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„Aber es gibt heute keine Antisemiten mehr“, stellten Horkheimer und Adorno 1947 ([1988], S. 209) in den Elementen des Antisemitismus fest. Antisemitismus sei von einer subjektiven Wahl zum Bestandteil einer Denkform geworden, in welcher sich nicht mehr spezifisch auf ihn bezogen werde, sondern in der er bereits immer schon mitgemeint ist: das völkische Denken. Wer dieses „faschistische Ticket“ einmal gezogen habe, steht nicht mehr vor der Wahl Antisemit zu sein, sie ist bereits getroffen. Während Antisemitismus zunächst noch eine „Verzerrung von ziviler Freiheit“ (ebd.: 210) gewesen sei, Stammtischparolen von Liberalen, die ihren Antiliberalismus in die Welt hetzen wollten, wurde er im nationalsozialistischen Deutschland und darüber hinaus zur Selbstverständlichkeit: „wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden.“ (Ebd.) Dieser Wandel von Antisemitismus als spezifisch zielgerichtetem Hass, in dem das Bürgertum ein nicht eingelöstes Versprechen von Freiheit auf den falschen Begriff brachte, zur Weltanschauung, zu einem Bündel von Einstellungen, Wünschen, Ressentiments und Glaubenssätzen wurde historisch vorbereitet. Wie die Historikerin Shulamit Volkov (2000) nachzeichnet, ist die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden im wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik zu einer Art kulturellem Code geworden, einer Plattform auf der sich ganz unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Interessen verbinden. Der Arbeiter, dessen soziale Situation zu wünschen übrig ließ konnte den Schuldigen ebenso im „Juden“ ausmachen, wie der Fabrikbesitzer, der den gewerkschaftlichen Widerstand als von Juden geleitet ansah. Über den geteilten Hass werden die gesellschaftlichen Widersprüche ausgeblendet, und gleichzeitig beinhaltet Antisemitismus damit auch immer mehr als lediglich die gewaltvolle Ablehnung von Jüdinnen und Juden, er verweist notgedrungen auf eine bestimmte Art, sich und die Welt zu deuten.
Gleichzeitig gewinnt das Eingangszitat von Adorno und Horkheimer heute eine weitere Qualität: Es gibt vermeintlich keine Antisemiten mehr, weil niemand mehr Antisemit oder Antisemitin sein möchte. Nach der Zerschlagung des „Dritten Reiches“ hat sich Antisemitismus als politische Programmatik unmöglich gemacht. Wer im öffentlichen Raum nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen werden will, tut gut daran, das Ressentiment gegen Jüdinnen und Juden nicht ungebrochen nach außen zu tragen. Es gibt einen gesellschaftlichen antisemitismuskritischen Konsens, unter dessen Folie das Ressentiment jedoch latent weiterbesteht und sich immer wieder, insbesondere in Krisensituationen, Bahn bricht, nun mehr oder minder chiffriert. Wie Meron Mendel und Astrid Messerschmidt (2017) jüngst bemerkten, ist dieser Konsens von Beginn an fragil. Häufig werden Stimmen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft laut, die Antisemitismus entweder für ein eigentlich bereits erledigtes Problem oder das Problem anderer halten. Die Extremismustheorie leistet dieser Lesart gute Dienste: Antisemitismus wird hier an den sogenannten gesellschaftlichen Rändern verortet und zum Problem einiger weniger demokratiefeindlicher Randgruppen gemacht. Antisemitismus ist aber kein Phänomen, das nur in spezifischen Feldern auftritt, sondern in sämtlichen sozioökonomischen Schichten vorhanden – eben gesamtgesellschaftlich – ist, auch wenn es sich in bestimmten Milieus unterschiedlicher Ausdrucksformen bedient. Antisemitismus an sozialen ‚Rändern‘ zu verorten, ist dennoch eine beliebte Strategie, sich nicht mit dem bedrohlichen Ausmaß auseinandersetzen zu müssen. Die zeitgenössische empirische Vorurteilsforschung, insbesondere Untersuchungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, kommt diesem Bedürfnis entgegen. So stellen etwa Oliver Decker und Kollegen in der vielbeachteten Studie Die enthemmte Mitte 2016 fest, dass der Anteil von Antisemiten in der deutschen Gesamtbevölkerung unter 5% gefallen, also ein Problem relativ weniger sei. (Vgl. Decker et al. 2016: 37) Diese Zahlen, so beruhigend sie auch sein mögen, sind nur mit großer Vorsicht zu genießen. Die Arbeitsgruppe um Decker benutzt zum Beispiel zur Erfassung antisemitischer Ideologie gerade einmal drei Fragen, in denen sekundäre