Gestützt auf ihre Masterarbeit, legt Jeanette Hilger mit „Lieben, lügen, leben. Biografien und Erinnerungen zwischen (Un-)Sichtbarkeit und Agency. Selbstbestimmung gleichgeschlechtlich L(i)ebender von den fünfziger Jahren bis heute“ eine Monographie vor, die aus der Sicht der gleichgeschlechtlich L(i)ebenden geprägt ist. Hilger nutzt die Methode des Interviews, um „den Blick weg von einer Viktimisierung und Vulnerabilisierung, hin zur Selbstbestimmung gleichgeschlechtlich L(i)ebender, ihrer Ressourcen und Handlungsfähigkeiten zu richten“ (S. 11).
Entsprechend dem Charakter einer wissenschaftlichen Arbeit erfolgt nach einer ausführlichen Darlegung des Forschungsinteresse, der Definition und Erläuterung verwendeter Begrifflichkeiten die Einführung in die theoretischen Grundlagen (S.19ff.). Hier legt Hilger dar, wieso sie den historischen Rahmen mit „Postnationalsozialismus“ überschreibt. Für diese Beschreibung der zeitlichen Festsetzung ihrer Arbeit nach 1945 geht sie auf NS-Kontinuitäten in allen gesellschaftlichen Bereichen ein. Besonders stark wird ihre Argumentation durch den Bezug auf beide deutsche Staaten, also sowohl BRD als auch DDR. Recht ausführlich legt sie die rechtliche Situation nach 1945 dar und weist dabei Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus nach, wie etwa die Anwendung und Umsetzung des §175 in der BRD. Diesem Paragraphen und der damit verbundenen Rechtsauffassung spricht Hilger dann auch „eine besondere Rolle in der tradierten Abwertung gleichgeschlechtlicher L(i)eben im Postnationalsozialismus zu“ (S. 22). Dabei hat sie nicht nur die rechtlichen, sondern auch die sozialen Auswirkungen des §175 im Blick (vgl. S. 24).
Ebenfalls sorgfältig und detailliert arbeitet Hilger die Besonderheiten der Zeitzeug_inneninterviews heraus und wie mit diesen im Rahmen der wissenschaftlichen, aber auch der pädagogischen Arbeit umgegangen werden muss (vgl. S. 25f). Zudem begründet Jeanette Hilger, warum sie den Zugang durch die sogenannte „Oral History“ wählt: Der besondere Vorteil liegt ihr zufolge in dem hohen pädagogischen Potentialder Methode, welches sich aus der Annäherung an ein Thema über die Zeitzeug_inneninterviews ergebe. Daraus lasse sich - so die Argumentation von Hilger - für die historisch-politische Bildung ein Lernfeld erschließe, insbesondere für die Antidiskriminierungspädagogik (S. 26).
Wie bereits im Titel ersichtlich wird, geht es nicht nur im die Erinnerungen, sondern auch die Handlungsräume der interviewten Zeitzeug_innen. Um diese herauszuarbeiten greift Jeanette Hilger auf das Agency-Konzept sowie Salutogenese zurück. Beide Modelle werden ausführlich mit ihren Stärken und Schwächen dargelegt. An dieser Stelle würde es zu weit führen, die beiden Modelle ebenfalls zu erläutern. Das Hilger dies so ausführlich tut, ist sicher der Wissenschaftlichkeit ihres Buches geschuldet. Für eher am Ergebnis orientierte Leser_innen mag dieser Teil etwas langatmig wirken. Er kann übersprungen werden, ist allerdings für das spätere Verständnis der Interviewauswertung von großem Vorteil. Gleiches gilt für die Vorstellung des methodischen Zugangs im folgenden, kurzen Kapitel. Es wird ein kompakter Überblick über die Erhebungsmethode („biografisch-narratives Interview“) und die dokumentarische Auswertungsmethode gegeben. Auch das Konzept der Oral History wird noch einmal knapp erläutert. Doch gerade die Auswertungsmethode lohnt einen genaueren Blick. Sie ist in vier Schritte eingeteilt: Zuerst die formulierende Interpretation, dann die reflektierende Interpretation, drittens die Typenbildung, abschließend die Generalisierung. Von besonderem Interesse sind jeweils die Erläuterungen von Hilger, welche die Schritte der Auswertung nachvollziehbar machen und so einen differenzierteren Blick auf die Ergebnisse der Analyse ermöglichen.
