Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Die heutige Zeit ist geprägt von kolonialen Kontinuitäten, die nach wie vor aktuell sind. Um sie zu verstehen, bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte. Im Rahmen des Globalen Lernens werden Lernprozesse in Gang gesetzt, die die Spuren bestehender Kolonialgeschichte aufdecken und verstehen. Die Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. hat – gefördert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) – ein Online-Modul entwickelt zur Thematisierung kolonialer Kontinuitäten und für ein tieferes Verständnis für globale Zusammenhänge. Dieser Werkstattbericht fügt sich somit in die Thematik der inklusiven Geschichts- und Erinnerungskulturen des vorliegenden Magazins ein.
In der Zeit zwischen dem 15. und 20. Jahrhunderts besetzten europäische Regierungen, König- und Kaiserreiche, Missionskirchen und Wirtschaftsunternehmen Gebiete und Regionen in den Amerikas, Afrika und Asien. Die europäische Kolonialpolitik führte zu Ausbeutung von Menschen, zu Versklavung, zur Landnahme im großen Stil und zu gesellschaftlichen, wirtschaftlichen sowie politischen Veränderungen. Diese brachiale Machtpolitik hatte eine Neuordnung der Welt zur Folge, der viele Menschen unterworfen waren. Europäische Herrschende und Eliten konnten dadurch große Gewinne erzielen und einen Reichtum aufbauen, der bis heute währt.
Das Online-Modul befasst sich in fünf Kapiteln mit dem Thema Kolonialismus und schwerpunktmäßig mit den ehemals kolonialisierten Gebieten des afrikanischen Kontinents zur Zeit der deutschen Kolonialherrschaft. Die fünf Unterkapitel sind für schulische, wie außerschulische Zwecke pädagogisch aufgearbeitet und anwendbar, ebenso wird Material für Lehrkräfte zur Verfügung gestellt. Lehrende erhalten so die Möglichkeit ihr eigenes Geschichtsbewusstsein für globale postkoloniale Zusammenhänge weiter zu vertiefen. Im Material werden aktuelle Themen behandelt, durch verschiedene Quellen ein offener Zugang für das Thema geschaffen und dadurch ganz gezielt auf die Lernenden eingegangen. Das Einstiegskapitel führt in die Geschichte des globalen Kolonialismus ein. Das zweite Unterkapitel beschäftigt sich mit den inneren Strukturen des Kolonialismus im deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das darauffolgende Kapitel richtet den Blick nach außen auf den neu entstehenden gewaltvollen Strukturwandel in den ehemals kolonisierten Gebieten selbst. Explizit geht dieser Abschnitt dabei auf die Landenteignung, Wirtschaft und Handel sowie Missionierung ein, um das Ausmaß der kolonialen Strukturen erkennbar und somit verständlich zu machen, die sich bis heute fortsetzen. Im vierten Kapitel werden zentral Formen des Widerstands und der Entrechtung thematisiert. Es wird gezeigt, dass die Erstbewohner_innen nicht mit der eigenen Ausbeutung einverstanden waren. Eurozentristische und kolonialrassistische Ideen des Zivilisierungsgedankens, der Exotisierung und dem Glauben an terra nullius werden einmal mehr deutlich und die Lernenden hierzu mit Hilfe des Online-Moduls sensibilisiert. Das fünfte Kapitel greift den Lerninhalt des ersten Kapitels nochmals auf und vertieft das bereits Erlernte, in dem es Punkte der aktuellen Erinnerungspolitik aufgreift. Dies umfasst das Sichtbarmachen kolonialer Spuren in der eigenen Umgebung, hier sind u.a. Straßenumbenennungen, Aufarbeitung musealer Bestände und die Rückgabe menschlicher Gebeine zu nennen. Zu beachten ist, dass sich Erinnerungspolitik immer in dem Bereich zwischen Wiederholung und Verschiebung hin- und herbewegt.
