Der 2017 erschienene Sammelband „Geschichte im Comic“ ist der Tagungsband der 10. ComFor-Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), die im September 2015 in Frankfurt/Main stattfand. Allerdings repräsentieren die 23 Beiträge im Band, fünf davon auf Englisch, bei weitem nicht den Umfang und die thematische Vielfalt der dreitägigen Tagung. Er bringt wichtige Akteur*innen der akademischen Comicforschung zusammen, die sich im ersten Teil an einer Analyse der Beziehung von Geschichte/ Geschichtsschreibung und Comics versuchen und sich im zweiten Kapitel den Erzählweisen widmen. In den zwei folgenden Kapiteln, unterteilt in „Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert: Geschichte als Stoff“ und „Ansichten von Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert“, untersuchen die Autor*innen überwiegend einzelne Comics oder regional und zeitlich abgesteckte Comicveröffentlichungen. Insbesondere aus den letzten beiden Kapiteln werden an dieser Stelle Beiträge nur exemplarisch angeführt.
Einleitend charakterisiert Bernd Dolle-Weinkauf „historische Comics“ als Genre, wobei er den Blick auf die Beziehung zu Romanen und historischen Fachbüchern wirft. Comics würden Geschichte nicht erforschen, sondern Geschichtswissen popularisieren. Anhand zahlreicher Roman- und Comicbeispiele zum Verhältnis von Fakt und Fiktion arbeitet Dolle-Weinkauf heraus, dass es weniger die historische Genauigkeit, bekannte Personen oder Schauplätze seien, die einen „historischen Comic“ ausmachen als das Narrationskonzept, dass in einem authentifizierten Rahmen fiktive Charaktere und Handlungen zulässt.
Wie auch schon Dolle-Weinkauf bezieht sich Christine Gundermann auf Hans-Jürgen Pandel, der als erster deutscher Geschichtsdidaktiker eine Typologie von Geschichtscomics erstellte. Sie erweitert diese jedoch und führt Comic-Groteske, Comic-Parodie, Autobiografie, Comic-Nacherzählung, Quellencomics, Comic-Reportagen, die historisierende Abenteuerimagination und das Epochalepos auf. Gundermann weist darauf hin, dass diese Typologien, wie auch die Comicforschung selbst, im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft stehen. Zuletzt berührt sie den für Geschichtscomic elementaren Aspekt der Authentizität, der in seiner Verwendung mittlerweile als „gefühlte Echtheit“ (S.36) verstanden wird. Eine Wahrnehmung, die ein Comic eigentlich in seinem Format widerspricht. Erneut nach Pandel lässt sich dabei zwischen Personen- und Ereignisauthentizität (eine Person hat real existiert), Typenauthentizität (die Person ist fiktiv, vereint aber zeittypische Eigenschaften), Repräsentationsauthentizität (fiktive Elemente sind nach Forschungsstand repräsentativ) und Erlebnisauthentizität (Emotionen der Figur sind akkurat wiedergegeben) unterscheiden.
Jörn Ahrens erarbeitet neun Thesen, um die Fähigkeit von Comics zur Entstehung von Geschichtsbildern zu bewerten. So sei im Vergleich zum Film, die verhältnismäßige Gestaltungsbeschränktheit von Comics ein Vorteil. Sie könne sich dem Authentizitätssog des Kinos verwehren und somit eine Distanz zum Dargestellten aufbauen und die Lesenden anleiten weiterzudenken.
Den Comicautor*innen widmet sich Tanja Zimmermann, anhand mehrerer Comics, in denen diese als „Reporter und Seher“ (S.77) in ihren Geschichten auftreten, als Mediator*in zwischen Menschen und ihren Erzählungen. Zimmermann stellt dabei eine weitere Kompetenz von Comics heraus, sie könnten dynamisch vom „Historischen ins Poetische und aus dem Dokumentarischen ins Fiktiv-Imaginäre“ (S.92) wechseln und seien so geeignet gegenläufige Perspektiven und schwer Sag- und Zeigbares, Grauen und Traumata darzustellen.
