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Das Feld von Antisemitismuskritik und -bekämpfung ist emotional und politisch hoch aufgeladen. Im politischen Diskurs sind manche Vereindeutigungen und normative Aussagen nachvollziehbar und in einzelnen Fällen sogar notwendig. Antisemitismus kann durch Bildungsmaßnahmen nicht abgeschafft werden. Was aber im Rahmen der Möglichkeiten liegt, ist Antisemitismus „zu erkennen, Empathie mit den Opfern her(zu)stellen sowie Gegenstrategien (zu) erproben.“ (S.9) Ein solches Bewusstsein über die Grenzen dessen, was Bildungsarbeit leisten kann, liegt quer zu öffentlichen und politischen Erwartungen an die Pädagogik, wenn im Anschluss an als antisemitisch wahrgenommene Vorfälle nach der pädagogischen Feuerwehr gerufen wird.
Doch wie verhält es sich damit in einer pädagogischen Umgebung? Welche fachlichen Standards können in der politischen Bildung und in angrenzenden Arbeitsfeldern im Umgang mit Antisemitismus angelegt werden? Zu diesen Fragen haben Monique Eckmann und Gottfried Kößler ein Diskussionspapier vorgelegt. Unter dem Titel „Pädagogische Auseinandersetzung mit aktuellen Formen des Antisemitismus. Qualitätsmerkmale und Spannungsfelder mit Schwerpunkt auf israelbezogenem und sekundärem Antisemitismus“ entstand für das Deutsche Jugendinstitut, dem die Programmbegleitung und wissenschaftliche Evaluation der Modellprojekte des Bundesprogramms Demokratie leben! bis 2019 oblag, ein dreigliedriges Vorschlagspapier mit dem Anspruch, „Erkenntnisse aus der neuesten Antisemitismusforschung und -debatte mit pädagogischen Grundsätzen und Methoden zu verknüpfen“ (S.7).
Das Papier will nicht normativ wirken, sondern die Fachdebatte anregen und befruchten, vor allem unter den Praktiker*innen. Insofern ist es selbst als pädagogisches Mittel zu begreifen und dementsprechend zu lesen. Die Autor*innen orientieren sich bei den pädagogischen Überlegungen am Weiterbildungsprogramm Verunsichernde Orte sowie grundsätzlich an Ruth Cohns Themenzentrierter Interaktion. Einbezogen werden demnach die „gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen von Bildungsarbeit“ (S. 11), der pädagogische Fokus liegt auf der Interaktion zwischen Gruppe, Pädagog*in und Thema. Ausdrücklich einbezogen werden auch die Relationen von Antisemitismus und Rassismus.
Im ersten Kapitel werden „Pädagogische Eckpunkte bezüglich antisemitismuskritischer Bildungsarbeit“ herausgearbeitet“ (Ebda.). In den Grundlagenbereich gehört die Prozessorientierung, die zu den universellen Grundlagen jeglichen pädagogischen Handelns gehört, oder vielmehr gehören sollte, um im Rahmen von Bildungsarbeit nicht instruktionspädagogisch vorzugehen.
Ein zentraler Punkt, den Eckmann und Kößler benennen, sind die „emotionalen und affektiven Dimensionen“ der unterschiedlichen Formen von Antisemitismus. Gerade sie sollten im Fokus von Bildungsarbeit liegen (S. 7). Auf den affektiven Gehalt von Antisemitismus wiesen unter anderem schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hin. Die Antisemitismusforscherin Julijana Ranc schreibt, dass im antisemitischen Ressentiment „Affekte und Kognition und damit auch ihr synergetisches bzw. psychodynamisches Zusammenspiel“ (Ranc 2016: 19) wesentlich sind. In der Folge bedeutet dies, dass es ratsam ist, Bildungsprogramme nicht allein kognitiv auszurichten. In diese Richtung könnte das Diskussionspapier weitergedacht werden, in dem bereits vorgeschlagen wird, „vielfältige (sozial-)pädagogische Methoden zu nutzen“ (S.7). Die Einbeziehung von Minderheitenpositionen gehört zu den immer wieder geforderten und noch viel zu wenig beachteten, inhaltlichen Grundlagen auf dem Arbeitsfeld. Damit sind gerade nicht ausschließlich jüdische Perspektiven gemeint, sondern die von Menschen mit Migrationsgeschichte. Beides kann sich durchaus überschneiden, betrachtet man die heterogene Zusammensetzung allein der jüdischen Gemeinden.
