Die in den Dachauer Diskursen erschienene Veröffentlichung „,…weil ich selber so überrascht war, dass ich so wenig wusste.‘ Eine Studie über den Unterricht zum Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocaust“ beschäftigt sich mit der Thematisierung des Schicksal der Sinti und Roma im Schulunterricht. Obwohl „dem Holocaust an den Sinti und Roma eine halbe Million Menschen zum Opfer [fielen]“ (S.11), klaffen in der Bildungsarbeit große Defizite. Es mangelt beispielsweise an Unterrichtsmaterialien sowie an ausreichender Ausbildung der Lehrkräfte. Erst zu Beginn der 1980er-Jahre wurde der nationalsozialistische Völkermord an den Roma und Sinti durch die Bundesregierung als solcher anerkannt (vgl. S.25). Diese späte Anerkennung erfolgte nach langanhaltenden Kämpfen um die Anerkennung der Leidensgeschichte der Minderheit.
Den Defiziten im Bildungsbereich werden Materialien im Internetportal „Das Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocaust“ entgegengesetzt. Auf Grundlage dieses Portals entstand die vorliegende Studie.
Ein Blick in das Portal ist unerlässlich, um über die Studie sprechen zu können. Unterteilt in sechs Themengebiete – zum Beispiel „Roma und Sinti vor dem Zweiten Weltkrieg“, „Während der Nazi-Herrschaft“ oder „Die Überlebenden“ –, werden umfangreiche Lehrmaterialien in Form thematischer Arbeitsblätter zur Verfügung gestellt. Eine Auswahl der Arbeitsblätter wurde im Buch untergebracht, so dass ein Eindruck des Projektes gewonnen werden kann. Es findet sich auf dem Portal zudem eine interaktive Übersicht über Lager, in denen Roma und Sinti untergebracht und ermordet wurden. Hierbei werden auch Massaker wie etwa im ukrainischen Babyn Yar (heutige Ukraine) angeführt. Auch hier sind die einzelnen Themen durch Arbeitsblätter zugänglich gemacht worden. Dabei finden sich Fragestellungen ebenso wie Hintergrundinformationen. Diese werden für Lehrer*innen zudem durch ein Handbuch (PDF) ergänzt.
Wie die Herausgeber Holger Knothe und Robert Sigel zu Protokoll geben, solle über die Entstehungsgeschichte der Materialien nicht detailliert gesprochen werden, jedoch sei ihr Hintergrund sicher spannend. Laut Knothe und Sigel umfasst die Entstehung „als Ausgangspunkt das Gespräch mit Organisationen der Rom*nja und Sinti*zze, Erprobungsphasen, sowie Workshops mit Lehrenden und Lernenden aus dem schulischen und außerschulischen Bereich“ (S.30). Zudem wird auch der Blick auf die Zielgruppe geklärt: Lehrende und Lernende in schulischen Bildungsprozessen, jedoch ist der Einsatz durchaus auch in außerschulischen Bildungszusammenhängen möglich, beispielsweise in Gedenkstätten.
Wie Lehrer*innen die Bildungsmaterialien betrachten und welche Schwachpunkte das Portal aufweist, hat Robert Sigel in seinem Studienbeitrag „Schulische Bildung als gesellschaftlicher Rettungsdienst“ dargestellt.
Als wesentliches Ziel der beschriebenen Materialien nennen Knothe und Sigel, das in der Mehrheitsgesellschaft verankerte Bild des „Zigeuners“ hinsichtlich seiner zugrundeliegenden Vorurteile und Stereotype zu dekonstruieren. Der Schwerpunkt wird dabei auf die bildliche Darstellung gelegt, um den Bildern im Kopf andere Bilder entgegenzusetzen (vgl. S.31).
Das Erkenntnisinteresse der Studie liegt den Autoren zufolge denn auch darin, „die Beschreibung und Analyse der Tauglichkeit der Unterrichtsmaterialien für Schulen in Bayern aus Sicht der Lehrkräfte und der Schüler_innen“ (S.33) zu ermitteln. Zudem sollen die damit verbundene Unterrichtspraxis sowie „schulische Kommunikation über Sinti und Roma, die Bemühungen einer Dekonstruktion vorhandener Vorurteile sowie die möglichen Fallstricke“ (S.33) ermittelt und analysiert werden.
