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Die 2018 erschienene Handreichung „Lokale Spurensuche im Themenfeld Demokratiegeschichte“ vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. bietet den Leser_innen keine fertigen Konzepte für eine historische Spurensuche vor Ort, sondern liefert Anregungen für die auf den individuellen Fall passende Vorgehensweise. Als roter Faden zieht sich durch die Broschüre, dass die Spurensuche sich auf die Geschichte von Personen und Orten bezieht, die demokratisch waren beziehungsweise sind oder einen Anteil zur parlamentarischen Demokratie oder demokratischen Handeln geleistet haben.
Thematisch ist die Broschüre weit gefächert und geht über die Recherche zu NS- und DDR-Geschichte hinaus, die – wie Annalena Baasch, Michael Parak, Dennis Riffel und Ruth Wunnicke in der Einleitung anmerken – den allergrößten Teil der Spurensuchprojekte in Deutschland ausmachen.
Drei Ansatzpunkte von Spurensuche – Personen, Orte und Jubiläen – gliedern die Handreichung. Alle elf Felder, in denen Spurensuche im lokalen Raum zu Demokratiethemen vorgeschlagen wird, werden kurz inhaltlich eingeführt, bevor mögliche Reflexionsfragen für die Forschenden als auch Fragen an mögliche Gesprächspartner_innen erläutert werden. Kurze Antworten auf inhaltliche Fragen helfen bei der Einordnung und bieten Ansätze für weitere Recherchen.
Nach einer kurzen Einführung in die Demokratiegeschichte und in die Handreichung wird zuerst eine Spurensuche zu demokratieförderndem ehrenamtlichen Engagement im lokalen Raum vorgeschlagen. Dabei erläutern die Autor_innen welche Formen von Engagement es gibt, das aufgezeigte Spektrum reicht von der Spende über Freiwilligendienste hin zu Engagement im politischen Bereich. Anhand der Methode der Oral History könne mehr über die Geschichte und Formen des Engagements in Ort oder Region erfahren werden. Neben der Präsentation der Forschungsergebnisse wird auch angeregt, Wege zur Würdigung der Ehrenamtlichen einzubinden.
An vielen Stellen der Handreichung, insbesondere aber im Kapitel zu Demokratie in Behörden, Institutionen und Ämter wird die Kritik- und Reflexionskompetenz der Nutzer_innen angesprochen, etwa wenn die eigenen Bilder von Beamt_innen hinterfragt werden sollen. Besonders hervorzuheben ist hier das Fragen nach dem Umgang mit möglichen Konflikten zwischen Staat und Beamt_innen und der Frage nach staatlicher Erinnerung an Menschen, die bewusst gegen Dienstanweisungen verstoßen haben.
Als historischer Anknüpfungspunkt wird Otto Küster vorgestellt, der 1954 seine Arbeit verlor, da ihm vorgeworfen wurde bei seinen Entscheidungen in NS-Entschädigungsfällen die Interessen des Finanzministeriums zu übergehen.
Projekte zu Parlamentsabgeordneten können unter anderem darauf abzielen, Vorurteile gegenüber Politiker_innen abzubauen und durch die Würdigung ihrer Leistungen bei Aufbau und Umsetzung des demokratischen Systems die gefühlte Distanz zur Bevölkerung abzubauen. Die Forschung zu Zugehörigkeit und Vorgehen der Abgeordneten erfolgt hier im Sinne der lokalen Spurensuche zum jeweiligen Wahlkreis bzw. dem historisch eventuell anderem Zuschnitt. Neben allgemeinen Literaturhinweisen finden die Nutzer_innen Recherchehinweise zu jedem Bundesland.
„Demokratie im Exil“ nimmt Menschen in den Blick, die „nicht- oder scheindemokratische Staaten“(S.37) verlassen haben und sich in Deutschland – als Auswanderungs- oder Einwanderungsland – demokratisch engagiert haben.
Dass neben dem Einfluss der Migrationserfahrung auf das Engagement auch vorgeschlagen wird, nach der Selbstbezeichnung der ausgewanderten Interviewpartner_innen zu fragen und diese zum Thema zu machen, ist wichtig. Noch mehr Informationen oder Literaturverweise zu den verschiedenen Bezeichnungen wären an dieser Stelle hilfreich gewesen.
Drei weitere akteursbezogene Kapitel widmen sich dem demokratischen politischen Widerstand im 19. Jahrhundert und 1918/19, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Opposition und Widerstand in der DDR und zuletzt Gesellschaftskritiker_innen. Als spannendes Beispiel wird unter anderem der Aufstand vom 17. Juni 1953 angeführt, an dessen Würdigungsgeschichte sich Konflikte um Erinnerung gut erkennen lassen.
Auf wenigen Zeilen widmet sich die Broschüre der Frage von Verklärung von Widerstand, eine wichtige Frage für das aktive Erinnern. Reflexionsfragen für forschende Gruppen zur Ambivalenz von Widerstand beziehungsweise von Akteur_innen wären hier wünschenswert um etwa zu diskutieren wie demokratisch der bürgerlich-militärische Widerstand der Gruppe des 20. Juli 1944 war.