Formen des Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus oder Verschwörungstheorien überhaupt nicht abgefragt werden. Das Instrumentarium ist daher lediglich dazu in der Lage manifest antisemitische Aussagen zu untersuchen und ignoriert verdeckte Formen des Antisemitismus. Diese stellen aber in den sogenannten westlichen Ländern nach 1945 die am häufigsten geäußerten Formen von Antisemitismus dar. In einem späteren Interview räumt Decker diese Unzulänglichkeit der produzierten Zahlen ein und gibt an, man könne mit einem gesamtgesellschaftlichen Anteil von 20 bis 30% Antisemit_innen rechnen (vgl. Bockenheimer 2016). Tatsächlich scheinen diese von Decker nachträglich angegebenen Werte um einiges plausibler zu sein. In der großangelegten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von Andreas Zick und Kollegen Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016kommen die Autoren unter Berücksichtigung von sekundärem und israelbezogenem Antisemitismus zu ähnlichen Ergebnissen. Hier stimmen jeweils circa 25% der Befragten den Aussagen zu: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches ihren Vorteil zu ziehen“ und „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts Anderes, als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ Die Diskrepanz zwischen den untersuchten Werten von manifestem und latentem Antisemitismus deutet auf eine große Unsicherheit der empirischen Einstellungsforschung hin: Es gibt hier kaum Untersuchungen, die sich dezidiert mit Antisemitismus beschäftigen. (Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 53) Das nunmehr paradigmatisch gewordene Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sieht wenig konzeptionelle Unterschiede im Erfassen von Antisemitismus und anderen „Ideologien der Ungleichwertigkeit“ und droht somit dessen Eigentümlichkeit aus dem Blick zu verlieren. Der Herausgeber der Deutschen Zustände, Wilhelm Heitmeyer, charakterisiert etwa spärlich: „[Antisemitismus] richtet sich auf die Abwertung von Menschen jüdischen Glaubens und Herkunft sowie ihrer kulturellen Symbole“ (Heitmeyer 2002: 20). Die Sache aber ist komplizierter: Mit dieser Auffassung sind etwa gängige verschwörungstheoretische Ausdrucksformen von Antisemitismus nicht zu erklären, nach welchen die Juden ganz mächtig seien, besonders klug und gerissen und aus dem Verborgenen das Finanzwesen und die Presse kontrollieren würden. Diese für den Antisemitismus charakteristische Vorstellung von Juden als übermächtig geht nicht einfach in der für den Rassismus typischen Vorstellung von den Anderen als Unterlegenen auf.
Eine andere in der empirischen Vorurteilsforschung derzeit weit verbreitete Annahme ist, dass es sich bei Antisemitismus um einen Othering-Prozess handelt, ein Fremdmachen von Jüdinnen und Juden. Ähnliche soziologische oder sozialpsychologische Modelle liegen bereits in der frühen Antisemitismusforschung mit Talcott Parsons (1942) Diskussion von Antisemitismus als einem Problem von In- und Outgroups sowie in Gordon Allports (1954) Konzeption von Antisemitismus als ein Problem von Kategorisierungen vor. Zweifellos ist das Fremdmachen von Jüdinnen und Juden ein integraler Bestandteil des antisemitischen Ressentiments, jedoch nicht mit diesem identisch. Hinzu tritt etwa die Funktion von Jüdinnen und Juden als Dritten, als Personifizierung dessen, was selbst nicht im Prozess des Fremdmachens aufgeht. Sie sind dem antisemitischen Bewusstsein nicht einfach nur andere, die anders sind, sondern das ganz Andere, was selbst noch die Dichotomisierung der Welt in „ihr“ und „wir“ in Frage stellt. Antisemitismus ist im vollen Wortsinne eine irrationale Ideologie. Auch wenn er bisweilen technisch rationalen Zwecken folgt, etwa wenn er die legitimatorische Grundlage für organisierten Raub wie im Nationalsozialismus liefert, geht er doch nie in diesen auf. Das bedeutet, Antisemitismus lässt sich nicht logisch begründen: Seine Wurzeln sind nicht etwa im tatsächlichen Verhalten von Jüdinnen und Juden oder ihrem Verhältnis zur nicht-jüdischen Gesellschaft zu suchen, und auch nicht – wie heute oft angenommen – in dem der israelischen Politik, sondern vielmehr in einer Persönlichkeitsstruktur, die bestimmte Gesellschaften hervorbringen und die sich auf antisemitische Projektionen stützt, um Zumutungen ihrer Gegenwart abzumildern.