Zu diesem Zweck befragten die Autoren 34 Lehrkräfte und Schüler*innen an bayerischen weiterführenden Schulen (16 Lehrer*innen, 18 Schüler*innen). Die Stichprobengröße sowie die Beschränkung auf vier Regierungsbezirke bildet – wie die Autoren selbst anmerken – keine statistische Repräsentation für ganz Bayern. Ziel sei es gewesen, „Narrationen zur schulischen Interaktion über diese Themen in ihrer Komplexität und partiell auch Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren, um diese im Licht der gegenwärtigen wissenschaftlichen Fachdebatte zu erörtern“ (S.38).
Im Folgenden befassen sich die Beiträge von „…weil ich selber so überrascht war, dass ich so wenig wusste“ mit Ergebnisschwerpunkten der Studie. Michael Rothmund evaluiert in seinem Aufsatz „Endlich gibt’s des!“ den Einsatz des Materials von „Das Schicksal europäischer Sinti und Roma“ im Schulunterricht. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Evaluierung „nicht von den spezifischen An- bzw. Herausforderungen der Institution Schule“ (S.52) getrennt werden könne. Der Einsatz der Materialien sei dementsprechend als ein dreifaches Projekt zu verstehen: moralpädagogisch, schuldidaktisch und offen konzipiert (vgl. S.53). Alle drei Herausforderungen bedingen sich jedoch gegenseitig und können nicht getrennt voneinander gedacht werden.
Rothmund hebt zudem hervor, dass die Materialien sich als äußerst anpassungsfähig erweisen, lassen sie sich doch in unterschiedlichen Schulformen einsetzen und in unterschiedlichen Unterrichtsideen einbauen: „von Projekttagen bis inhaltlichen Ergänzungen als Erweiterung des regulären Geschichtsbuchs, vom Ethik- bis zum Geschichtsunterricht, von der Förderschule bis zum Gymnasium, von der siebten Jahrgangsstufe bis zur Oberstufe (S.54).“
Den Fokus auf die Sprache legen Christian Franke, Christina Müller und Viktoria Rösch. Die Autor*innen stellen einmal mehr fest, dass die fehlende Thematisierung der Verfolgung von Sinti und Roma gleichzeitig dazu führt, „dass das Thema in weiten Teilen der Gesellschaft nicht präsent bzw. nicht aufgearbeitet wird“ (S.58). Somit ist auch das Vorwissen der Schüler*innen geprägt von antiziganistischen Bildern und Vorurteilen. So konnten die Schüler*innen häufig erst einen Bezug zum Thema herstellen konnten, wenn das Wort „Zigeuner“ ins Spiel gebracht wurde. Daher lautete die Leitfrage der Autor*innen, wie sich die Vorstellungen über Roma und Sinti im Unterrichtsgespräch aktualisieren.
Hierfür analysierten Franke, Müller und Rösch die Beschreibungen zu Beginn der Unterrichtseinheiten. Geprägt von Stereotypen wird hier häufig von „Menschen mit dunkler Hautfarbe und schwarzen Haaren, die Frauen unter ihnen in Tücher und Röcke gekleidet, die in Großfamilien zusammen leben und Hunde halten“ (S.64) gesprochen. Negative Zuschreibungen wie Aggressionen und Kriminalität gehören ebenfalls zum Bild der Schüler*innen.
