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Die Vermittlung von prodemokratischen Werten ist eine pädagogische Daueraufgabe. Sie erscheint gegenwärtig dringlicher denn je – und darf gleichwohl nicht der Konjunktur des Alarmismus angesichts der Bedrängnis der Demokratie unterliegen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist einerseits eine historische Errungenschaft. Aber auch sie garantiert nicht ihre Wirkung, wenn sie nicht beständig und kontextsensibel soziales Handeln sowie Lernen und Engagement in der Gesellschaft prägt – weshalb auch ihr eine dauerhafte pädagogische Herausforderung zukommt: Für ihre Umsetzung müssen wir uns stetig global gemeinsam und auch lokal persönlich engagieren. Zwar haben sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die meisten Regierungen der Staatengemeinschaft zu den Menschenrechten bekannt oder diese in ihre Verfassung aufgenommen; es gibt zudem zahlreiche Vertragswerke, die die Menschenrechte gesellschaftlich und politisch umsetzen sollen, indem sie Staaten völkerrechtlich binden. Und doch steht dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte eine Wirklichkeit gegenüber, in der sie tagtäglich Missachtung erfahren. Die Geschichte zeigt uns also, dass die Bestrebungen für die Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte nicht allein staatlicher Verantwortung überlassen werden kann. Vielmehr kommt es gerade hier auf das Engagement jedes und jeder Einzelnen an. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese grundlegenden Rechte auch in demokratischen Gesellschaftssystemen Grenzen ihrer Wirkung erfahren oder gar in Frage gestellt werden.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte fordert im Artikel 26 (2) ein, dass „Bildung […] auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet“ ist und sie zu „Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen“ beiträgt und die „Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich“ unterstützt. Eines der wichtigsten Anliegen der UNESCO ist infolgedessen der Zugang für alle Menschen zu qualitativ hochwertiger Bildung. Dieser menschenrechtliche Anspruch ist universal und gilt unabhängig von Geschlecht, Herkunft, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen, Behinderung oder besonderen Lernbedürfnissen (Krappmann 2012).
Schule sollte daher durch Lernangebote, vor allem aber über ihre innere Verfasstheit – durch ihre spezifische und grundsätzlich demokratische Kultur – einen entscheidenden Beitrag zur Prävention gegenüber der sozialen und individuellen Neigung von Menschen zu potenzieller Menschenrechtsfeindlichkeit leisten. Ihr liegt durch ihren Bildungsauftrag eine Ablehnung jeder Form von Gewalt und Diskriminierung inne, die aber nicht alleine in Schulprogrammen und Positionspapieren dokumentiert werden kann, sondern Formen substanziellen Lernens und Handelns durch Erfahrungen und lebensweltbezogene Projekten in allen Schulen nahelegt. Man findet in allen Schulgesetzen der 16 Bundesländer explizite Bestimmungen, denen zufolge Schule und das dort professionell organisierte Lernen Schüler_innen dazu befähigen soll, auf der Basis belastbarer prodemokratischer Haltungen und Werte selbstverantwortlich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dieser Anspruch beschränkt sich nicht auf einzelne Schulformen, Fächer oder Jahrgangsstufen, die Themen der Menschenrechtsbildung müssen in allen Jahrgangsstufen theoretisch und handlungswirksam aufgegriffen werden (Fritzsche 2018).
Menschenrechte und Demokratie sind untrennbar verbunden und aufeinander angewiesen, sodass Bildung für die Menschenrechte auch stets Bildung für die Demokratie sein muss. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich mit verschiedenen Beschlüssen und Stellungnahmen zur pädagogischen und politischen Bedeutung der Demokratie- und Menschenrechtsbildung geäußert. So hat sich die Kultusministerkonferenz insbesondere in ihren Erklärungen zu den „Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen“ (KMK 2005), der „Stärkung der Demokratiebildung“ (KMK 2009) und zur Förderung der „Erinnerungskultur und demokratischer Bildung“ (KMK 2014) als eine Aufgabe aller Schulen und damit auch aller Unterrichtsfächer ausgesprochen: „Für die Schule bedeutet dies: Demokratielernen ist Grundprinzip in allen Bereichen ihrer pädagogischen Arbeit. Die Schule selbst muss Handlungsfeld gelebter Demokratie sein, in dem die Würde des jeweils Anderen großgeschrieben, Toleranz gegenüber anderen Menschen und Meinungen geübt, für Zivilcourage eingetreten wird, Regeln eingehalten und Konflikte gewaltfrei gelöst werden.“ (KMK 2009, S. 3) Die hohe Priorität dieser schulpädagogischen Herausforderung auch bei den Kultusministerien belegt der Umstand, dass die Empfehlung zur Demokratiepädagogik und auch die zur Menschenrechtsbildung im Jahr 2018 überarbeitet, aktualisiert und Ende 2018 vom KMK-Plenum verabschiedet werden. Es bleibt also dabei – pädagogisch, gesellschaftlich und bildungspolitisch: Menschenrechtserziehung darf sich nicht allein auf die Vermittlung im Unterricht beschränken - die Schülerinnen und Schüler müssen „die Achtung des Mitmenschen im täglichen Umgang in der Schule erleben und üben“ (KMK 2000, S. 6).