Wenn die nachfolgenden Beiträge dieser Ausgabe der Lernen aus der Geschichte also die Erscheinungsformen von Antisemitismus in bestimmten Milieus beleuchten, so in der Absicht, diese immer ins Verhältnis zur Gesamtgesellschaft zu setzen, die die Ermöglichungsbedingungen von Antisemitismus bereitstellt. Im Folgenden möchten wir diesen Beiträgen noch einige psychodynamische Aspekte dieser Ermöglichungsbedingungen voranstellen und schließlich bildungspraktische Konsequenzen diskutieren.
In der wissenschaftlichen Psychologie wird Antisemitismus zumeist als Vorurteil verstanden, was wie bereits angedeutet, den Gegenstand verfehlt. Ein Vorurteil würde implizieren, es handele sich schlichtweg um falsche Annahmen, die durch ein richtiges Urteil ersetzt werden könnten, so denn genügend Informationen vorhanden wären, ein solches zu fällen. Die Handlungsprämisse, welche häufig aus dieser Annahme abgeleitet wird, ist über das Judentum aufzuklären, begreifbar zu machen, wie es wirklich ist, um antisemitische Mythen zu überkommen. In der Bildungsarbeit wurde darum viel Hoffnung in sogenannte Begegnungsprojekte gesetzt, bei denen jüdische und nicht-jüdische Menschen sich über die jeweils gegenseitige Lebensrealität austauschen. In so guter Absicht diese Projekte auch stattfinden, abseits von einer möglicherweise interessanten oder angenehmen Erfahrung für alle Beteiligten, tragen sie recht wenig bei, Antisemitismus zu bekämpfen. Antisemitismus funktioniert nicht auf einer kognitiven Ebene, sondern auf einer emotionalen, affektiven, die dem bewussten Zugriff vielmals entzogen bleibt. Eine Psychologie, die sich nur auf den offenen Gehalt des Antisemitismus, nicht aber seine unbewussten Quellen richtet, läuft Gefahr seinen Rationalisierungen aufzusitzen und zu glauben, es würde hier wirklich um die Jüdinnen und Juden, oder die jeweils dafür eingesetzte Chiffre (wie z.B. Israel, wenn es für den Weltfrieden oder das Finanzkapital, wenn es für alle sozialen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus verantwortlich gemacht wird) gehen, und nicht um die Antisemitin und den Antisemiten. Der Judenhass sagt nichts über diejenigen aus, auf welche er sich richtet, sondern vieles über diejenigen, die ihn in sich tragen. Anzunehmen, man könne ihm effektiv begegnen, indem seine Verzerrungen gerade gerückt werden, folgt seiner eigenen Logik und führt deshalb notgedrungen bereits im Vorfeld zum Scheitern antisemitismuskritischer Interventionen.