Hier setzen die Autor*innen ihre Kritik an, dass durch die Reproduktion dieser Stereotype während der Unterrichtseinheit es zur Verfestigung dieser kommen könne, auch wenn die Intention eine andere sei. Die Schüler*innen beginnen zudem, zwischen „Zigeunern“ und „Sinti und Roma“ zu unterscheiden und dabei die Kategorien „gut“ und „schlecht“ zuzuordnen. Die Autor*innen stellten weiter fest, dass die Sprecher*innenposition meist eine klare Abgrenzung zum (meist) deutschen „Wir“ zieht (S.67). Es findet also eine Hierarchisierung der Bezeichnungen statt. Das faktische Wissen über Sinti und Roma habe sich zwar verbessert, jedoch eher über die historische, denn über die aktuelle Situation. Insbesondere die Art und Weise, wie über Sinti und Roma gesprochen werde, stehe in engem Zusammenhang damit, „wie die Lehrkräfte die Unterrichtssituation für sich gestalten“ (S.68). Dennoch plädieren die Autor*innen dafür, das Thema im Unterricht zu behandeln. Dabei sei es jedoch notwendig, die Strukturen hinter den Ressentiments aufzudecken und zu hinterfragen.
Ganz in diesem Duktus geht Philipp Rhein der grundsätzlichen Frage nach, ob die Schule eine „Erziehung nach Auschwitz“ leisten kann. Im Sinne Adornos fragt er nach der Bedeutung des Holocaust für die Erziehung bzw. Bildungsarbeit und den (Schul-)Unterricht im Besonderen. Rhein plädiert für eine Abwendung von dem Zwang, die Bildung über den Holocaust in den schulischen Rahmen zu zwängen. Er sieht die Schüler*innen im Konflikt zwischen dem schulischen Leistungszwang und einer moralischen-politischen Erziehung, da nur eine dieser Logiken aufgelöst werden könne (S.102). Die Reflexion des Einzelnen sei dabei durchaus beachtenswert.
Wie die Vermittlung von Lehrer*innenseite konkret aussieht, betrachten Holger Knothe und Mirko Broll in ihrem Beitrag „Zwischen Faktenwissen und Betroffenheit“ sowie Tristan Holzapfl und Miriam Kronester in ihrem Aufsatz „Praxen der Vermittlung von Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust“.
Knothe und Broll konnten bei den Lehrkräften formulierte Lernziele feststellen: die Fähigkeit zur Selbstreflexion des eigenen Handelns und der eigenen Vorurteile sowie Betroffenheit angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust (S.107). Der Erwerb von reinem Faktenwissen spiele demgegenüber tendenziell eine untergeordnete Rolle (S.113). Es wird eher als „Mittel zum Zweck“ gesehen.
Doch wie kommt das Wissen zu den Schüler*innen? Holzapfl und Kronester halten fest, dass die erfahrungsbasierte Vermittlung in der Regel „als notwendig erachtet [wird], um die genannten Lernziele zu erreichen und dem Gegenstand gerecht zu werden“ (S.123). Dies wird meist durch die bildhafte Darstellung – zum Beispiel Filme – versucht. Auch die Einladung von Zeitzeug*innen in den Unterricht erfreue sich großer Beliebtheit, so Holzapfl und Kronester. Gedenkstättenbesuche werden ebenfalls dieser Kategorie zugeordnet.
Die Autor*innen gehen der Frage nach, wie bei diesem Weg der Vermittlung das Gleichgewicht zwischen Kognition, Emotion und Moral beibehalten werden kann. Sie setzen die Szenarien der Überemotionalisierung, Übermoralisierung und der Vernachlässigung von kognitiven Verstehen (S.125) den zuvor genannten Lernzielen gegenüber. Laut Holzapfl und Kronester kann dies vermieden werden, indem die einzelnen Ansätze, beispielsweise Gedenkstättenbesuche und das Erlernen von Faktenwissen, auf sinnvolle Art und Weise miteinander verknüpft werden.
Die Studie „…weil ich selber so überrascht war, dass ich so wenig wusste“ bietet einen umfangreichen Einblick, wie speziell auf ein (Unterrichts-)Thema zugeschnittene Materialien funktionieren (können). Es werden unterschiedliche Schwerpunkte wie etwa die Sprache und ihr Einsatz ausführlich beleuchtet. Das Erläutern der Vorgehensweise macht die Studie klar nachvollziehbar. Nicht nur potentielle Nutzer*innen des Internetportals „Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocaust“ können von der Lektüre profitieren; Allgemein können Lehrer*innen bzw. Kräfte der außerschulischen Bildungsarbeit Impulse aus der Lektüre der Beiträge ziehen.