Historische Jubiläen führen meist zu einem gesteigerten öffentlichen Interesse. Einzelne fach- oder populärwissenschaftliche Bücher finden reißenden Absatz, Forschungsthesen werden teils detailliert medial diskutiert. Das Thema Erster Weltkrieg bildet hier aktuell keine Ausnahme. Der Blick richtet sich dabei oftmals auf die Entwicklungen und Schauplätze in Europa – Debatten zu „Schlafwandlern“ oder „Brandstiftern“ sind wohl vielen vertraut. Der Lateinamerikahistoriker Stefan Rinke widmet sich einer in diesem Zusammenhang bisher eher vernachlässigten Region und untersucht die „zeitgenössischen Deutungsmuster des Weltkriegs von Lateinamerikanern“ (S.13). War die Region nicht Mittelpunkt der militärischen Auseinandersetzungen, sieht Rinke im Weltkrieg doch einen „globalen Moment, an dem das scheinbar periphere Lateinamerika intensiv teilhatte“ (S.11). Seine Studie ist damit Ausdruck einer geschichtswissenschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre, in der sich zunehmend globale bzw. transnationale Perspektiven etabliert haben.
Die Analyse lateinamerikanischer Re- und Perzeptionen ist außerordentlich breit angelegt und umfasst insgesamt 19 Länder – von Mexiko im Norden bis Chile und Argentinien im Süden. Den sich damit aufdrängenden Fragen nach der „Heterogenität der Erfahrungen und […] Zulässigkeit von Verallgemeinerungen“ (S.13) begegnet Rinke methodisch, indem er sich auf die die Wechselwirkungen zwischen „konkreten lokalen gesellschaftlichen Entwicklungen“ (S.13) und globalen Verflechtungen konzentriert. Rinke versammelt eine Vielzahl an Zeitungsartikeln, Karikaturen, Plakaten und weiteren zeitgenössischen Quellen und verfolgt so den Anspruch, auf insgesamt 347 Seiten „die Bandbreite lateinamerikanischer Erfahrungen zumindest Pars pro Toto“ (S.19) nachzuzeichnen. Dabei geht er chronologisch vor.
Das erste Kapitel fasst die Ausgangslage Lateinamerikas zu Beginn des Ersten Weltkriegs zusammen. Rinke skizziert hier die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und völkerrechtlichen Entwicklungen seit der meist im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erlangten Unabhängigkeit. Er hebt die Bedeutung einer – freilich kontrovers diskutierten – „Idee des Fortschritts“ (S.33) hervor, analysiert lateinamerikanische Identitäten und ordnet die Region „als Bindeglied zwischen Ost und West“ (S.48) geopolitisch ein. Er zeigt zudem Grenzen der Unabhängigkeit auf, welche er neben dem Imperialismus europäischer Staaten vor allem im zunehmenden außenwirtschaftlichen Interventionismus der Vereinigten Staaten begründet sieht.
Im zweiten Kapitel widmet sich Rinke schwerpunktartig „der Aushöhlung der Neutralität“ (S.21) lateinamerikanischer Staaten durch die Kriegsparteien in den Jahren 1914 bis 1917. Neben dem Seekrieg, geheimdienstlichen Auseinandersetzungen und dem Kampf um Telekommunikationsanlagen sieht Rinke vor allem die wirtschaftlichen Folgen des Krieges für die stark exportorientierten lateinamerikanischen Staaten als „stärkste Beeinträchtigung der Neutralität“ (S.77). Besonders empfehlenswert ist hier der Abschnitt zum von den Kontrahenten auf Lateinamerika ausgedehnten Propagandakrieg, dessen Einfluss auf den zeitgenössischen Alltag Rinke anhand einer Vielzahl von Beispielen anschaulich nachweist.