Dass Antisemitismus vor allem Auskunft über die Antisemit_innen gibt, impliziert eine Perspektive auf das Phänomen einzunehmen, die nachvollziehbar macht, wie Anteile des Selbst jemand anderem zugeschrieben werden können: Eine solche Perspektive meinen wir – und auch ein Gros der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung – in der Psychoanalyse zu finden, welche mit ihrem Konzept der Projektion das begriffliche Instrumentarium bereitstellt, diese Wirkweise von Antisemitismus zu fassen. Nach Laplanche und Pontalis Standardwerk Das Vokabular der Psychoanalyse (1973) handelt es sich bei Projektion um eine
"[i]m eigentlichen psychoanalytischen Sinne Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ‚Objekte‘, die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert. Es handelt sich hier um eine Abwehr sehr archaischen Ursprungs, die man besonders bei der Paranoia am Werk findet, aber auch in ‚normalen‘ Denkformen wie dem Aberglauben." (Ebd.: 400)
Es werden also Selbstanteile, die nicht als solche anerkannt werden können, auf andere übertragen, denen dann diese Anteile im Bewusstsein der Projizierenden als Eigenschaften anhaften. Projiziert werden dabei nicht nur, wie vielfach angenommen, Eigenschaften, welche emotional negativ besetzt sind, wie zum Beispiel Ängste, sondern auch Wünsche, Hoffnungen und positive Ideale, die sich selbst nicht eingestanden werden können, etwa weil sie gesellschaftlich verpönt sind. Unschwer erkennen wir etwa im antisemitischen Bild des Juden als Wucherer oder Bankier, der sich an der körperlichen Arbeitskraft anderer bereichert und mit einer Mischung aus Gerissenheit, Faulheit und Unvermögen zu ‚ehrlicher Arbeit‘ zu Wohlstand gelangt, eine Phantasie, die doch einige Attraktivität ausstrahlt: Wie schön, reich zu sein, ohne Arbeiten zu müssen! Nur kann eben dieser Wunsch nach dem guten Leben ohne Mühen nicht als eigener erkannt werden, weil er mit der gesellschaftlich weit verbreiteten Ideologie einer moralischen Notwendigkeit von Arbeit kollidiert – eine Ideologie, die Weber etwa in der protestantischen Ethik beschreibt und die im (nationalsozialistischen) Deutschland besonders wirkmächtig wurde, mit fatalen Konsequenzen (vgl. Axster & Lelle 2018). Die Selbstanteile, welche projiziert werden, sind dabei vielmals nicht eindeutig, was sich etwa darin zeigt, dass es kaum ein antisemitisches Bild gibt, zu dem nicht auch gleichzeitig ein Gegenstück existieren würde: im antisemitischen Bewusstsein sind die Juden mächtig und schwach, patriarchal und verweiblicht, triebhaft und verkopft, gerissen und dumm, nationalistisch und antinational, pazifistisch und kriegstreibend, kapitalistisch und bolschewistisch. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Antisemitismus wirklich eine irrationale Ideologie ist, er schert sich nicht um seine innere Widersprüchlichkeit, funktioniert nicht trotz dieser, sondern durch diese hindurch. Was dort projiziert wird, sind die eigenen Widersprüche im antisemitischen Subjekt selbst, seine inneren Konflikte, seine Ambivalenzen, seine Unsicherheiten, die zu schwer auszuhalten sind, als dass sie zum Bewusstsein durchdringen. Wenn etwa den Jüdinnen und Juden unterstellt wird, sie seien nationalistisch, aber gleichzeitig sei Israel gar keine richtige Nation, sondern ein ‚künstliches Staatengebilde‘ – ganz als ob es natürliche, organische Nationen oder Staaten gäbe –, dann kann sich damit etwa der innere Widerspruch ausdrücken, sich selbst auf eine nationale Identität zu stützen, die aus irgendeinem Grund fragil ist, etwa weil die Nation auf welche man sich beruft sich mit begangenen Verbrechen moralisch diskreditiert hat.