Besonders hervorgehoben wird der Umgang mit Kontroversen zum Nahostkonflikt. Die Autor*innen betonen, dass multiperspektivisch „verschiedene Sichtweisen und Narrative sachlich vorzustellen und kontrovers zu diskutieren sind“ (S.8). Hier wird mit der Kontroversität nicht nur ein zentrales Prinzip des Beutelsbacher Konsenses der politischen Bildung angeführt, sondern implizit ausgedrückt, dass nicht jede kontroverse Position zum Nahhostkonflikt rassistisch oder antisemitisch sein muss. Wer hier ein pädagogisches Laissez-faire wittert, liegt allerdings falsch. Die von den Autor*innen vertretenen friedens- und anerkennungspädagogischen Ansätze verlangen, dass „offensichtlich rassistische oder antisemitische Äußerungen im pädagogischen Setting klar und offen zu konfrontieren“ (S.8) sind. Daraus ergibt sich, und dies durchzieht das gesamte Diskussionspapier, nicht nur eine hohe Kompetenzanforderung an die Pädagog*innen, die darin liegt, antisemitische Äußerungen, auch wenn sie codiert auftreten, zu erkennen. Pädagogische Fachkräfte auf dem Feld sind zur permanenten Reflexion ihrer eigenen Positionen und Haltungen aufgefordert.
In der praktischen Arbeit sind darüber hinaus nicht alle Zielgruppen für Bildungsmaßnahmen erreichbar. Entsprechend müssen die Adressat*innen und Ziele der eigenen Arbeit angepasst werden, was wiederum oft in Spannung zu den politischen Verlautbarungen der finanzierenden Stellen steht (vgl. nachfolgend S. 10/11). Angelehnt an die Rechtsextremismusforschung lässt sich ein harter Kern ausmachen, der für die pädagogische Arbeit aufgrund seiner verfestigten Ideologie kaum erreichbar ist. Auch ein organisierter Kreis ist nur begrenzt ansprechbar, selbst wenn er nicht über ein vollständig verfestigtes antisemitisches Weltbild verfügt. Hier bestünde die (sozial-)pädagogische Zielsetzung insbesondere in der Verhinderung von Gewalttaten. Bei Sympathisant*innen und Mitläufer*innen gilt es in erster Linie, ideologische Verfestigungen zu verhindern, verschwörungsideologische Muster aufzudecken und durch Dissonanzen zu erschüttern. Das allgemeine Publikum aber ist die größte und wichtigste Zielgruppe der Bildungsarbeit. Hier ist es möglich, widerständige Momente und Positionierungen gegen Antisemitismus, aber auch gegen Rassismus anzuregen und die „Solidarität mit Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus zu stärken.“ (S.11).
Praktisch-konkret wird der Text unter der Zwischenüberschrift „Inhaltlich-methodisches Hintergrund-Wissen“ (S.12). Hier werden Verknüpfungen von Antisemitismus und Rassismus, sekundärer Antisemitismus und damit Geschichtsbezüge, Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, bzw. israelbezogener Antisemitismus und der sogenannte importierte Antisemitismus angesprochen.
Im pädagogischen Prozess sollten Erfahrungen mit jeder Form von „Diskriminierung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung“ (S. 12) ihren Raum finden. Eckmann und Kößler verbinden dieses Paradigma mit einem Hinweis darauf, dass ein „Exzeptionalismus (Ausnahme, Besonderheit des Themas) in Bezug auf den Gegenstand Antisemitismus (...) leicht zum Eindruck des Exzeptionalismus von Jüdinnen und Juden als Gruppe“ (S.12) führen könne. Diese von Teilnehmenden von Bildungsveranstaltungen immer wieder geäußerte Annahme sollte den Autor*innen zufolge als Problem ernst genommen werden. Im politischen, außerpädagogischen Raum wird eine solche Position sicherlich dadurch begünstigt, dass es zwar inzwischen in jedem Bundesland und in vielen Behörden Antisemitismusbeauftragte gibt, eine entsprechende Position zum Problemfeld Rassismus jedoch fehlt. Inhaltlich richtig ist die Prämisse, im Falle von im Raum stehenden „Opferkonkurrenzen (...) jede Opfererfahrung anzuhören.“ (S.13) Aus dem Feststellen einer Opfersituation kann leicht eine feste Zuschreibung werden. Diese Problematik ist aus Schulbüchern bekannt, die Juden*Jüdinnen häufig nicht als tätige Subjekte darstellen, die ihr Geschick selbst in die Hand nehmen, sondern eben in einer Opfersituation verharrend gezeigt werden. Nachdenkenswert wäre allerdings eine Alternative zum Begriff der Opferkonkurrenz. Im historischen Kontext liegt die Formulierung ‚konflikthafte Erinnerung‘ nahe.