Die Perspektive auf das Geschehene, auf soziale Zusammenhänge und gesellschaftliche Entwicklung legt die Form des eigenen Erinnerns fest. Hierbei stellt sich die Frage, wie Sprache und Bilder verwendet werden, damit keine Erneuerung von Abwertung und Diskriminierung geschieht. Eingeübte Denkweisen einer eurozentristisch-weißen Einstellung werden aufgedeckt und somit dekolonialisiert. Hierzu war es wichtig, dass eine bewusste Auswahl an Quellenmaterial verwendet wird, um gewohnte koloniale Lese- und Sehgewohnheiten zu vermeiden, wie sie bspw. durch Werbeplakate von Kolonialwaren immer wieder repetiert werden. Es ist zu beachten, dass im Rahmen diskriminierungskritischer Bildungsarbeit eine andauernde Selbstkritik und Reflexion sowie eine nachhaltige Veränderung der Organisationsstrukturen besondere Herausforderungen für die Lehrkräfte darstellen und diese Herangehensweise ebenso an die Schüler_innen weitervermittelt werden soll. Dabei bildet die Sprache einen ganz wesentlichen Kern, um Rassismen im Alltag nicht zu wiederholen und es bedarf somit einer sensiblen Auseinandersetzung.
Wenn Kolonialismus als Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven verstanden wird, „bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren“ verstanden wird, die „auf der Überzeugung ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruht.“ (Osterhammel 2006: 21). Dann ist zunächst einmal zu schauen, wie Kolonialrassismus und ökonomische Ausbeutung auch heute nach wie vor in unserer Umgebung zu finden sind. Als Einstieg in die Thematik werden durch das Video von Matondo, einem Berliner Rapper, die Lebensrealitäten und Anliegen Schwarzer Menschen in Deutschland aufgezeigt. In einem weiteren Schritt wird von den Schüler_innen eine thematische Mind-Map erstellt, die sie mit einer Mind-Map aus dem Comic „Rein-Raus“, ein kolonialkritisches Projekt der Universität Kassel, vergleichen. Für das Einführungsmodul wird in einer dritten Aufgabe, Hintergrundmaterial ausgehändigt, welches sich mit den Themen der Weltpolitik, Handel, Wirtschaft und Expansionspolitik befasst. Dadurch erlangen die Schüler_innen im Kontext des globalen Lernens, ein tiefergehendes Verständnis für das postkoloniale Erbe. Im Kapitel „Kolonialismus im Kaiserreich“ wird ein Einblick in die ausführende Seite des kolonialen Gedankens gegeben. Im ausgehenden 19. Jahrhundert „erwarb“ das damalige Kaiserreich die ersten Gebiete unter teils dubiosen Umständen. Die Afrika-Konferenz (auch als Kongo- oder Berlin-Konferenz bezeichnet) von 1885 ist dabei der wichtige Ausgangspunkt, als europäische Mächte den afrikanischen Kontinent nach damaligen Gesichtspunkten für sich in Anspruch nahmen. Die Resultate aus der Konferenz fließen in die späteren Strukturen ein. Daher werden in einem zweiten Schritt in diesem Kapitel die kolonialen Strukturen im Rahmen von Wissenseinrichtungen, Bürokratie, Institutionen und Organisationen näher untersucht, um ein Gespür für das vielfältige Fundament des Kolonialismus im Kaiserreich zu erhalten. Dieses Modul beschäftigt sich explizit mit den geformten Strukturen durch die deutschen Kolonialschulen, dem Botanischen Garten, den wissenschaftlichen Einrichtungen für Sprache und „Rassenhygiene“, sowie den großen Handelshäusern. Hierdurch werden den Schüler_innen die Verzweigungen und die Tiefe des kolonialen Gedankens aufgezeigt und kritisch vermittelt anhand der Methode des Gallery Walks und neuen Medien, wie Podcasts. In dem Kapitel „Strukturen des Kolonialismus außerhalb“ werden verschiedene Beispiele gewählt, um das Ausmaß der kolonialen Strukturen erkennbar und somit verständlich zu machen, die sich bis heute fortziehen. Diese sind in Beispielen der Missionierung