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Das Projekt überLAGERT will junge Menschen dazu anregen, die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer eigenen Lebenswelt in kollektiven Prozessen zu erforschen und zu reflektieren. Im Fokus stehen dabei Orte ehemaliger KZ-Außenlager, die über Brandenburg verstreut liegen. Methodisch dienen diese Orte dabei als eine Art materielle Anker im Raum: Von hier aus sollen die jeweiligen Forschungs- und Reflexionsprozesse ihren Ausgang nehmen; die Ergebnisse sollen dann auf kreative Weise in die lokale und regionale Öffentlichkeit getragen werden.
„Historische Spurensuche“ und „entdeckendes Lernen“ vor Ort – mit diesen Ansätzen verweist überLAGERt in vieler Hinsicht auf die sogenannte Neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre. Unter dem Motto „Grabe, wo du stehst“ begannen damals Bürger_innen aus dem linken und linksliberalen Milieu, Geschichte lokal und „von unten“ zu schreiben. Ein Schwerpunkt lag auf der Erforschung der NS-Vergangenheit.
Diese Art der Geschichtsarbeit wurde damals allerdings nicht nur als besonders anschauliche Form des historischen Lernens verstanden, sondern vor allem als ein gesellschaftspolitisches Projekt. Im Folgenden möchte ich daher noch einmal an die dezidiert politischen Motive der damaligen Akteur_innen erinnern. Dabei geht es mir nicht um Traditionsstiftung. Vielmehr denke ich, dass eine Auseinandersetzung mit ihren „Vorgänger_innen“ für heutige Projektteilnehmer_innen nicht nur interessant, sondern auch eine Anregung sein kann, die eigenen Anliegen zu reflektieren: Warum beschäftigen wir uns hier und heute mit diesen Orten?
„Grabe, wo du stehst“ – unter diesem Motto gründeten sich seit den späten 1970er-Jahren in Westeuropa und den USA zahllose sogenannte Geschichtswerkstätten. Ursprünglich handelte es sich um den Titel eines „Handbuches zur Erforschung der eigenen Geschichte“, das der schwedische Sachbuchautor Sven Lindqvist 1978 veröffentlichte (Lindqvist 1991).
Darin rief Lindqvist schwedische Arbeiter_innen dazu auf, die Geschichte ihrer eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu erforschen. Die historische Deutungsmacht sollte nicht den Unternehmer_innen überlassen, sondern von den Arbeiter_innen selbst übernommen werden. Im Zuge dessen sollten sie sich als historische Akteur_innen begreifen lernen, die bereits viele Kämpfe ausgefochten hatten und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen auch in der Gegenwart selbst gestalten können. Die Forschung sollte in den räumlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfinden, in welche die Forschenden konkret eingebunden waren.
In Lindqvists Ansatz zeigt sich das Grundmotiv der Neuen Geschichtsbewegung: Geschichte sollte nicht mehr nur von den „Herrschenden“ geschrieben werden, die damit ihre Machtpositionen legitimieren. Sie sollte vom „Volk“ zurückerobert werden. Die „kleinen Leute“ sollten sich als historische Subjekte entdecken, die „Geschichte machen“ können. Und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen als Autor_innen ihrer eigenen Geschichtsschreibung; zum anderen als historische Akteur_innen, die aus ihrer Geschichte heraus auch ihre Gegenwart und Zukunft gemäß ihren politischen Interessen gestalten können (Heer/Ullrich 1985: 28).
Lässt man das vielleicht allzu holzschnittartige Gesellschaftsbild einmal außer Acht, haben wir es hier mit einer demokratischen Selbstermächtigung durch historische Forschung zu tun. Denn tatsächlich ist ja das Bewusstsein von der historischen Gewordenheit der eigenen Lebensverhältnisse, und damit auch von deren prinzipieller Veränderbarkeit, eine Grundvoraussetzung gelingender Demokratie. Nur, wer sich als historisches Subjekt begreift, und damit auch als Mitgestalter_in der eigenen Geschichte, wird im eigenen Interesse an demokratischen Prozessen partizipieren. Über das historische Forschen und Lernen hinaus ging es hier also immer auch um politische Selbsterfahrung und demokratische Selbstwirksamkeit.