Eine Kernaussage von Eckmann und Kößler lautet, dass Rassismus und Antisemitismus in der pädagogischen Arbeit stets „zusammen zu denken“ (S.13) sind, was nicht bedeutet, beide Problemfelder immer gemeinsam zu behandeln. Dieses gemeinsame Denken beider Problemfelder ist durchaus unabhängig davon, wie das Verhältnis von Antisemitismus zu Rassismus in der Theorie bewertet wird. Diese Haltung erleichtert es Bildungsarbeiter*innen zudem, der immer wiederkehrenden Tendenz zu widersprechen, jede „individuelle oder kollektive Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung einem Genozid“ (Ebda.) gleichzusetzen und zwischen individuellen Taten und staatlicher Diskriminierung Unterschiede deutlich zu machen.
Zu den immer noch vorhandenen Erwartungshaltungen an die historisch-politische Bildung, bzw. an das schulische historische Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust gehört die Annahme, sie würden quasi automatisch gegen aktuelle Formen von Antisemitismus imprägnieren. Wie schon andere Bildungsexpert*innen weisen Eckmann und Kößler diesen Kurzschluss zurück und verweisen darauf, dass die Beschäftigung mit der Geschichte Wissen und Bewusstsein über „politische Prozesse der Radikalisierung von Rassismus und Antisemitismus“ (S.13) schaffen können. Was Bildungsarbeit leisten kann, ist Schuldabwehrmechanismen zu benennen. Einen möglichen Ansatzpunkt, der in der im pädagogischen Umgang mit sekundärem Antisemitismus bisher zu wenig beachtet wird, ist „biografisches Aufarbeiten der eigenen Herkunftsfamilie und deren Narrative“ (S.14). Dies kann eine Möglichkeit darstellen die innerfamiliäre „Verfestigung der Vergangenheit“ (Welzer et al.: 2002: 18) infrage zu stellen. Daran schließt sich an, antisemitische Bilder und Diskurse aufzugreifen, die dann beispielhaft dekonstruieren werden müssen, um sie nicht zu verfestigen und um die Funktion von Antisemitismus als Weltbild zu verdeutlichen.
Grundsätzlich wird empfohlen, Geschichte als Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zu erzählen. Das ist nicht zuletzt im Falle jüdischer Geschichte eine notwendige Perspektive. In Bezug auf die Geschichtsdarstellung forderte bereits Saul Friedländer eine „integrierte Geschichte“, also eine, bei der die Perspektive der Verfolgten Eingang in das Narrativ erfährt. Ausgeweitet auf die Darstellung jüdischer Geschichte insgesamt bedeutet dies, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit jüdischer Perspektiven aufzunehmen, sowie die Verflechtung der jüdischen Minderheit zu anderen Minderheiten bzw. Mehrheiten beispielsweise im Mittelmeerraum zu betrachten. Dieser Ansatz kommt auch in der Arbeit mit Geflüchteten zum Tragen, die teils unterschiedliche biografische Erfahrungen mit einbringen und aus Herkunftsregionen stammen, in denen „unterschiedliche Beziehungs- und Verflechtungsgeschichten mit der dortigen jüdischen Bevölkerung“ (S.15) bestehen und die zudem durch Kolonisierung und Dekolonisierung geprägt sind.