Ein ausgeprägter machtpolitischer Einfluss der Vereinigten Staaten in der Region ist unbestritten und findet sich auch an vielen Stellen des Buches. Der „Sogwirkung“ des US-amerikanischen Kriegseintritts im Jahr 1917 und der Frage, wie dieser in der lateinamerikanischen Öffentlichkeit diskutiert wurde, widmet sich Rinke im dritten Kapitel. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die lateinamerikanischen Regierungen bei der Frage, ob sie ebenfalls auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintreten oder neutral bleiben sollten, „in ihrer großen Mehrzahl […] den eigenen nationalen Interessen“ (S.191) folgten. Lassen sich hier dementsprechend große Unterschiede feststellen, arbeitet Rinke im vierten Kapitel, das sich mit dem Kriegsende, den Friedenskonferenzen und der Gründung des Völkerbundes auseinandersetzt, eher Gemeinsamkeiten heraus. Auf die anfangs vorherrschende Euphorie und im Hinblick auf den Völkerbund „häufig […] überzogenen Erwartungen“ (S.229) folgte schnell die Ernüchterung. Speziell „die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen“ (S.230), die sich in zahlreichen Unruhen und revolutionären Bewegungen äußerten, boten „Anlass zur Sorge“ (Ebd.).
Dem Wandel des lateinamerikanischen Blickes auf Europa widmet sich Rinke im vorletzten Kapitel seines Buches. Vorher noch zivilisatorisches Vorbild, habe sich dieses Bild von der „Alten Welt“ durch den Ersten Weltkrieg grundlegend geändert. Rinke sieht dies vor allem in der Tatsache, dass die lateinamerikanischen Ober- und Mittelschichten beispielsweise durch eigene Kriegsberichterstatter umfassend über den industriellen Charakter des Krieges, seine zivilen Opfer und Kriegsverbrechen informiert waren, begründet. Er führt zahlreiche zeitgenössische Kommentare und schwarzhumorige Karikaturen an, die dokumentieren, wie Europa immer mehr zu einem „Sinnbild der Barbarei“ (S.21) wurde und so seine Vorbildrolle verlor.
Stattdessen kam es verstärkt zu emanzipatorischen Bestrebungen, deren Positionen und Akteuren Rinke im letzten Kapitel des Buches nachgeht. Er arbeitet hier zunächst heraus, dass der Weltkrieg – ähnlich wie in anderen Regionen – „in Lateinamerika […] einem radikalen rechtsnationalistischen Denken Auftrieb“ (S.269) gab, sich zugleich aber auch Gegenbewegungen entwickelten, die vor allem die Frage der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt rückten. Diese Frage prägte auch zunehmend die Debatten über lateinamerikanische Identitäten. Die Diskussionen blieben – ebenso wie die sozialen Bewegungen selbst – nicht auf einzelne Länder begrenzt, sondern stellten vielmehr ein „transnationales Phänomen“ (S.22) dar.
Speziell der in den letzten beiden Kapiteln gut nachvollziehbare „Wandel des globalen Bewusstseins“ (S.304) ist für Rinke Grundlage seiner Schlussfolgerung, dass der Erste Weltkrieg „nicht nur Katalysator, sondern auch Transformator“ (S.304) politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen war. Er rückte mit der sozialen Ungleichheit das Thema in den Mittelpunkt, welches in den folgenden Jahrzehnten die Innenpolitik der lateinamerikanischen Staaten entscheidend prägen sollte. Hätte man sich angesichts der wirtschaftspolitischen Fragen, die sich daraus ergeben, die eine oder andere ergänzende Zahl mehr gewünscht, ist die konsequent durchgehaltene Konzentration auf lateinamerikanische Wahrnehmungen und Deutungen des Weltkriegs zugleich die große Stärke des Buches.
Insgesamt ist Stefan Rinke mit „Im Sog der Katastrophe“ eine gut lesbare und bemerkenswert umfassend recherchierte Studie gelungen, die Lateinamerika in die globalen Zusammenhänge des Ersten Weltkriegs einordnet. Er stellt anschaulich dar, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg auf den Alltag vieler Lateinamerikaner_innen hatte und welche politischen und gesellschaftlichen Änderungen sich daraus ergaben. Das Buch sei daher allen Leser_innen zu empfehlen, die auf der Suche nach Beispielen sind, um den Blick für die Bedeutung des Ersten Weltkriegs außerhalb von Europa und seinen Kolonien zu schärfen.
Stefan Rinke: Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg, Campus Verlag, Frankfurt a. Main 2015, 39,90 Euro.