Die antisemitische Projektion strebt danach, sich die Umwelt ähnlich zu machen, das Außen dahingehend zu verändern, dass es mit dem Inneren zur Deckung kommt. Horkheimer und Adorno schreiben in der Dialektik der Aufklärung (1947 [1988]): „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich.“ (Ebd., S. 196) Diese realitätsumbildende Wirkung von Antisemitismus impliziert, dass an den Jüdinnen und Juden gehasst und verfolgt wird, was das Ressentiment zuvor erst produzierte: So wurde Juden in Europa im Mittelalter vielfach untersagt, Handwerksberufe zu ergreifen, woraus der Vorwurf folgte, sie würden keine ‚ehrliche Arbeit‘, sondern lediglich Handelsgewerbe ausüben. Israel wird ständig zum Vorwurf gemacht, sich gegen Angriffe zu verteidigen, und so die eigens erst hervorgerufene ‚Aggression‘ beklagt. Besonders perfide wurde das Bestreben des Antisemitismus, sich die Welt ähnlich zu machen, im Nationalsozialismus, als die Deutschen versuchten, die Juden noch in ihre eigene Vernichtung, etwa durch Etablierung von Judenräten, zu verstricken und damit moralisch so zu korrumpieren, wie es dem antisemitischen Bild der nationalsozialistischen Ideologie entsprach.
Nicht zufällig sprechen Horkheimer und Adorno hier von einem ‚pathischen‘ Charakterzug und nicht etwa einem pathologischen. Der Sozialpsychologe Sebastian Winter (vgl. 2017, S. 32) macht auf diesen Umstand aufmerksam und interpretiert ihn dahingehend, dass gerade die Normalität von Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft, dazu führt, dass dieser nicht zur klinischen Pathologie wird. Während individuelles Verhalten gerade dann als pathologisch gilt, wenn es in Konflikt mit der gesellschaftlichen Normalität gerät und dadurch Leidensdruck produziert , ist Antisemitismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen Bestandteil derselben. Antisemit_innen bewegen sich frei in der Gesellschaft; solange der Ausdruck ihres Ressentiments bestimmten Konventionen folgt, wird er gemeinhin akzeptiert und insbesondere in bedrohlichen Situationen, wie Finanzkrisen oder internationalen Konflikten, zum legitimen Ausdruck von Unzufriedenheit. Antisemitismus fällt in den sogenannten westlichen Ländern lediglich negativ auf, wenn er sich zu deutlich artikuliert. Andernfalls erfüllt er tendenziell die Funktion, den Leidensdruck abzumildern, indem er vermeintlich einfache Ursachen für komplexe Probleme anbietet. In Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) spricht Freud von der „Schiefheilung mannigfaltiger Neurosen“ durch die „Bindungen an mystisch-religiöse oder philosophisch mystische Sekten oder Gemeinschaften“ (ebd., S. 132). Ein Antisemit in einer nicht-antisemitischen Gesellschaft würde für verrückt gehalten werden, wenn er seinen Wahn kundgibt, eine kleine Gruppe jüdischer Verschwörer sei verantwortlich für das Unglück der Welt. Wenn diese antisemitische Phantasie jedoch von einer Masse geteilt wird, gelten die einzelnen eben nicht mehr als verrückt, sondern als vernünftig, und können darüber hinaus ihre inneren Konflikte auslagern und also schiefheilen. Dabei sind diese Konflikte zwar gebrochen über die individuellen Sozialisationserfahrungen, jedoch nicht zufällig, sondern dialektisch mit der Einrichtung der Gesellschaft verknüpft. Wer etwa an dem eigenen Ideal männlicher Identität zu scheitern droht und dieses Scheitern dem vermeintlich verweiblichten Juden überträgt, vollzieht diese Projektion nicht im leeren Raum, sondern in einer Gesellschaft, in welcher dieses Ideal wie auch die Unmöglichkeit es zu erreichen vermittelt wird. Horkheimer und Adorno machen als den maßgeblichen Widerspruch der Gesellschaft und damit als Grund des Antisemitismus den ökonomischen aus: „Der bürgerlicher Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion.“ (1947: S. 182) Im Unterschied zur Feudalgesellschaft, in der die Herrschaft noch personell war, also unmittelbar mit Fürsten und Königen verbunden war, ist diese Gesellschaftsform mit dem Ansteigen der Produktivkräfte, der Säkularisierung und dem gesteigerten Selbstbewusstsein des Bürgertums obsolet geworden. Mit dem Überkommen der feudalen Herrschaft wurde jedoch keineswegs Herrschaft an sich abgeschafft, sondern sie wurde selbst abstrakt im Produktionsprozess, welcher nun die einzelnen Individuen positionierte. Ein Widerspruch in der Moderne liegt nun darin, dass zwar alle formalrechtlich gleichgestellt sind, jedoch letztlich Marktgesetze weiterhin Zwänge ausüben, die dem Auge allerdings verborgen bleiben. Der Vertrag zum Beispiel, den Arbeiter mit Arbeitgebern abschließen, wird rechtlich zwar zwischen Gleichen geschlossen, jedoch kann der Arbeiter unter Umständen gar nicht anders als ihn zu unterschreiben, da er sonst in Armut leben müsste. Das Versprechen bürgerlicher Freiheit kollidierte mit der Produktionslogik einer Gesellschaft, welche diese permanent sabotiert. Wie so oft wurde und wird der Konflikt personalisiert in dem Juden, der für diese Zumutung der Moderne verantwortlich gemacht werden soll.