Im Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ haben sich seit 1989 über 6.500 Projekte und Initiativen beteiligt. Sie spiegeln ein breites Themenspektrum möglicher Aktivitäten und Lernarrangements für Demokratie, Menschenrechtsbildung und Gewaltprävention wider (Beutel/Feurich/Hofmann 2018). Die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten ist ein wiederkehrendes Motiv um sich auch mit den sich daraus ergebenden demokratierelevanten Fragestellungen zu beschäftigen – umgekehrt rücken viele der dokumentierten Projekte aus ihrem, auf Partizipation in der demokratischen Politik von Schule und ihrem Umfeld gerichteten, Engagement und Lernen fast zwangsläufig Fragen des Umgangs, der Einhaltung, der Durchsetzung oder eben auch der Verletzung der Menschenrechte in den Blick. Nachfolgend skizzieren wir zwei beispielgebende Projekte.
Die Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums in Hamburg arbeiten in schulintern angebotenen, jahrgangsübergreifenden Wahlpflichtkursen zum Thema "Menschenrechte". Diese Wahlpflichtkurse sind im Schulcurriculum fest verankert und verfolgen das Ziel, dass die Schüler_innen sich Grundlagen des Projektmanagements, Handlungs- und Partizipationsvermögen, sowie Urteils- und Diskursfähigkeit aneignen. Dies soll über eine Vielzahl an praktischen Auseinandersetzungen mit dem Thema "Menschenrechte" geschehen. Das Engagement für Menschenrechte im Wahlpflichtkurs setzt sich aus den basalen Kenntnissen über Menschenrechte und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) sowie über die Verständigung mit der Zivilgesellschaft zusammen. Es werden kleine und umfassende Projekte dazu durchgeführt: Die Schüler_innen organisieren selbstständig einen Boatpeople-Flashmob in ihrer Stadt, um auf die Belange von Geflüchteten in Hamburg aufmerksam zu machen. Sie veranstalten eine Demonstration gegen Waffenexporte und machen über selbst entwickelte Flyer, Poster und Sticker die Öffentlichkeit auf dieses Problem aufmerksam. Mit der Aktion "Sammeln gegen die Kälte" werden Sachspenden für Obdachlose und Geflüchtete in der Aula der Schule gesammelt, sowie der rollenden Kleiderkammer und der Suppenküche Zongo übergeben, damit sie bedürftige Menschen unterstützen und ihnen den Winter in Hamburg erleichtern.
Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung: Sie mischen sich ein in die öffentliche Meinung zu den Themen Flucht, Migration, Armut und Solidarität in ihrer Stadt durch Aktionen, Flashmobs und Veröffentlichungen. Sie machen mit ihren Aktionen vor allem auf den grundlegenden gesellschaftlichen Wert der Mitmenschlichkeit aufmerksam, der die Quelle aller Menschenrechtssetzungen ist.
Im Schuljahr 2015/16 arbeiteten die Schulen der Stadt, die Mittelschule Münchberg-Poppenreuth und das Gymnasium, in Kontext von "Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage" am Jahresprojekt "Die Herzen der Menschenrechte". Dabei entwarfen Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen eine Wanderausstellung zum Thema, sowie einen interkulturellen Jahreskalender und einen Film. Die Teilnehmenden fanden sich entweder im Klassenverbund oder in Arbeitskreisen und Kleingruppen zusammen und recherchierten zu Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung in Vergangenheit und Gegenwart. Die daraus entstandene Ausstellung basiert auf einem zweiteiligen Konzept: zum einen werden Menschenrechtsverletzungen mittels männlicher und weiblicher Ausstellungsfiguren dargestellt. Zum anderen ergänzt eine Präsentation des kulturellen oder religiösen Lebens diskriminierter Gruppen den sozialen und kulturellen Hintergrund, sowie dort angelegte Herausforderungen und Probleme gegenüber einem modernen Menschenrechtsverständnis. Zudem werden Hintergründe maßgeblicher und gruppenbezogener Menschenrechtsverletzungen aufgezeigt, so etwa die Unterdrückung von Afroamerikaner_innen, Jüdinnen_Juden, Kurd_inen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten, aber auch verfolgte Schriftsteller_innen zur Zeit des Nationalsozialismus und die aktuell anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, die in der Rekrutierung von Kindern als Kindersoldaten liegt. Die Jugendlichen wählten die Themen nach ihren Interessen. Außerdem erstellten die Bewohner_innen der Münchberger Gemeinschaftsunterkunft einen eigenen Beitrag zur Ausstellung durch eine Figur, die ihre Position und Erwartung an ein menschenrechtsadäquates Verständnis von Flucht, Zuwanderung und Migration generell thematisiert.