Nicht ohne Probleme ist die durchgehende Nennung von „Demokratinnen und Demokraten“ als Akteur_innen in verschiedenen Kontexten und Zeitabschnitten.
Zwar wird im Kapitel zu Revolutionär_innen und Freiheitskämpfer_innen von 1848/49 und 1918/19 die Frage aufgeworfen inwiefern sich das Demokratieverständnis mit der Zeit verändert, eine ausführlichere Beschäftigung mit der Frage was Demokrat_innen ausmacht und auch wer nicht als Demokrat_in angesehen wird, hätte jedoch auch ausführlicher als in der Einleitung vorgenommen werden können. Gerade um demokratische Werte zu stärken, sollte im pädagogischen Setting besprochen werden, was Demokratie für die Teilnehmenden bedeutet.
Dass eine Spurensuche auch über den Weg konkreter Orte funktionieren kann, zeigen die ausführlichen Hinweise und Empfehlungen zu Plätzen und Straßen und ihren Namen. Vielschichtig kann der Geschichte des Ortes, der Geschichte des im Namen enthaltenen erinnerten Ereignis oder der erinnerten Person, dem Bezug zwischen Ort und Name sowie der Geschichte der Benennung nachgegangen werden. Anhand der namentlichen Ehrung kann auch sehr gut aufzeigt und diskutiert werden, wie und warum Kämpfe um Erinnerung ausgetragen werden. Die hier vorgeschlagenen Projektformate, etwa eine Simulationskonferenz zu Straßenumbenennungen oder die Erstellung eines alternativen Stadtplans mit gewünschten Umbenennungen gehören zu den kreativsten in der Handreichung.
In ähnlicher Richtung befasst sich ein Kapitel zu Erinnerungskultur in Form von Denkmälern, in dem neben der Geschichte des Erinnerten und der Geschichte des Denkmals auch die Frage nach der Zeitgemäßheit von physisch unveränderbaren Denkmälern gestellt wird.
Als dritte Form von Orten wird die Spurensuche zu Häusern der Demokratie vorgeschlagen, wobei hiermit nicht nur Rathäuser gemeint sind, sondern auch Häuser deren primäre Funktion eine andere war oder ist, aber in denen Demokratiegeschichte stattgefunden hat, etwa die Frankfurter Paulskirche.
Dass sich Jahrestage und Jubiläen – nicht zuletzt wegen der hohen Aufmerksamkeit für eine Projektveranstaltung – auch für die lokale Spurensuche eignen zeigt das letzte Kapitel. Zu den drei großen deutschen Demokratiejubiläen diesen Jahres, den Nationalversammlungswahlen 1919, der Gründung der Bundesrepublik 1949 und besonders ausführlich zum Fall der Mauer 1989 schlägt die Handreichung Themen und Fragestellungen für eine Recherche zur Ortsgeschichte vor. Bei gleichzeitigem Hinweis, dass Jubiläen in Form von Martin Luther-Socken auch eine Zumutung sein können, unterstreichen die Autor_innen die Bedeutung von Jahrestagen für die kollektive Erinnerung und die Chance neue Debatten anzustoßen.
Die Handreichung ist für Ehren- und Hauptamtliche die eine Spurensuche in ihrem lokalen Raum anstoßen möchten eine Bereicherung und bewegt sich ausgeglichen zwischen Inspiration und konkreter Unterstützung. Das Aufzeigen von demokratischen Prozessen in der Geschichte, sei es über den Weg von Personen, Orten oder Jahrestagen, aber auch deren Bedeutung und Fortbestehen heute gelingt durch die Vielfalt der vorgestellten Themenfelder.
Äußerst positiv hervorzuheben ist der Versuch für jede Art von Spurensuche die passenden Methoden, etwa Oral History, Recherche in Zeitungs- oder Stadtarchive oder Expert_innenbefragung, vorzuschlagen und teilweise weitreichende Recherche- bzw. Interviewfragen mitzuliefern.
Eine wertvolle Anregung ist auch, dass zu jedem Themenkomplex Formate zur Präsentation der Ergebnisse vorgeschlagen werden. Deren Bandbreite und Kreativität – vom Pubquiz, öffentlichen Zeitzeugengesprächen über Geocaching und Zeitungssonderausgaben zu Publikationen und Ausstellungen – sind große Stärken dieser Publikation. Dafür ist es jedoch empfehlenswert, nicht nur einzelne Kapitel zu lesen, sondern in jedem der elf Themen zumindest den jeweiligen Unterpunkt anzusteuern.
An ein paar Stellen hätte den Nutzer_innen insbesondere bei der kritischen Reflexion und den Ambivalenzen des gewählten Themas noch mehr unter die Arme gegriffen werden können. Dass die Broschüre mit ihren 96 Seiten kompakt geblieben ist, hat jedoch auch seine Vorteile und zu vielen Aspekten gibt es weiterführende Lesetipps. Somit kann „Lokale Spurensuche im Themenfeld Demokratiegeschichte“ sowohl Neulingen als auch Erfahrenen in Spurensuchprojekten, bei der Initiierung oder beim Feintuning der Abläufe eine große Hilfe sein.
Die Handreichung kann hier heruntergeladen werden.