In diesem Sinne entstanden nun allerorten Initiativen, in denen Historiker_innen und Nicht-Historiker_innen sich Geschichte „von unten“ aneigneten. Wie ein Blick in damalige Publikationen zeigt, bedeutete das Alltagsgeschichte konkret und vor Ort, mit einem Fokus auf Themen, die in der dominanten Geschichtskultur kaum vorkamen: Arbeiter_innengeschichte, Frauengeschichte, die Geschichte von Randgruppen und Minderheiten, Geschichten von Unterdrückung und Widerstand (z.B. Heer/Ullrich (Hg.) 1985; Paul/Schoßig (Hg.) 1986).
Diese Geschichten sollten, wie die Historiker Hannes Heer und Volker Ulrich in einem programmatischen Text formulierten, „in einem gemeinsamen Arbeits- und Lernprozess von vielen“ (Heer/Ullrich 1985: 21) erarbeitet und öffentlich zur Debatte gestellt werden. Mit Ausstellungen, Stadtrundgängen, Fahrradfahrten und aktivistischen Interventionen sollte dabei immer auch in aktuelle gesellschaftliche Diskurse eingegriffen werden: „Die Praxis der Geschichtswerkstätten ist der Form nach politische Aktion, indem sie sich explizit auf Konflikte und Probleme in ihren jeweiligen Wirkkreisen bezieht“ (Wildt/Lindenberger 1989: 349).
Im Rückblick kann die Neue Geschichtsbewegung als „historischer Arm“ der Neuen Sozialen Bewegungen verstanden werden, denen es darum ging, Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft und insbesondere des direkten sozialräumlichen Umfeldes zu nehmen. Im Zeichen einer „Demokratisierung der Demokratie“ wurde sich nun also auch die Geschichte angeeignet.
Die Vielfalt der behandelten Themen, Orte und Zugänge sorgte für eine neue Multiperspektivität in der bundesrepublikanischen Geschichtskultur. Zugleich provozierten die Aktivist_innen „grundsätzliche politische Debatten über historische Traditionen“ und ein „Nachdenken über die Funktion von Geschichte im öffentlichen Raum“ (Lindenberger/Wildt 1989: 395). Jenseits des thematischen Agenda Settings wurde damit immer auch die Frage nach den Machtverhältnissen beim Zustandekommen von Geschichtskultur selbst aufgeworfen, also nach den politischen Dynamiken von gesellschaftlichem Erinnern und Vergessen.
Grafic recording: Daniel Freymüller
Ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Neuen Geschichtsbewegung war die NS-Vergangenheit. Überall im Land begannen Bürger_innen, die Lokal- und Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus zu erforschen. Bisher war diese Vergangenheit entlang von abstrakten Schlagwörter verhandelt worden: Totalitäre Diktatur, Faschismus, Krieg, Hitler, Auschwitz. Durch die lokalgeschichtliche Mikroperspektive kam es nun zu einer enormen Pluralisierung und Präzisierung von historischen Schauplätzen, Themen- und Fragestellungen (z.B. Berliner Kulturrat 1983). Dadurch, dass die Forschenden ihre eigenen sozialräumlichen Zusammenhänge in den Blick nahmen, verliehen sie ihrer Forschung zudem eine hohe Gegenwartsrelevanz.
Indem einzelne Orte, Taten, Menschen und Akteurskonstellationen untersucht wurden, wurde die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus radikal konkretisiert. Mit Gedenkzeichen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurde der bundesrepublikanische Raum flächendeckend als postnationalsozialistischer Raum markiert. Auf dieser Grundlage konnte nun endlich konkret über die NS-Vergangenheit gesprochen werden, und auch darüber, warum seit 1945 nicht oder eben nur in abstrahierenden Floskeln gesprochen worden war.
Die heutige „Gedenkstättenlandschaft“ gab es damals noch nicht. Die KZ-Gedenkstätten Dachau und Bergen-Belsen hatten bis in die 1970er-Jahre kaum eine gesellschaftliche Bedeutung. Das einstige Konzentrationslager Neuengamme war jenseits eines randständigen Denkmals mit zwei Gefängnissen überbaut; auch Flossenbürg war durch Wohn- und Gewerbebauten weitgehend unkenntlich gemacht worden. Dass es neben den großen Konzentrationslagern ein verzweigtes Netz von Außenkommandos und weiteren Lagertypen gegeben hatte, war mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Das Gedächtnis an die NS-Verbrechen hatte keinen Ort.