Die Ausstellung wurde erstmals im Rahmen der Schulfeste an beiden Schulen eröffnet. Sie gab zugleich das Thema beider Schulfeste vor und stieß bei Schüler_innen, Eltern und Besucher_innen auf großes Interesse. Anschließend wanderte sie in der Stadt Münchberg: Die Exponate wurden während eines StreetArtEvents in öffentlichen Einrichtungen und Geschäften der Stadt Münchberg, wie dem Rathaus oder einer Buchhandlung gezeigt. Es wurde diskutiert, so wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema "Menschenrechte" spürbar belebt. Neben der Ausstellung gestalteten die Schüler_innen einen Werbefilm und einen interkulturellen Jahreskalender 2016 mit Bildern ihrer Ausstellung.
Durch die schulübergreifende Arbeit wurden sowohl die sozialen Kompetenzen der Heranwachsenden gestärkt als auch der Fokus der städtischen Öffentlichkeit als Forum einer demokratischen Debatte zum Wechselspiel zwischen dem westlichen Anspruch universeller Menschenrechte und der gegenwärtigen Migrationspolitik in Europa, Deutschland, aber auch vor Ort sichtbar angeregt. Durch die Arbeit mit den Bewohner_innen der Gemeinschaftsunterkunft wurde diese Debatte handfest und praktisch zugleich.
Die beiden Projekte geben eine Anschauung von der Breite möglicher Anknüpfungspunkte und Themen, die die Menschenrechtsbildung einerseits ganz pragmatisch mit in das Lernen einer Schule bringen und die andererseits zugleich dieses Lernen in die Unmittelbarkeit lebensweltnaher und örtlich gebundener Erfahrungswelten setzen. Menschenrechtsbildung ist, vor allem dann lernwirksam, wenn sie Lernen und Möglichkeiten zum Engagement verknüpft. Die Projekte zeigen zudem, dass Menschenrechte kein Abstraktum einer Rechtssetzung alleine sein können, die sich im lokalen Wirkungsfeld und im eigenen Lebensraum von Kindern und Jugendlichen nicht widerspiegeln – im Gegenteil: Menschenrechte und das Lernen für deren Qualität und Durchsetzungserfordernis verbindet sich mit Menschen vor Ort, mit Gesprächen in der Kommune und deren öffentlichem Raum, mit dem Widerspiegeln der großen Politik in der lokalen Welt des Alltagslebens. Und sie lassen sich in ihrer grundlegenden Reichweite für das Lernen, aber auch für eine humane und friedliche Gesellschaft besser darstellen, substanziell in einem durch Erfahrung grundiertes Lernen verankern, wenn man sie nicht als kleinen und scheinbar abgrenzbaren Teil des Curriculums von Recht und Politik als Unterrichtsgegenstand präsentiert, sondern als das, was sie sind und werden, wenn der Einzelne in der Gesellschaft sie beansprucht: die Grundlage einer demokratischen, kritischen und gewaltfreien Gesellschaft, die mit der Vielfalt der Weltgesellschaft friedlich umzugehen versucht!
Beutel, W./Feurich, a./Hofmann, J. (2018): Demokratie lernen in der Schule – Das Förderprogramm Demokratisch Handeln. In: Beutel, W./Tetzlaff, S. (Hrsg.) Handbuch Schülerwettbewerbe zur Demokratiebildung. Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag (im Druck)
Förderprogramm Demokratisch Handeln (Hrsg.) (2016): Gesagt. Getan. Ergebnisse der Ausschreibung 2015. Jena: Förderverein Demokratisch Handeln.
Fritzsche, Karl-Peter (2018): Menschenrechtskultur und Menschenrechtsbildung in Zeiten großer Flüchtlingsbewegungen. In: Förster, M./Beutel, W./Fauser, P. (Hrsg.): Angegriffene Demokratie. Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag (im Druck).
KMK (2000): Empfehlung zur Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.1980 i.d.F. vom 14.12.2000. Bonn.
KMK (2009): Stärkung der Demokratieerziehung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009. Bonn.
KMK (2014): Erinnern für die Zukunft. Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule. Beschluss der KMK vom 11.12.2014. Bonn.
Krappmann, Lothar (2012): Das Menschenrecht der Kinder auf Bildung und Politik. In: Beutel, W./Fauser, P./Rademacher, H. (Hrsg.): Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012: Aufgabe für Schule und Jugendbildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 52-65.