Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Im Projekt „überLAGERt“ begeben sich Jugendliche in einem mehrmonatigen Projekt aus verschiedenen Orten Brandenburgs in ihrer Stadt, ihrem Dorf auf historische Spurensuche, um die Geschichte der KZ-Außenlager zu erforschen. Wo waren die Lager, welche Spuren sind erhalten? Wer waren die Menschen, die dort von den Nazis inhaftiert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten? Haben sie überlebt? Wie hat sich die ortsansässige Bevölkerung verhalten? Wie wird heute mit dieser Geschichte umgegangen? Partizipativ und selbstbestimmt forschen Jugendliche zur NS-Geschichte in ihrem Ort. Sie eignen sich Wissen an, beschäftigen sich mit den eindeutigen Opfer- und Täterschaften, aber auch mit dem Uneindeutigen, den Mechanismen des Zustandekommens der Naziherrschaft, des Mitläufertums, des Widerstands im Kleinen, den Handlungsspielräumen Einzelner im humanistischen wie im menschenfeindlichen Sinn. Sie nutzen den Blick zurück, den Blick auf die heutigen Deutungen, auf das im Projekt differenziert angeeignete Wissen, die Diskurse in der Gruppe und mit der (lokalen) Öffentlichkeit um ihre eigene Position zu finden. Prozesshaft mischen sie sich Stück für Stück in lokale Diskurse ein und gestalten die Erinnerungskultur im ländlichen Raum Brandenburgs aktiv mit.
Das Projekt „überLAGERt- lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager“ verbindet Jugend- und Erinnerungsarbeit, initiiert auf lokaler Ebene neue Gedenkinitiativen und trägt zu ihrer Vernetzung, Professionalisierung und Außenwirkung bei. Wir stehen am Beginn des Projekts und möchten die Konzeptansätze gerne mit der Leser_innenschaft des LaG-Magazins teilen. Unserer Auffassung nach Bedarf die Auseinandersetzung mit dem NS-Terror auch des Wissens um die konkreten Ereignisse und Schicksale im eigenen Sozialraum. Sie generieren die Fragen nach dem Warum, nach den persönlichen Entscheidungsspielräumen und –zwängen, nach dem „Was wäre wenn?“ und bestenfalls in der Reflexion die Wertschätzung der Demokratie sowie die Motivation diese mitzugestalten.
Das Projekt richtet sich an Jugendliche von 14 bis 27 Jahren mit Wohnsitz in Brandenburg, insbesondere im ländlichen Raum und an Menschen, die selbst dem Thema gegenüber aufgeschlossen sind und den Jugendlichen längere Zeit als Projektbegleiter_in verlässlich zur Seite stehen.
Bis zu 15 Gruppen können bis August 2021 unterstützt werden. Individuelle Hintergründe der einzelnen Teilnehmer_innen entsprechen unserem Leitbild einer bereichernden Vielfalt. Die Stärken Einzelne_r und multiperspektivische Ansätze kommen dadurch besonders zum Tragen. Die lokalen Träger werden sensibilisiert, insbesondere auch solche Jugendliche zur Teilnahme am Projekt einzuladen, die Schule vordergründig als hierarchisch organisiertes System mit starkem Leistungsdruck erfahren. Diese Jugendlichen haben in einem außerschulischen Projekt stärkere Entfaltungsmöglichkeiten und entwickeln, durch die selbstgewählte Teilhabe, intrinsische Motivationen.
Da es sich um ein Projekt im Gemeinwesen handelt, richten sich Teile des Programms auch an Multiplikator_innen, die das Engagement der Jugendlichen vor Ort unterstützen und den intergenerationellen Austausch anregen. Vor allem Fachkräfte der Jugendarbeit können mit dem Ansatz Identitätsbildungs- und Beteiligungsprozesse Heranwachsender unterstützen.
