels entstehende Historizität und das audiovisuell geprägte Bild von Geschichte.
Dabei ist das MMORPG-Spezifikum der großen aktiven Community ein wichtiger Aspekt. Die Spielenden schaffen und diskutieren im Online-Forum die historischen Inhalte sowie die spielinhärente Erinnerungskultur und schlagen dabei auch Brücken zur Realität in Vergangenheit und Gegenwart.
Nolden gelingt eine eindrucksvolle Schau der Beziehung zwischen Geschichtswissenschaft und Videospielen, die die Relevanz des Themas und seiner Studie verdeutlicht. Seine Analysekriterien sind schlüssig und dürften auch weiteren Studien dienen. Erneut positiv hervorzuheben ist die Vielzahl und Diversität an Spielen, die Nolden als Grundlage, Beispiele und Vergleiche heranzieht.
Noldens Beschreibung der Spielwelt und –inhalte von „The Secret World“ ist so detailliert und niedrigschwellig, dass die Leser*innen sich eine gute Vorstellung des Spiels machen und seiner Analyse folgen können. Dennoch bleibt das Problem – und das liegt nicht an Noldens Studie –, dass sich Videospiel-Lai*innen auf ein Medium einlassen müssen, das sich außerhalb herkömmlicher Medienrezeption bewegt.