Narration in Comics zur DDR-Geschichte untersucht Carolin Führer und unterscheidet zwischen Objekt-Authentizität (bei Pandel: Ereignisauthentizität), Individual-Authentizität (bei Pandel: Personenauthentizität) und der unzuverlässigen Authentizität. Objekt-Authentizität, die auf weitreichend bekannte Ereignisse oder Bilder zurückzugreifen muss, um Authentizitätsgefühle zu schaffen, bleibt eben dadurch stets in Meistererzählungen gefangen. Die unzuverlässige Authentizität hingegen schafft es, mit diesen Narrativen zu brechen. Im Comic „Treibsand“ spielen dafür etwa Erinnerungslücken des Journalisten und Protagonisten Sandman oder Unklarheit über Glaubwürdigkeit und Repräsentativität seiner Interviewpartner*innen eine Rolle. Ein Authentizitätsgefühl kann jedoch genau durch die Lücken und Fragen nach kollektiver Erinnerung hergestellt werden.
Der erste Beitrag mit Fokus auf ein Comicprodukt ist Maximilian Görmars Blick auf De- und Rekonstruktion anhand einer Ausgabe der DDR-Comiczeitschrift „Mosaik“ von 1966. In der Geschichte geht es um ein römisches Säulenmonument mit historischer Darstellung, dem die Protagonisten eine Säule mit einer Alternativerzählung entgegensetzen, in der ihrem Freund eine andere, angemessenere Rolle zukommt. Dabei, so stellt Görmar heraus, werden von ihnen mehrere Fähigkeiten –Sachkompetenz, Medienkompetenz und Empathiefähigkeit –angewandt. Zugleich steckt in der Geschichte, der DDR-Geschichtspolitik folgend, ein Akt gegen die herrschende Klasse und die Unterstützung von Unterdrückten.
Matthias Harbecks Auseinandersetzung mit dem Comic als Gegenstand der historischen Stereotypenforschung zeigt die zeitlich kaum gebrochene Reproduktion von ähnlichen Bildern von Afrika(ner*innen) in westlichen Comics, wie im „MAD-Magazin“, „Tim im Kongo“ oder aktuellen „Superman“-Heften. Die Akteur*innen sind häufig halbnackt, eine Binnendifferenzierung des Kontinents findet kaum statt und selbst positive Bilder bleiben vorurteilsbeladen. In diesem Sinne könnten Comicmacher*innen bei Fragen nach Repräsentanz bestimmter Gruppen und Machtverhältnissen von der Stereotypenforschung profitieren.
In „Bildergeschichten gegen den Krieg“ schaut Sylvia Kesper-Biermann auf Comics und Friedensbewegungen in den 1970er und 1980er Jahren. Häufig wurden dabei Raubcomics verbreitet, bei denen Panels aus bekannten Comics neu zusammengestellt und umgetextet wurden. So entstand 1983 „Asterix in Bombenstimmung“ aus der westdeutschen Friedensbewegung, in dem Ronald Reagan als Imperator Raketen im gallischen Wald positionieren will. Dieser Band ist jedoch auch stark selbstreferenziell, er beschreibt die Organisation und Auseinandersetzung über Widerstandsformen, und thematisiert die Abwesenheit der Frauen in Panels.
Der Sammelband ist ein wichtiges Werk für die Entwicklung der Comicforschung, was sich vielleicht auch dadurch zeigt, dass er mittlerweile vergriffen ist. Positiv hervorzuheben ist, dass die theoretischen Beiträge in den ersten beiden Kapiteln überwiegend niedrigschwellig an Grundbegriffe und Spannungsfelder der Comicforschung heranführen und für diese auch „klassische“ geschichtsdidaktische Modelle heranziehen. Dazu bietet die Vielzahl der enger zugeschnittenen Analysen konkreter Comicprodukte eine beeindruckende thematische Bandbreite.
Das Verhältnis von Comics zu und die Verhandlung von Authentizität(sstrategien) und die Verortung zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft ziehen sich durch eine Vielzahl der Beiträge, so dass sich manche Erkenntnisse wiederholen. Allerdings haben die Autor*innen versucht, diese Überschneidungen kenntlich zu machen und nehmen zum Teil aufeinander Bezug.
Mit den Abbildungen aus den jeweiligen Comics bemüht sich der Sammelband zwar die Analyse zu illustrieren, dennoch zeigt sich hier ein grundsätzliches Problem von Veröffentlichungen der Comicforschung. Die mehreren Ebenen eines Comics wiederzugeben und Erkenntnisse zu belegen ist in geschriebener Form schwer. Wo bei Vorträgen Analysen anhand von Bildpräsentationen unmittelbar deutlich werden, bleiben hier die Möglichkeiten eingeschränkt.