Was folgt für die bildungspraktische Arbeit aus den vorangegangen Notizen über den pathisch projektiven Charakter des Antisemitismus? Zum einen bedeutet Antisemitismus zu bekämpfen auch immer sich selbst zu reflektieren, danach zu fragen, welche antisemitischen Ressentiments man in sich selbst trägt, um diese in der Praxis nicht zu reproduzieren und schließlich in den Adressat_innen der bildungspraktischen Arbeit einen ähnlichen Prozess anzustoßen. Die Reflexion kann einem niemand abnehmen, auch wenn in der Bildungspraxis oft die Annahme vorherrscht durch den Kontakt mit Jüdinnen und Juden ließe sich Antisemitismus effektiv bekämpfen. Solche Begegnungsprojekte scheitern vielfach daran, dass Antisemitismus das Subjekt gegen lebendige Erfahrung abdichtet. Horkheimer und Adorno schreiben:
„Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat, wird es selbst nicht reicher sondern ärmer. Es verliert die Reflexion nach beiden Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz.“ (1947: S. 199)
Die Reflexion selbst wird durch den Antisemitismus verhindert. Die Antisemit_innen erkennen nicht mehr, was von ihnen kommt und was außerhalb von ihnen ist, und mit dem Verlust dieser Fähigkeit zu differenzieren, verschwimmt auch die Wahrnehmung des eigenen. Wenn das was außerhalb von einem selbst nicht mehr als solches erkannt wird, kann dort auch keine Erfahrung mehr stattfinden, man erfährt dann immer nur noch die eigenen Ressentiments in Gestalt des anderen, alles was diese Person macht, scheint als Bestätigung der eigenen Bilder. Die Erfahrung am anderen, dem Nicht-Ich, ist aber notwendig, um überhaupt auf sich reflektieren zu können. Wer man selbst ist, weiß man nur durch die Begegnung mit anderen. Wenn diese anderen nicht mehr gesehen werden, sondern lediglich Abziehbilder der eigenen Projektionen sind, wird sich somit um die Erfahrung des eigenen betrogen. Pädagog_innen müssen sich selbst ehrlich machen, wenn sie glaubhaft eine antisemitismuskritische Haltung vermitteln wollen, ihre eigenen antisemitischen Anteile und Ressentiments reflektieren, nicht am ‚lebenden Objekt‘ – keine Kibbuz-Reise wird es ihnen abnehmen können – sondern an sich selbst.
