Die Verbindung der zunehmenden sexuellen Offenheit und homosexuellen Emanzipation in Deutschland wird oftmals mit den Entwicklungen der Weimarer Republik verbunden. Diese Wahrnehmung und zum Teil deren Dekonstruktion stehen im Zentrum von Laurie Marhoefers 2015 vorgelegter Monographie „Sex and the Weimar Republic. German homosexual emancipation and the rise of the Nazis“.
In ihrer Einleitung gibt Marhoefer einen guten, dichten Überblick über die Bewegungen, die in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs Gleichheit und Bürgerrechte, nicht nur auf der Ebene von Sexualität, unter andauernder autoritärer Bedrohung zu erkämpfen versuchten.
Logischerweise widmet sich Marhoefer in mehreren Kapiteln den Diskussionen und Kämpfen zwischen den Vorkämpfern einer Gesellschaftsöffnung für Geschlechter- und Sexualthemen und deren Gegner_innen: Die darin bedeutsamen Verbindungen und Allianzen aus Feministinnen, Sozialdemokrat_innen, Kommunist_innen und Aktivist_innen für die Rechte Homosexueller, die sich für eine sexuelle Befreiung der Gesellschaft einsetzten, die sich mit Prostitution und Abtreibung befassten, werden im dritten Kapitel und der Zusammenfassung besonders gut herausgestellt.
Diese Kämpfe verknüpft Marhoefer mit politischen Debatten der Zeit, etwa wenn die Zensur in homosexuelle Communities und deren Zeitschriften wie „Die Freundin“ hineinwirkte. Ebenso spannend ist die im vierten Kapitel dargelegt Diskussion in homosexuellen Communities über eine Überarbeitung des §175 StGB und die Frage, ob dessen Abschaffung und dafür folgende Gesetze nicht harte Konsequenzen für männliche Prostituierte habe:„This reform was so polarizing for activists that it almost destroyed homosexual emancipation’s oldest and most politically connected organization, the WhK“ (S.120). Die detaillierte und ausdifferenzierte Darstellung der inner-homosexuellen Kämpfe, etwa zwischen dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) und Magnus Hirschfeld bilden eine der stärksten Teile des Buches.
Marhoefer beschreibt die Weimarer Republik als „settlement“, teils konkreter als „settlement on sexual politics“ (S. 13), als Vereinbarung von Kompromissen, mit denen sich alle Parteien einigermaßen arrangieren konnten. Dieser Kompromiss sei das Ergebnis von Abbau religiöser Moral, säkularer Prägung von persönlichen Freiheitsrechten und wissenschaftlichem Fortschritt (vgl. S. 3). Darin waren verschiedene Formen von Sexualität neuerdings akzeptiert, solange sie nicht zu viel öffentlichen Raum einnahmen. Die Bedeutung und Offenheit gegenüber Lebensentwürfen blieb dabei stets Aushandlungssache, gewann teils an Raum wurde aber auch immer wieder – wie am Beispiel von Abtreibung und Prostitution sichtbar wird – begrenzt (vgl. S. 84ff.). Anders als Interpretationen, die die Weimarer Republik gerade in Bezug auf solche Fragen als chaotische Zeit einschätzen, sieht Marhoefer eine Phase von demokratiestärkenden Aushandlungen. Durch ein Aufzeigen der Fort- und Rückschritte der Emanzipation bleibt das von der Autorin gezeichnete Bild differenziert und setzt so den populären Ansichten von sexueller Befreiung eine durch Primärquellen stets gut belegte Sicht entgegen.
Dem Narrativ, demzufolge offen gelebte, „wilde“ Sexualität einen rechtskonservativen backlash befördert hätte, wie ihn u.a. Julia Roos in ihrem Werk „Weimar through the lens of gender“ von 2010 vertritt, tritt Marhoefer entgegen. Sie nimmt an, dass nur wenige konservative Wähler und Parteien durch Reformen im Bereich der Sexualität der NSDAP näher kamen, auch da Sexualmoral nur ein kleiner Teil der nationalsozialistischen Propaganda gewesen sei. Allein zu dieser Frage wäre eine breite Medienanalyse und Auswertung nationalsozialistischer Reden und Schriften spannend, da einzelne Ereignisse, wie die –auch von Marhoefer angeführte – Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft und Moralkampagnen, dem durchaus widersprechen.
Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle von Homosexualität im Nationalsozialismus. Anhand von Ernst Röhm als Fallstudie untersucht Marhoefer wie die Medien, insbesondere liberale und sozialistische Zeitungen, durch die sexuelle Befreiung der Weimarer Republik geprägt waren. Aus dieser Perspektive sei es als Erfolg zu werten, dass sie Röhms Homosexualität nicht als Angriffspunkt gegen die Nationalsozialisten gewählt hatten und scheinbar Homosexualität nicht mehr als Argument für Rücktrittsforderungen taugte. Im Vergleich zu August Bebels Annahme von 1898, dass dem Bekanntwerden der Homosexualität einer hochgestellten Person ein nationaler Skandal folgen würde, sei hier eine deutliche Entwicklung sichtbar.
Beispielhaft zeigt sie dies am Fall des Journalisten Helmuth Klotz. Im Café des Reichstags war Klotz 1932 von Nationalsozialisten angegriffen worden, nachdem er zuvor Briefe Röhms veröffentlichte, die dessen Homosexualität nahe legten. Eine größere Berichterstattung gab es nur über den Angriff und die Brutalität der Nationalsozialisten, nicht aber über Röhms Briefe.
An dieser Stelle wäre es dennoch spannend gewesen, über die in vielen Publikationen bereits diskutierte Person Ernst Röhms hinauszugehen.
Die Diskussion um das Narrativ des auf die sexuelle Öffnung folgenden backlash wird durch Marhoefer teils provokante Thesen erweitert. Besonders spannend ist dabei ihre Beschäftigung mit der Befürwortung dieses Narrativ unmittelbar nach 1945. Auf der einen Seite konservative Stimmen, die mit der Notwendigkeit einer gezügelten Sexualmoral aufgrund einer Verrohung durch den Krieg argumentierten, auf der anderen Seite eine liberale Bewegung die sexuelle Freiheit so als antifaschistisch markieren konnte.
Eine besondere Stärke von „Sex and the Weimar Republic“ ist die Lesbarkeit. Der Autorin gelingt es – wenn auch auf Englisch – leicht verständlich und stellenweise fast romanartig zu schreiben, ohne dabei unterkomplexe Beschreibungen und Thesen anzubieten. Marhoefers Buch ist somit für ein breiteres Publikum interessant, für Interessierte an Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte, aber auch als Teil der Interpretationen des 20. Jahrhunderts. Vor allem bietet ihr Buch Nährstoff für eine Debatte über die Bedeutung von Sexualität und Sexualmoral für die Nationalsozialisten. Nicht nur für dieses Buch sondern für die gesamte Debatte wären mehr Übersetzungen ins Deutsche wünschenswert.
Laurie Marhoefers „Sex and the Weimar Republic“ ist für 26,50€ im Buchhandel erhältlich.