Insgesamt behandelt Jeanette Hilger drei Interviews. Diese werden eingeführt mit einer Biographie der interviewten Zeitzeug_innen sowie Beschreibungen der Gesprächssituationen. Ergänzt wird dies mit graphischen Darstellungen der familiären Beziehungen der Interviewten, was den Zugang erleichtert. Die Darstellung der Gesprächssituation liefert wichtige Informationen, etwa wie die interviewten Zeitzeug_innen das Gespräch vorbereitet haben oder wie sie sich währenddessen verhalten haben, zum Beispiel im zweiten Interview: „Die Narration wirkt an manchen Stellen etwas vorbereitet, aber nicht künstlich auf mich.“ (S. 62). Nach dieser Vorbereitung schließt an jedes der Interviews eine erste, auf die interviewte Person direkt bezogene Analyse. Dabei werden die im Gespräch getroffenen Aussagen hinsichtlich der gesellschaftlichen und familiären Situation sowie die jeweiligen (Handlungs-) Ressourcen herausgearbeitet.
Die abschließende Auswertung führt Jeanette Hilger anhand verschiedener Punkte durch. Sie vergleicht die Biografien auf persönlich-individueller sowie auf gesellschaftlicher und familiärer Ebene sowie anhand der Orientierungen. Unter anderem kommt Hilger zu dem Schluss, dass Selbstbestimmung eine gemeinsame Orientierung sei, in der Handlungsfähigkeit trotz Unsichtbarkeit erzeugt und erhalten werde (S. 97). Die herausgearbeiteten Ergebnisse werden mit den bereits vorgestellten Konzepten Agency und Salutogenese allgemeiner ausgewertet. Alles in allem kommt Hilger unter anderem zu dem Schluss, dass es eine Verknüpfung der persönlich-individuellen und der gesellschaftlichen und familiären Ebene gibt. Weiter sieht sie die zweigeschlechtliche und heterosexuelle Gesellschaftsnorm mit ihren Strukturen und Zuschreibungen aufgrund ihrer Interviews bestätigt (S. 110).
Auf Grundlage ihrer Ergebnisse erarbeitet Hilger fünf pädagogische Perspektiven für die historisch-politische Bildung, die mit Biografien wie jenen in „Lieben, lügen, leben“ arbeiten. Diese sind Aufklärung, Reflexion, Emanzipation, Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung sowie Paradigmen (S. 113f.). Die einzelnen Perspektiven werden kurz erläutert, zum Beispiel ist unter Reflexion zu verstehen, „die gegenwärtige Gesellschaft und die eigene Biografie [zu] spiegeln und [zu] hinterfragen“.
Gerade durch das Herausstellen möglicher Einsatzmöglichkeiten in der historisch-politischen Bildung gewinnt das Werk von Jeanette Hilger noch einmal enorm an Kraft. Auch wenn an mancher Stelle der wissenschaftliche Charakter – geschuldet der Ursprungsform als Masterarbeit – überwiegt und den Lesefluss erschwert, ist „Lieben, lügen, leben“ doch sicher eine gute Lektüre für Lehrer_innen oder Lehrkräfte der historisch-politischen Bildung, die sich mit gleichgeschlechtlicher Liebe und deren gesellschaftlicher (Nicht-) Akzeptanz auseinandersetzen. Insbesondere die gründliche theoretische Vorarbeit beispielsweise über den §175 macht das Buch zudem zu einem guten Einstiegswerk, um sich in die Thematik einzuarbeiten.
„Lieben, lügen, leben“ ist bei der Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen für 3,50€ erhältlich, Mitglieder zahlen 2,50€.