sichtbar, genauso wie im Eisenbahnbau, der Landwirtschaft und Herausformung neuer Eliten. Koloniale Kontinuitäten sind bis heute sehr stark vor Ort zu sehen und setzen sich immer noch fort, dies wird auch durch das neokoloniale Landgrabbing erfahrbar. Aber nicht nur die geographische Neustrukturierung bildet in diesem Modul einen wichtigen Baustein, sondern auch der sensible Umgang mit den Strukturen von Kolonialrassismus für sich. Es wird hierbei wesentlich mit selbstgeschriebenen Texten und Bildern gearbeitet. Bei „Widerstand und Entrechtung“ geht es um die Handlungsebene der Unterdrückten. Die Nachfahren der Opfergruppen des Genozids an Ovaherero und Nama haben 2017 Klage gegen die deutsche Bundesregierung eingereicht. Der Maji-Maji-Krieg war der größte Kolonialkrieg auf dem afrikanischen Kontinent, deren Ursache in den repressiven Zuständen und der Eliminierung der indigenen Wirtschaft lag. In Kamerun geben zahlreiche Petitionen der einstigen „Königshäuser“ der Duala Zeugnis des Widerstandes, genauso wie die Petitionen mehrerer Autoritäten aus Aneho in Togo. Diese und weitere Widerstandsformen werden in dem Kapitel mit Methoden des Brainstormings und eines Lernbuffets behandelt. Im letzten Kapitel „Erinnerungspolitik heute“ reflektieren die Schüler_innen durch Wiederholung des Rap-Video von Matondo das nun erhaltene Wissen. Weiterhin setzen sie sich mit der postkolonialen Geschichte des Afrikanischen Viertels in Berlin auseinander, die durch eine virtuelle Karte vermittelt wird. Abschließend werden Ausschnitte der fünfteiligen „ReMIX. Africa in Translation“- Dokumentation von Nadja Ofuatey-Alazard & Nicolas Grange gezeigt. Die Erinnerungskultur ist für das kollektive Gedächtnis in den historischen Zusammenhängen dringend mit postkolonialen Ansätzen zu verstehen, um ein umfassendes Bild für die heutigen gesellschaftlichen Strukturen zu schaffen. Daher verweist dieses Kapitel im Sinne des Globalen Lernens auf den räumlichen Aspekt, nämlich wie wird heute in den ehemals kolonisierten Gebieten erinnert und wie in der Bundesrepublik selbst. So kann durch die globale Verflechtung der historische Zusammenhang besser verstanden und koloniale Kontinuitäten aufgezeigt werden. Durch die Behandlung der oben genannten Themen bietet das Online-Modul „Kolonialismus“ die Möglichkeit, sich aus unterschiedlichen Perspektiven die deutsche Kolonialgeschichte zu betrachten und diese mit Schüler_innen sowie Lerngruppen zu bearbeiten.
Vielen Dank nochmals für die freundliche Bereitstellung der Mind-Map von Hendrik Dorgathen aus dem Rein-Raus Comic, einer Zusammenarbeit der Universität Kassel und auch ein Dankeschön an Berlin Postkolonial und dem Museum Treptow-Köpenick für die Bereitstellung von Materialien der Ausstellung „zurückgeschaut - Erste Deutsche Kolonialausstellung 1896, Treptower Park“.
Osterhammel, Jürgen (2006): Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, 5. Auflage, C.H. Beck München. S. 21.
Hintergrundtext Rapper Matondo: https://afrikaforum.wordpress.com/2018/01/27/der-berliner-rapper-matondo-hat-einen-neuen-track-veroeffentlicht-spuren-der-kolonialzeit-der-song-handelt-vom-kolonial-rassismus-in-seiner-heimatstadt-berlin-der-bis-in-die-gegenwart-reicht-und/ (Stand: 01.10.2018).
Mind-Map aus dem Rein-Raus Comic: Hendrik Dorgathen, http://www.dorgathen.org/main.htm.
Karten des Afrikanischen Viertels in Berlin, http://www.3plusx.de/leo-site/.
„zurückgeschaut - Erste Deutsche Kolonialausstellung 1896, Treptower Park“, http://zurueckgeschaut.de/.
Matondo – Spuren der Kolonialzeit, https://www.youtube.com/watch?v=6vzn8Q55iBE.
ReMIX – Africa in Translation, http://www.bpb.de/mediathek/254148/remix-africa-in-translation-intro.