Die Allgegenwart von Gewalt und Terror im „Dritten Reich“ wurde erst durch die Neue Geschichtsbewegung ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Auch mit Blick auf die ehemaligen nationalsozialistischen Lager gründeten sich nun vielerorts Initiativen, die sich gemeinsam mit Überlebenden für die Einrichtung dauerhafter Lern- und Gedenkorte engagierten (Garbe (Hg.) 1983). Wie es in einer zeitgenössischen Publikation zu den „vergessenen KZs“ heißt, wollte man der Öffentlichkeit „das KZ im eigenen Heimatort, in der Nachbarschaft, im Landkreis“ vor Augen führen, um auf diese Weise buchstäblich „begreifbar [zu] machen, was sich in den Jahren 1933 bis 1945 in der Mitte Europas zutrug“ (Garbe 1983: 25, Herv. i. O.).
Bei ihrer Spurensuche vor Ort hatten die Aktivist_innen mit erheblichen gesellschaftlichen Widerständen zu kämpfen. Sie erlebten sie daher nicht nur als einen historischen Lernprozess über die NS-Vergangenheit, sondern immer auch als einen „politischen Lernprozess“ (Ebd.: S. 27) über deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Orten der ehemaligen Lager geriet zwangsläufig auch der gesellschaftliche Umgang mit diesen Orten in den Jahrzehnten nach 1945 in den Blick. Nicht zuletzt stellte sich dabei die Frage, „warum der Aufhellung der eigenen Vergangenheit ‚vor Ort‘ ausgewichen wird“ (Ebd.).
Auch aufgrund dieser konkreten Erfahrungen forderte der damalige Aktivist (und spätere Gedenkstättenleiter) Detlef Garbe 1983, „die historische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht auf die zwölf Jahre der Naziherrschaft zu beschränken, sie nicht mit dem Jahre 1945 enden zu lassen. Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, wie sie war, muss immer auch die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte sein, wie sie weitergegangen ist und wie sie weitergehen soll. Die Schilderung des Nationalsozialismus ist dann keine Geschichte aus ‚ferner Zeit‘ mehr, sondern Teil unserer aktuellen Wirklichkeit.“ (Ebd.: 25).
Seither sind über 35 Jahre vergangen, und überLAGERt operiert unter sehr anderen gesellschaftlichen und geschichtskulturellen Bedingungen als die damaligen Akteur_innen. Doch auch mit diesem Projekt sollen Orte ehemaliger Lager zu Orten mit Gegenwartsrelevanz gemacht werden. Angesichts dessen sollten auch die heutigen Teilnehmer_innen ihr gesellschaftspolitisches Selbstverständnis reflektieren. Welche Akzente wollen sie mit ihrer Arbeit setzen, welche Diskussionen wollen sie anstoßen – hier und heute, in einem postnationalsozialistischen undpostkommunistischen Umfeld, das sich in einem rasanten Rechtsruck befindet?
Berliner Kulturrat (Hg.) 1983: 1933 – Zerstörung der Demokratie, Machtübergabe und Widerstand. Ausstellungen und Veranstaltungen, Programm 1983, Berlin (West): Berliner Kulturrat.
Detlef Garbe (Hg.) 1983: Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten: Lamuv.
Detlef Garbe 1983: Einleitung, in: Ebd., S. 23-35.
Hannes Heer/Volker Ulrich (Hg.) 1985: Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek b. Hamburg: Rohwolt.
Hannes Heer/Volker Ullrich (Hg.) 1985: Die „neue Geschichtsbewegung“ in der Bundesrepublik. Antriebskräfte, Selbstverständnis, Perspektiven, in: Ebd., S. 9-36.
Thomas Lindenberger/Michael Wildt 1989: Radikale Pluralität. Geschichtswerkstätten als praktische Wissenschaftskritik, in: Archiv für Sozialgeschichte 29, S. 393-410.
Sven Lindqvist (1991): Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Übers. u. eingel. von Manfred Dammeyer, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.
Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg) 1986: Die andere Geschichte. Geschichte von unten, Spurensicherung, ökologische Geschichte, Geschichtswerkstätten, Köln: Bund Verlag.