Die Thematisierung von Antisemitismus im Kontext des Nahostkonfliktes hat besondere Dynamiken. Was insgesamt für die Bildungsarbeit gilt, ist hier von besonderem Gewicht: Die Klärung der eigenen Haltung und der Standpunkte von Pädagog*innen. Da es sich kaum ausschließen lässt, die eigenen Standpunkte in die Arbeit einfließen zu lassen, ist ein Mindeststandard die „Bereitschaft zum Dialog“ (S.14) zu kommunizieren sowie vereinfachende Schuldzuschreibungen zu vermeiden. Auch bei Bildungsträgern, weitaus mehr jedoch im politischen Diskurs, lässt sich eine Tendenz ausmachen, Antizionismus und Antisemitismus gleichzusetzen. Die Gleichsetzung ist bereits aus historischen Gründen nicht triftig und ignoriert die bis heute bestehenden unterschiedlichen jüdischen nicht- oder antizionistischen Strömungen und Einzelpersonen. In der heutigen Bildungsarbeit sind Pädagog*innen aufgefordert „zwischen Menschrechts-Anliegen einerseits (die von Fall zu Fall genau geprüft werden müssen) und antisemitischen Mustern in pro-palästinensischen Diskursen andererseits zu unterscheiden.“ (S.14) Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich auch im Kontext des Nahostkonflikts Antisemitismus codiert zeigt. Antisemitische Haltungen gilt es selbstverständlich zu konfrontieren, wobei das pädagogische Prinzip gilt, die Position, nicht die Person an sich zu kritisieren. Dementsprechend ist der „Vorwurf des Antisemitismus (...) sorgfältig abzuwägen“ (S.15). Das gilt analog für pro-israelische Diskurse, bei denen muslimfeindliche und rassistische Meinungen ebenfalls zu konfrontieren sind. Zum Nahostkonflikt hat sich ein spezifisch deutsches postnationalsozialistisches Diskursfeld ausgebildet. Daher besteht eine zusätzliche pädagogische Aufgabe darin, zwischen dem eigentlichen Konflikt und dem, wie es Eckmann und Kößler ausdrücken, „Konflikt über den Konflikt“ (S. 15) unterscheiden zu können.
In dem folgenden zweiten Kapitel werden aufbauend auf den pädagogischen Eckpunkten antisemitismuskritischer Bildungsarbeit Qualitätsmerkmale vorgestellt, mit denen die erwünschten Qualifikationen von auf dem Feld arbeitenden Pädagog*innen skizziert werden. Die Qualitätsmerkmale wurden analog zu jenen des Weiterbildungskonzepts „Verunsichernde Orte“ (Thimm et al.: 2010: 25ff) entwickelt.
Für die Gliederung und zur Beschreibung der unterschiedlichen Ebenen werden fünf Dimensionen unterschieden: Die themenspezifische Dimension beinhaltet in erster Linie das Sachwissen, beispielsweise jüdische Geschichte als Verflechtungsgeschichte zu fassen, Wissen um die Analysen und Mechanismen von Antisemitismus, seiner Geschichte sowie judenfeindlicher Stereotype sowie die Geschichte des Nahostkonflikts und des Nationalsozialismus samt seiner Nachgeschichte. Übergeordnet wird in der pädagogischen Dimension die Diskussionsbereitschaft. Das bedeutet, auf eine explizite normative Festlegung dessen, was Antisemitismus sei, im pädagogischen Prozess zu verzichten und anhand von Dilemmata Irritationen zu schaffen, was Pädagog*innen ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz abverlangt. Daraus lässt sich schlussfolgern, wie beschränkt nützlich im pädagogischen Prozess festumrissene Antisemitismusdefinitionen sind. Dies gilt insbesondere für die von der Bundesregierung empfohlene Arbeitsdefinition Antisemitismus, die zugleich vage und normativ ist. Sie beruht im Kern auf einem Definitionsvorschlag der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die international auch kontrovers diskutiert wird (Ausführlich dazu Ullrich 2019). Im Rahmen der ethischen Dimension geht es um die Selbstreflexion von pädagogisch Arbeitenden, die aufgefordert sind, ihre Bereitschaft zur Intervention und zum Opferschutz deutlich zu machen und sich dabei der „hohen emotionalen und kognitiven Anforderung an ihre Tätigkeit“ (S.19) ebenso bewusst sind, wie der „gesellschaftspolitischen Dimensionen“ (Ebda.). Daraus ergeben sich nicht nur Anforderungen an sozialpädagogische Kenntnisse aufseiten der Pädagog*innen. Auch ihre Bereitschaft, nicht-angemessene „Formen der Instrumentalisierung ihrer Tätigkeit durch ihre auftraggebende