Das, in dieser Ausgabe auch von Nina Reusch hervorgehobene, Projekt Queer History Month und die dazugehörige Webseite bieten neben Unterrichtsmaterialien und Veranstaltungshinweisen auch drei Stadtrundgänge im Audioformat. An mehreren Stationen bieten zwei- bis fünfminütige Beiträge die Möglichkeit sich mit der Geschichte des Ortes, der damit verbundenen Personen und darüber hinausgehenden Fragen zu beschäftigen.
Die erste Audiotour führt die Hörer_innen vom Deutschen Historischen Museum (DHM) zum Schwulen Museum* und entstand im Rahmen der von den beiden Institutionen 2015 realisierten Sonderausstellung „Homosexualität_en“. Die Ausstellung wurde jeweils zu einem Teil in beiden Häusern präsentiert, der Stadtrundgang verband somit beide Ausstellungen, ist in beide Richtungen begehbar und bot Interessierten die Möglichkeit, den Weg zur weiteren Informationen zu nutzen, zu Fuß oder auch während der Fahrt mit der Buslinie 100.
Am DHM wird deutlich, das „Homosexualität_en“, die Ausstellung, die sich der Geschichte, Politik und Kultur homosexueller Frauen und Männer widmete, für das traditionsreiche Haus ein Novum bedeutete. Da die Dauerausstellung nur an wenigen Stellen Homosexualität thematisiert, verfolgte diese erste Ausstellung das Ziel des DHM, die Geschichte aller Deutschen darzustellen.
Auf dem Weg kommen die Hörer_innen unter anderem am Reiterdenkmal von Friedrich II. vorbei, über dessen mögliche Homosexualität von Voltaires Äußerungen über die Kaffeerunden des Königs mit männlichen Bediensteten ausgehend bis heute gerätselt wird.
Beim Passieren der Friedrichstraße kommen die Macher_innen des Rundgangs auf die homosexuelle Subkultur in der Großstadt samt Nachtleben, Zeitschriften und Prostitution zu sprechen, bevor der Reichstag erreicht wird. Dort wird vor allem die Geschichte des §175 im Strafgesetzbuch von der Einführung 1872 bis in die Nachkriegszeit nachvollzogen. Neben der darin ausgedrückten Kriminalisierung von Homosexualität, der Forderung August Bebels 1898 den Paragraphen zu streichen, ist hier insbesondere spannend, wie sich die gesellschaftliche Betrachtung von Homosexualität gewandelt hat. Mit der eingehenden Kriminalisierung wurden Frauen zunehmend „als passive Empfängerin im Sexualakt dargestellt“, weibliche Lust und Sexualität negiert und sich die Repression fortan weitestgehend auf homosexuelle Männer beschränkte.
Dem Audiowalk kann entlang der Spree oder durch den Tiergarten gefolgt werden, bis an der fünften Station der ehemalige Standort des Instituts für Sexualwissenschaften erreicht wurde. Das von Magnus Hirschfeld gegründete Institut war Forschungs- und Lehrstätte aber auch Zufluchtsort für Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität verfolgt oder ausgegrenzt wurden. Interessant sind hier zwei Ausschnitte aus Berliner Zeitungen, die Ende der 1920er-Jahre teils beschimpfend, teils anerkennend über das Institut berichteten.
Durch den angrenzenden Tiergarten spazierend, werden die Hörer_innen über die lange Kontinuität von schwulem Sex und Prostitution und deren Bekämpfung durch die Polizei informiert.
Nachdem am Lützowplatz über die für Frauenbildung kämpfende Helene Lange berichtet wird, endet der Stadtrundgang zum 1985 an einem anderen Standort gegründeten Schwulen Museum* in der Lützowstraße.
Auch wenn das DHM aktuell oder in naher Zukunft keine Sonderausstellungen zum Thema sexuelle Identitäten zeigt, behält der Audiowalk seinen Wert. Er ist äußerst informativ, ist durch seine breite thematische Aufstellung auch für Nicht-Berliner_innen relevant und kommt auch ohne die Sonderausstellung aus.
Der zweite hier vorgestellte Rundgang widmet sich Orten offenen und versteckten homosexuellen Leben im Berliner Stadtteil Schöneberg Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch der landesweiten Repression in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus.
Der Stadtspaziergang führt die Nutzer_innen zu vielen Orten ehemaliger Clubs und Dielen, Cafés und Tanzbars in denen Schönebergs und Berlins queeres Leben Ausdruck fand. Dabei wird vor allem das Spektrum dieser Lokale aufgezeigt. Clubs mit Eintrittspreisen für gebildete Frauen, die Dielen für das proletarische Publikum und mit den sogenannten Schaulokalen bestanden Orte, wo sich auch Heterosexuelle und Tourist_innen fanden. Durch die Vielzahl der Standorte und Ausrichtungen und den detaillierten Beschreibungen, von der noch bis 2002 bestehenden Schwulenbar „Kleist-Kasino“ über den Treff lesbischer Frauen „Verona-Diele“ bis hin zum elitären Mitgliederclub für Frauen, dem „Club Monbijou“, wird diese Vielfalt lebendig verbildlicht.
Weiter lernen die Hörer_innen Biographien von Aktivist_innen und von Repressionsbetroffenen kennen, etwa die von Hilde Radusch, die im Nationalsozialismus jedoch eher aufgrund ihrer kommunistischen Aktivitäten und Posten als wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurde.Mit eingesprochenen zeitgenössischen Zitaten, etwa von der Schriftstellerin Ruth Margarete Roellig, die 1928 in ihrem Buch „Berlins lesbische Frauen“ Treffpunkte wie das Café „Dorian Grey“ beschrieb, mit Annoncen aus der Zeitschrift „Die Freundin“ und musikalischer Unterlegung ermöglicht der Audiowalk unaufdringlich ein Eintauchen in die Zeit und das Schöneberger Nachtleben.