Im Nationalsozialismus gab es ein weit verzweigtes Netz von Konzentrations-, Außen- und Zwangsarbeitslagern. Allein auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Brandenburg gab es etwa 60 KZ-Außenlager und schätzungsweise über 1.000 Zwangsarbeitslager. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die Verbrechen des Nationalsozialismus jedoch nahezu ausschließlich mit den zentralen Gedenkorten in Verbindung gebracht. In Brandenburg sind dies insbesondere die KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Über die Geschichte der KZ-Außenlager gibt es hingegen – gerade im ländlichen Raum – nur wenig Wissen. Die Spuren der Lager sind vielerorts überlagert: verdeckt, überbaut oder unterliegen einer anderen Nutzung. Nur vereinzelt haben – in der Regel ehrenamtliche - Initiativen, engagierte Wissenschaftler_innen oder Ortschronist_innen historische Spuren erforscht und sich auf lokaler Ebene der Gedenkarbeit verschrieben. Jugendliche sind in diese Prozesse selten eingebunden oder passive Empfänger_innen von aufbereitetem Wissen. Gleichwohl werden im kommunalen, zumeist familiären Kontext Erinnerungen an den Nationalsozialismus tradiert. Diese sind jedoch bisweilen einseitig, werden unreflektiert kommuniziert und nicht mit den historischen Prozessen in Beziehung gesetzt: Die nationale Geschichte wird mit der Geschichte vor Ort kaum in Verbindung gebracht. Der Einsatz von Zwangsarbeit in der Region und persönliche Verstrickungen in das KZ-System werden bisweilen verharmlost. Jugendliche haben kaum eine Möglichkeit, sich unvoreingenommen damit auseinanderzusetzen und zu positionieren, da ihnen Kontextwissen fehlt und die Perspektiven der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen in lokalen Diskursen kaum repräsentiert sind.
Oftmals besuchen Jugendliche im schulischen Rahmen KZ-Gedenkstätten und sind, sofern dies zur Sprache kommt, überrascht zu hören, dass es in ihrer unmittelbaren Umgebung KZ-Außenlager gegeben hat. Dabei birgt gerade die Auseinandersetzung mit den KZ-Außenlagern besondere Potentiale für die historische Bildung: Das Wissen um die unmittelbare Nachbarschaft von KZ-Außenlagern zu ihrer jeweiligen Umgebungsgesellschaft steht der weit verbreiteten Annahme entgegen, man habe „von nichts gewusst“. Von Ausnahmen abgesehen, wurde der Geschichte der KZ-Außenlager weder im jeweiligen lokalen Kontext noch der Erinnerungskultur der Bundesrepublik eine nennenswerte Rolle zuteil. Vielfach wird im wissenschaftlichen Diskurs sowohl der (mitunter unsensible) Umgang mit den historischen Orten beklagt, als auch die besondere Chance der Auseinandersetzung mit diesen Orten betont. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang der Historiker Wolfgang Benz zitiert: „Die Außenlager vermitteln einmal Einblick in das Wesen der Gewaltherrschaft, die nicht als zentraler Moloch, sondern als allgegenwärtige Erscheinung auftrat. Die Außenlager vermitteln darüber hinaus Kenntnis über die Morphologie und Genese des KZ-Systems. Zu erfahren ist am Beispiel der KZ-Dependance innerhalb alltäglicher Lebenswelt […] viel über Interaktion zwischen KZ-Kosmos und ziviler Umwelt. Wissen und Bewußtsein der Zivilbevölkerung, ihre Reaktionen auf die Ausprägung von Terror und Gewalt im unmittelbaren individuellen Umfeld sind am Objekt KZ-Außenlager besser zu konkretisieren als an anderen Erscheinungsformen nationalsozialistischer Herrschaft. Deshalb spielen die Außenlager auch in der Erinnerungsarbeit als lokal darstellbare und vermittelbare Phänomene eine bedeutende Rolle.“ [Benz 1999: 16]
Obschon anzuerkennen ist, dass die KZ-Außenlager in Brandenburg als Bodendenkmäler anerkannt und unter Schutz gestellt sind, ist auf politischer und pädagogischer Ebene kaum etwas unternommen worden, um die komplexe Geschichte der KZ-Außenlager aufzuarbeiten. Nach wie vor sind Fortschritte in dieser Hinsicht dem Engagement Einzelner zu verdanken. Dabei stellt auch die Brandenburger Landesregierung in ihrem Gedenkstättenkonzept fest: „Das Wissen um die vielen Zwangsarbeitslager im Land Brandenburg ist nach wie vor fragmentarisch“ [Landtag Brandenburg 2009: 35]. Die Landesregierung betont: „Die Darstellung der Geschichte der Außenlager und der Zwangsarbeit kann durch den engen Kontakt zur örtlichen Bevölkerung bei der Arbeit außerhalb der Stammlager eindrücklich zeigen, dass das Lagersystem kein abstrakter fernab gelegener, unsichtbarer Kosmos, sondern eine im Alltag der Menschen ständig präsente Erscheinung war.“ [Landtag Brandenburg 2009: 50] Nicht zuletzt weist die Landesregierung auf die besondere Bedeutung von Jugendlichen zur Aufarbeitung der Geschichte der KZ-Außenlager hin, jedoch fehlt es an einem Handlungskonzept mit konkreten Maßnahmen.