Institution“ (S.20) anzusprechen, wird genannt. Dazu gehört „Politisierung als pädagogisches Mittel“ (Ebda.). In der Praxis dürfte der letztgenannte Punkt vor allem eine Anforderung an die Haltung der Pädagog*innen sein, die oft existentielle Probleme aufwirft. Sich in der Praxis gegen mögliche (politische) Instrumentalisierungen von Auftraggeber*innen zu stellen, endet für freiberuflich Tätige eher damit, dass es um eine zukünftige Auftragsvergabe eher schlecht bestellt ist. Diese Anforderung verweist auf ein strukturelles Problem kritischer politischer Bildung: Trägerschaft und Finanzierung legen einen Rahmen fest, der weit stärker in die konkrete Bildungsarbeit einwirkt, als das zumeist reflektiert wird
Um die Fähigkeit, eine Balance zwischen der eigenen Vermittlungsarbeit, der Entwicklung von Problembewusstsein unter Beachtung des Prozesses in der Gruppe und der Teilnehmer*innenperspektive zu finden, ranken sich die Anforderungen um die methodischen Dimension. Hier ist nicht nur methodisches Wissen der Pädagog*innen im Demokratielernengefragt, sondern auch die Fähigkeit, auf auftauchende Emotionen angemessen zu reagieren (Vgl. S. 21). Hinzu kommt insbesondere eine Bildkompetenz, die sich der überwältigenden und manipulativen Wirkweise von Bildern bewusst ist. Obwohl das Thema Selbstreflexion eine Querschnittsanforderung ist, haben die Autor*innen ihr eine gesonderte Dimension zugewiesen. Dabei geht es, wenn auch nicht allein, um den kollegialen Austausch, das Hinterfragen eigener Arbeitsmotivationen, die Klärung der eigenen Rolle sowie das Erkennen von Grenzen der pädagogischen Arbeit. Hier wird auch die Auseinandersetzung mit eigenen Bildern von Juden*Jüdinnen und die Auseinandersetzung mit eigenen Emotionen im pädagogischen Prozess und in der Beschäftigung mit „den Themenfeldern Antisemitismus, Holocaust, Nahostkonflikt, Kolonialismus und Entkolonisierung“ genannt.
In Kapitel drei greifen Eckmann und Kößler die aus ihrer Sicht wichtigsten Konfliktlinien und Kontroversen im Bereich antisemitismuskritischer Bildungsarbeit auf. Zwangsläufig ergeben sich hier Überschneidungen zu den vorherigen Abschnitten, die noch einmal anders akzentuiert werden. Darunter fällt das Verhältnis von Mehrheit zu Minderheiten mit der Feststellung, dass Bildungsarbeit überwiegend von ersterer praktiziert wird, während die letztgenannten, insbesondere als Migrant*innen oder Muslime wahrgenommene, häufig die Rolle von Adressat*innen, und damit der Problemfälle, zugewiesen wird. Gleichzeitig gibt es eine Unterrepräsentanz von jüdischen Perspektiven in der Bildungsarbeit über Antisemitismus (Vgl. S.23). An dieser Stelle ist der Plural wichtig. Längst werden Jüdinnen*Juden in Deutschland nicht mehr alleine durch den Zentralrat oder die, in sich selbst heterogenen, jüdischen Gemeinden allein repräsentiert. Die jüdischen Communities sind, auch in ihrer Haltung zu Umgang mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt ausgesprochen divers. Aus diesem Umstand darf sich allerdings nicht, wie die Autor*innen zurecht betonen, ein Anlass ergeben, in „Zuschreibungen als ‚gute‘ respektive ‚schlechte‘ Jüdinnen und Juden“ (S.23) zu verfallen, sondern mit Jüdinnen*Juden zu sprechen, anstatt über sie. Problematisiert werden pädagogische Programme, die ausdrücklich „muslimisch-arabische Jugendliche“ (Ebda.), adressieren. Das nicht nur im pädagogischen Raum möglicherweise auftauchende Problem ist eine Verschiebung oder Projektion von Antisemitismus als allgemein gesellschaftlichem Phänomen auf Minderheiten (Ebda.). Zudem werden die zunehmend kontroversen und selbstkritischen Diskussionen innerhalb der Minderheiten so leicht übersehen, bzw. unsichtbar gemacht. Hier wie auch im Umgang mit Antisemitismus unter Muslim*innen sollte von homogenisierenden Betrachtungen abgesehen werden, auch wenn dichotome, oft projektive, postkoloniale Erzählungen, in denen sich „manche Muslim/innen selbst als (ewige) Opfer, und die Jüdinnen und Juden als (ewige) Täter“ (S. 23) sehen, mit ihrer Funktion der emotionalen „Wir“-Gruppenbildung im Problemfeld Antisemitismus zu thematisieren sind.
