Das Radio knistert, und schon ruft einem die Stimme Philipp Scheidemanns entgegen und ruft die Republik aus: „Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. (...) Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!“
So beginnt das Hörfeature „Die ungeliebte Demokratie. Die Weimarer Republik zwischen rechts und links“ von Hans Sarkowicz und dieser greift gleich quellenkritisch auf, dass die Aufnahme nicht vom 9. November 1918 stammt, sondern vierzehn Monate später aufgenommen wurde und somit vermutlich auch nicht den Wortlaut vom Reichstagsbalkon wiedergibt.
Sarkowicz hat für sein Feature eine Reihe von O-Tönen, unter anderem von Arnold Schönberg, Thomas Mann, Isolde Kurz und Alfred Döblin gesammelt und vom Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel und dem Historiker Ulrich Herbert kommentieren lassen.
In knapp drei Stunden zeichnet Sarkowicz, Leiter des Bereichs Literatur und Hörspiel bei HR2, die politischen Grenzlinien, Debatten und Kämpfe nach und verbindet diese mit den gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen. Die beiden Kommentatoren sind somit klug gewählt. Und auch das Medium ist angesichts der Bedeutung des Radios und Schallplatten für die politische Meinungsbildung in der Weimarer Republik, nicht antiquiert, sondern mehr als passend.
Chronologisch werden die Hörer*innen von der Novemberrevolution und den Nationalversammlungswahlen zu den Putschversuchen und der Inflation 1923 geleitet. Sarkowicz gelingt es dabei politische Positionen und deren Einordnung mit in Musik und Literatur ausgedrückten Stimmungen zu kombinieren. So folgt Herberts Erklärung der Inflation und deren Ende durch die Einführung der Rentenmark ein optimistisch-fröhliches Turngedicht Joachim Ringelnatz, dessen blumige Worte eine goldene Zukunft prophezeien. Ohne Unterbrechung stellt Sarkowicz diesem den versuchten Hitler-Putsch entgegen und zeigt so kontinuierliche Unsicherheiten und schnelle Stimmungswandel auf. Das Feature lässt keinen Kabinettswechsel, keine Partei, kein prägendes Ereignis, keine*n wichtige*n Akteur*in aus. Die fünfzehn Jahre Weimarer Republik liefern somit viel Material, dass berücksichtigt werden will. Insbesondere durch Ulrich Herbert kommt zum Ende des Hörstücks die Botschaft hervor, dass die Weimarer Republik, bei all ihren Unsicherheiten und Kämpfen in Teilen durchaus ein demokratisches Lehrstück gewesen sei. Die letzten Worten bleiben Albert Einstein und erhalten somit die Kraft eines moralischen Appels: „Ich bekenne mich zum Ideal der Demokratie, trotzdem mir die Nachteile demokratischer Staatsform wohlbekannt sind. Sozialer Ausgleich und wirtschaftlicher Schutz des Individuums erschienen mir stets als wichtige Ziele der staatlichen Gemeinschaft. Ich bin zwar im täglichen Leben ein typischer Einspänner, aber das Bewusstsein, der unsichtbaren Gemeinschaft derjenigen anzugehören, die nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit streben, hat das Gefühl der Vereinsamung nicht aufkommen lassen.“
Die Hörspielform, eine dichte Verwebung von historischen O-Tönen, der wissenschaftlichen Kommentierung und der Rahmung durch Sarkowicz ist abwechslungsreich und ansprechend gelungen. Besonders die Gegenüberstellung verschiedener Positionen, etwa von Gottfried Benn und Johannes R. Becher über die Frage nach politischer Aufladung ihrer Gedichte sind spannend gestaltet. Der große Wert liegt darin, dass jedes Zitat eine feste Funktion in Sarkowicz Erzählung der Weimarer Republik erfüllt und nicht nur kolorierendes Beiwerk ist. Das Feature hat keine Längen, sondern wartet mit jeder neuen Stimme mit neuen Informationen und Perspektiven auf. Gleichzeitig ist dadurch beim Hören höchste Aufmerksamkeit gefordert um die verschiedenen Positionen und Sprecher*innenebenen nachvollziehen zu können.
Vom Hessischen Rundfunk 2018 als dreiteiliges Feature ausgestrahlt, erschien „Die ungeliebte Demokratie“ kurz darauf als Doppel-CD und als MP3.