Sowohl in der Forschung unter von Antisemitismus Betroffenen, als auch aus der Fortbildungstätigkeit mit pädagogischen Fachkräften zeigt sich, wie schwer es diesen offenbar fällt, Antisemitismus überhaupt als solchen zu erkennen. Das ist natürlich eine wichtige Voraussetzung für den kritischen Umgang mit Antisemitismus und hier scheint es auch um die Frage zu gehen, ob Pädagog_innen und Lehrkräfte diesen überhaupt wahrnehmen wollen bzw. ihn sich bewusst machen. Hier korrespondieren fehlendes Wissen und der Mangel an Reflexionsfähigkeit offenbar miteinander. Um Antisemitismus sinnvoll begegnen zu können, ist es wichtig, sich die Funktionsweise von antisemitischen Ressentiments klar zu machen, denn es geht nicht einfach um Vorurteile, im Sinne eines falschen Urteils über eine Person, dass auf falschen Annahmen beruht, die einfach widerlegt und revidiert werden könnten. Wer dem antisemitischen Stereotyp, alle Juden seien reich, allein entgegenhält, man kenne aber diesen oder jenen Juden und der sei bettelarm, hat die Auseinandersetzung bereits verloren. Es geht nicht darum, ob es Juden gibt, die viel oder wenig Geld haben, sondern es geht darum, welchen psychischen Gewinn es der oder dem Einzelnen bietet, Juden etwa als Strippenzieher eines schwer durchschaubaren Finanzsystems zu imaginieren. Warum ist es der Person, die das Stereotyp verbreitet, so wichtig, dass Juden vermeintlich viel Geld haben? Was bedeutet ihr dieser Umstand, woher meint sie dieses Wissen zu haben, warum hängt sie daran? In der konkreten Situation können diese Fragen dabei helfen, den Fokus zu verschieben, von der Diskussion innerhalb des antisemitischen Gerüchts aufzusteigen in die Diskussion über das selbige. Es wird also nicht nach dem Wahrheitsgehalt der antisemitischen Bilder gefragt, sondern nach ihrer psychischen Attraktivität.
Dabei fällt auf, dass Judenfeindschaft bis weit in die Geschichte und in verstärktem Maße verbunden mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne eine wesentliche Funktion in der Reduktion von Komplexität mittels Schuldzuweisung hatte. Indem „die Juden“ für gesellschaftliche Probleme und soziale Ungerechtigkeiten, für die es keine einfachen Erklärungen gibt, verantwortlich gemacht werden, befreit sich die betreffende Person davon, ihre eigene Rolle zu reflektieren und komplexe auch durchaus widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse durchblicken zu müssen.
Diese Umdrehung der Fragestellung hat zum Vorteil, Antisemitismus auch da ausmachen zu können, wo er sich nur verdeckt äußert, etwa wenn Verschwörungstheorien angeführt werden, Einzelne Personen oder kleine Personengruppen für alles auf der Welt verantwortlich gemacht werden oder wenn behauptet wird der Staat Israel gefährde den Weltfrieden. All diese Bilder ermöglichen es der betreffenden Person, einfache Schuldzuweisungen vorzunehmen, Kritik abzuwehren und vermeintliche Selbstgewissheit zu erlangen. Ein wesentliches Merkmal solcher Denkweisen ist es, dass suggeriert wird, wenn diese ausgemachte „dunkle Macht“ verschwände, wären alle sozialen Probleme dieser Welt gelöst. Die Analyse der subjektiven Funktion von antisemitischen Bildern macht deutlich, dass es wenig Unterschied macht, ob vom „internationalen Finanzjudentum“, von „den Rothschilds“ oder noch abstrakter „der Zinsgeldknechtschaft“ gesprochen wird – diese Bilder bedienen antisemitische Ressentiments, auch ohne dass direkt von Jüdinnen und Juden gesprochen wird. Die Haltung der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit zielt diesbezüglich darauf ab, zu irritieren, vermeintliche Gewissheiten ins Wanken zu bringen und somit einen Reflexionsprozess anzustoßen.