Abschließend befassen sich Eckmann und Kößler mit methodisch-pädagogischen Kontroversen. Nahezu unstrittig dürfte der Befund sein, dass Pädagog*innen die Thematisierung von Antisemitismus vermeiden. Davon zeugen etliche Beispiele im schulischen Bereich, bei denen das Problem negiert oder kleingeredet wurde. Doch wie soll Antisemitismus aufgegriffen werden? Unmittelbar über seine direkte Thematisierung mittels kognitiv ausgerichteter Methodik oder über Umwege wie „biografische Arbeit mit dem Ziel der Selbstreflexion“ (S. 28) im Sinne „einer demokratischen politischen Bildung“ (Ebda.), bei der nicht gewährleistet werden kann, dass die Adressat*innen die Schlussfolgerungen ziehen, die sich Pädagog*innen wünschen? Lässt sich der Erfolg von Bildungsmaßnahmen überhaupt messen, bzw. wie sind sie zu evaluieren? Nicht zufällig endet das Diskussionspapier mit diesen und weiteren Fragestellungen. Das liegt in der Natur der pädagogischen Sache. Auch wenn es sich vielleicht Auftraggeber*innen und fördernde Institutionen oder auch die Politik anderes wünschen, Bildungsarbeit lebt von der Fehlertoleranz und jenseits ausgeklügelter Konzepte ist sie insbesondere von den pädagogischen Vermittler*innen und ihren vielfältigen Kompetenzen abhängig. Das zeigen Eckmann und Kößler so deutlich wie eindrücklich auf. Und Pädagogik findet ihre Grenzen zumal an gesellschaftlichen Strukturen, an der, wie es im Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung heißt, „Widervernunft des totalitären Kapitalismus“ (Horkheimer/Adorno 1969: 62). Eines der grundlegenden Ziele antisemitismuskritischer Bildung besteht in der Förderung von Ambiguitätstoleranz, also dem Vermögen, Widersprüche auszuhalten und sich in ihnen zu bewegen. Dabei dürfte es sich um eine der schwierigsten Zielsetzungen handeln, leben wir doch in Gesellschaften, die derart strukturiert sind, dass sie dichotome Denkmuster von Freund und Feind, falsch und richtig aus sich heraus (re)produzieren. Ein Mechanismus, der zugleich eine Grundlage von Antisemitismus bildet. Im Sinne einer Erweiterung des Diskussionspapiers wäre anzuregen, die sozialen und ökonomischen Grundlagen aufzugreifen, auf denen sich Antisemitismus immer wieder reproduziert sowie die ökonomische Situation insbesondere von freiberuflich oder im Projektbereich arbeitenden Pädagog*innen anzusprechen, denen in prekären Situationen bei niedriger Bezahlung ein Höchstmaß an Kompetenz abverlangt wird. Mit ihrer Ausarbeitung bieten die Autor*innen gerade zu letzterer Frage einen wichtigen Diskussionsanreiz, von dem zu hoffen ist, dass er als solcher be- und aufgegriffen wird.
Dieser Text erschien zuerst auf dem antifra*-Blog der Rosa Luxemburg Stiftung.
Das Diskussionspapier ist abrufbar unter https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/FGJ4/Eckmann_Koessler_2020_Antisemitismus.pdf
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1969.
Julijana Ranc: „Eventuell nicht gewollter Antisemitismus. Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern. Münster 2016.
Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich: Verunsichernde Orte, Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt am Main 2010.
Peter Ullrich. Gutachten zur »Arbeitsdefinition Antisemitismus« der International Holocaust Remembrance Alliance. Berlin 2019, digital unter: https://www.rosalux.de/publikation/id/41168/gutachten-zur-arbeitsdefinition-antisemitismus-der-ihra?cHash=2e382e6efcbfdc848a96fc44f0910aaf.
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2002.