Besondere Chancen in der Arbeit mit Jugendlichen in den Strukturen der Jugendarbeit ergeben sich aus unserer Sicht insbesondere in folgender Hinsicht:
Jugendliche haben einen anderen Zugang zum Thema:
Durch die Anbindung an ihre unmittelbare Lebenswelt und Gegenwartsfragen können Jugendliche einen unmittelbaren Bezug zum Thema herstellen (Was war in meinem Ort? Wie wird in meiner Stadt, meinem Dorf mit der NS-Geschichte umgegangen? Welche Bezüge gibt es zum Heute?)
Jugendliche haben einen anderen Zugang zum Ort:
Durch die Einbindung in die sozialräumlichen Strukturen haben Jugendliche einen Zugang zu historischen Quellen und möglichen Interviewpartner_innen, der Wissenschaftler_innen oft versperrt bleibt. Jugendlichen gegenüber wird weniger skeptisch begegnet: erwirkt wird ein generell offenerer Umgang mit dem Thema in den Kommunen.
Jugendliche setzen neue erinnerungspädagogische Impulse:
Durch Eigeninitiative und Kompetenzen von Jugendlichen werden weniger Formen ritualisierten Gedenkens, sondern kreative und kulturell diverse Ansätze der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ermöglicht bzw. vorhandene tradierte Formen der Erinnerungskultur als angemessen adaptiert.
Die große Chance des Projektes liegt darin, Räume für Jugendliche zu schaffen, in denen eine Annäherung an das Thema und die Möglichkeit zur fachlich begleitenden Auseinandersetzung überhaupt gegeben ist. Auf diese Weise können die unterschiedlichen Perspektiven und Lesarten überhaupt wahrgenommen werden, Projektbegleitende können Haltung zeigen, zu Diskussionen anregen, aber auch bestehende Unsicherheiten aufzeigen. Es kann ein „neuer“ Weg sein die Erinnerung wach zu halten, sie konkret zu machen, sie nicht durch rechtspopulistische und extrem rechte Hetze und menschenfeindliches Agieren erneut zu überlagern, missbrauchen zu lassen.
Insbesondere die brandenburgischen Leser_innen, ob Pfarrer_in, Sozialarbeiter_in, Lehrer_in, oder, oder, oder möchten wir aufrufen, nach Möglichkeit mit Jugendlichen aus dem Sozialraum, in dem sie selbst leben, als überLAGERt-Gruppe mitzumachen bzw. uns ihr Interesse zur Teilnahme zu bekunden.
Das Projekt „überLAGERt – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger lokaler KZ-Außenlager in Brandenburg“ ist ein Kooperationsprojekt der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, des brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege, der Stiftung Großes Waisenhaus zu Potsdam und dem Landesjugendring Brandenburg e.V. Es wird von der Beratungsstelle Zeitwerk im LJR Brandenburg mit fachlicher Unterstützung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, des Museums und Gedenkstätte Sachsenhausen umgesetzt. Gefördert wird das Projekt von der Aktion Mensch, der Kurt und Herma Römer Stiftung und der F.C. Flick Stiftung.
Benz, Wolfgang: Die Allgegenwart des Konzentrationslagers, in: Dachauer Hefte, Bd. 15, Jg. 1999.
Landtag Brandenburg: Geschichte vor Ort: Erinnerungskultur in Brandenburg von 1933 – 1990, Drucksache 4/7529, 2009, S. 50 f.