Entgegen der verbreiteten Annahme eines vermeintlich antisemitismuskritischen Konsens‘ in der bundesdeutschen Gesamtgesellschaft, muss davon ausgegangen werden, dass das Ressentiment gegen Jüdinnen und Juden nach wie vor weiter besteht, sich seit 1945 jedoch hauptsächlich über Umwege kommuniziert. Aufgabe antisemitismuskritischer Bildungsarbeit muss es sein, aufzuzeigen, wo die Fragilität, die Brüchigkeit des nach außen repräsentierten, gegen Antisemitismus gerichteten Konsenses zu Tage tritt. Das kann beispielsweise durch einen historischen Rückblick in die Nachkriegsgeschichte erfolgen, mit Hilfe dessen aufgezeigt wird, wie hart die, in erster Linie von Verfolgten des NS-Regimes geführten, Kämpfe um Anerkennung verliefen und wie groß die Widerstände in der deutschen Gesellschaft waren und immer noch sind, die Verbrechen und die Schuld anzuerkennen. Angesichts der seit den 1990er Jahren zunehmend staatstragend gewordenen Erinnerung an die NS-Verbrechen kann dieser Teil der bundesdeutschen Vergangenheit leicht aus dem Blick geraten. Antisemitismus kann erst seit relativ kurzer Zeit als gesellschaftliches Problem skandalisiert werden, wobei sich die Kritik häufig mit der an Rassismus konfundiert. Wenn heute einer Opferkonkurrenz das Wort geredet wird, die zugespitzt formuliert etwa lautet, „die Muslime seien die Juden von heute“, dann muss dem widersprochen werden. Erstens weil es historisch falsch ist: Die Situation von Muslimen und Muslimas heute ist nicht die gleiche, wie die von Juden und Jüdinnen unter dem Naziregime. Zweitens weil hier von diskriminierenden Ideologien und gesellschaftlichen Ausschlüssen Betroffene gegeneinander ausgespielt werden. Besonders perfide wird das dort, wo Angehörige der deutschen Dominanzgesellschaft versuchen, Antisemitismus gegenwärtig als ein Problem darzustellen, das in erster Linie Muslime oder Muslimas betrifft. Aber auch hier gilt es einen Blick zurück zu werfen, denn in der bundesdeutschen Geschichte wurde als eine Form des Schuldabwehr-Antisemitismus immer wieder versucht, Judenfeindschaft als ein Problem erscheinen zu lassen, das lediglich an den Rändern der Gesellschaft existiert, um so die sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft als frei von antisemitischen Ressentiments erscheinen zu lassen. Antisemitismus gibt es in der gesamten Gesellschaft und auch unter Muslimen, also gilt es ihn hier genauso wie in anderen sozialen Gruppen zu kritisieren. Es gilt dabei aber die Gesamtgesellschaft im Blick zu behalten und Formen des Schuldabwehr-Antisemitismus als solche erkennbar zu machen.
All dem sollte auf pädagogischer Ebene damit begegnet werden, das Gleichwertigkeitsprinzip zunächst einmal im konkreten pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen. Darüber hinaus erscheint es aber auch sinnvoll, darauf zu verweisen, dass die soziale Anerkennung von gesellschaftlich Benachteiligten immer mit Auseinandersetzungen und Kämpfen um Anerkennung verbunden war und ist. Denn mit einer solchen Perspektive lässt sich zeigen, wie fragil der vermeintliche antisemitismuskritische Konsens ist und sie verweist zugleich auf eine mögliche gemeinsame Zukunft, in der sich ohne Angst verschieden sein lässt.
Allport, Gordon (1954). The Nature of Prejudice. New York: Basic Books.
Axster, Felix & Lelle, Nikolas (Hrsg.). (2018). „Deutsche Arbeit“. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild. Göttingen: Wallstein.
Bockenheimer, Johannes C. (17.6.2016). Sterben die Antisemiten wirklich aus? Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/politik/mitte-studie-der-uni-leipzig-sterben-die-antisemiten-wirklich-aus/13746210.html (18.4.2018).
Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hg.) (2016): Die enthemmte Mitte: Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Leipzig.
Freud, S. (1921). Massenpsychologie und Ich-Analyse. StA Bd. IX (S. 61–134). Frankfurt a.M.: Fischer.
Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (1947[1988]). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer.
Laplanche, Jean & Pontalis, Jean-Bertrand (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Parsons, Talcott. (1942). The Sociology of Modern Anti- Semitism. In: Isaque Graeber & Stueuart Henderson Britt (Hrsg.), Jews in a Gentile World(S. 101–122). New York: Macmillan.
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Unabhängiger Expertenkreises Antisemitismus (Hg.) (2017): Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Berlin.
Volkov, Shulamit (2017). Antisemitismus als kultureller Code. München: Beck.
Winter, Sebastian (2017). (Un-)Ausgesprochen: Antisemitische Artikulationen in der Alltagskommunikation. In: Meron Mendel & Astrid Messerschmidt (Hrsg.), Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft (S. 27–42). Frankfurt a.M./New York: Campus.
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