Sehr spannend zeigt das Angebot auch auf, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Maßstäbe auf Homosexualität von Frauen und Männern anlegt. So wird auf §181a StGB eingegangen, wonach nur Männer der Zuhälterei und nur Frauen der Prostitution bezichtigt werden konnten.
Durch die Einbindung der Darstellung juristischer und alltäglicher Repression wird das Spannungsfeld queeren Lebens in den 1920er- und1930er-Jahren zwischen Freiheit und Unterdrückung deutlich.
Der Stadtrundgang „Ganz normale Orte?! kreuz und queer durch berlin-mitte“ bewegt sich eingangs um den Alexanderplatz, die zweite Hälfte führt die Nutzer_innen in die Gegend um das Brandenburger Tor.
Die elf Stationen widmen sich in der Regel nur teilweise der Geschichte des konkreten Ortes, sondern greifen Alltagsorte und Aspekte auf, die unser Leben und insbesondere das von LGBTIQA* regulieren. Die Herausforderungen und Einschränkungen für queeres Leben in Berlin und Deutschland werden aber oftmals mit historischen Orten und Erzählungen verknüpft.
Am Anfang des Rundgangs steht ein historischer Abriss über die Normalität gleichgeschlechtlicher Liebe in der Antike, der Erfindung des Begriffs „Homosexualität“ im 19. Jahrhundert und andauernde Kämpfe um Emanzipation, insbesondere von Lesben und Bi-, Trans-, Inter- und Queerlebenden und –liebenden.
Räumlich beginnen die Nutzer_innen an der seit den 1970ern bestehenden Kneipe „Besenkammer“, inhaltlich führt dieser Ort zu Bewegungen für die Rechte Homosexueller in der DDR.
Viele Stationen, wie eine öffentliche Toilette und Geschäfte am Alexanderplatz, führen zu einer Problematisierung einer binären Geschlechterteilung und gesellschaftlichen (Kleider-)Normen, die etwa Komplikationen und Ausgrenzung für trans- und intersexuelle Menschen bedeuten. Historische Beispiele, wie die einstige Popularität von rosafarbener Kleidung für Jungen zeigen die gesellschaftliche Konstruiertheit dieser Bilder auf.
An der Station des Krankenhauses Charité informiert der Audiowalk über sogenannte „Feminisierungs- oder Maskulinisierungsoperationen“, der Operation von intersexuellen Menschen zu einer/einem biologischen Frau oder Mann, währen der folgende Halt am Bundestag die Rolle von Frauen, Homosexuellen und Transgender in der Politik beleuchtet. Hier, wie auch an anderen Stellen wird problematisiert, dass unterschiedliche Standards angelegt werden, und beispielsweise Politikerinnen nicht nur als Homosexuelle, sondern auch als Frauen diskriminiert werden.
Am Brandenburger Tor entlang, wo die Geschichte und Diskussionen um den Christopher Street Day in Deutschland aufgerufen werden, zieht der Rundgang weiter durch den Tiergarten, wo sich die Gründer des schwulen Fußballklubs Vorspiel Berlin zum kicken trafen. Die Teilnahme am regulären Spielbetrieb und Frauenfußball generell mussten in der BRD lange erkämpft werden.
Die letzte Station befindet sich am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und widmet sich der Verfolgung im Nationalsozialismus aber auch den gesellschaftlichen Geschlechter- und Sexualitätsbildern im Nachkriegsdeutschland.
Für den Stadtrundgang haben die Macher_innen Menschen wie die Drag Queen Toni getroffen, die in O-Tönen über ihre Erfahrungen berichten und haben selber historische Zitate eingesprochen.
Eine große Stärke dieses Angebots ist, neben der sehr gelungenen Verknüpfung historischer Zustände und Ereignisse mit aktuellen Diskussionen, die Einbindung von queeren Diskursen und sich darin gegenüberstehenden Positionen.
Dabei werden anhand von Beschreibungen gesellschaftlicher Normen und der direkten Adressierung der Hörer_innen, etwa „Wie ist das bei Euch in der Schule, gibt es verbindliche Stile, an denen sich alle orientieren?“ viele Fragen aufgeworfen, die mit anderen Hörer_innen weiter diskutiert werden können und sich so insbesondere für pädagogische Settings eignen.
Da gesellschaftliche und rechtliche Aspekte zu Sexualität sich aktuell im Wandel befinden, ist für die Nutzung dieses Rundgangs eine Nachrecherche notwendig, erst recht um ihn pädagogisch anzuwenden. So ist etwa die Einführung der Ehe für Alle in Deutschland noch nicht enthalten.
Alle drei Rundgänge leisten einen wertvollen Beitrag zur Sichtbarkeit queeren Lebens in Vergangenheit und Gegenwart, insbesondere an Orten, wo dies für Spaziergänger_innen sonst nicht möglich ist. Sie eignen sich für private Nutzer_innen als auch für die pädagogische Arbeit und bieten eine spannende Perspektive Berliner und Queerer Geschichte. Mit Ausnahme der Tour durch Schöneberg, führen die Rundgänge an einer Reihe Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei und können so auch mit anderen Form des Sightseeings kombiniert werden.
Die technische Umsetzung ist mit als Paket herunterladbaren Einzeldateien gelöst, die auf ein mobiles Endgerät geladen und wie eine Playlist gehört werden können. Auf der Homepage lassen sich über eine Karte die einzelnen Orte ansteuern, dort angekommen muss der jeweilige Beitrag manuell ausgewählt werden.
Auf der Homepage gibt es die Beiträge auch in schriftlicher Form, wobei jedoch die gelungene atmosphärische Audiountermalung verloren geht.