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„Unzufriedenheit mit den Umständen, Bedrohung der eigenen Lebensqualität, Empathie, Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Veränderungen nicht hinnehmen zu wollen und seine politischen Ansichten verdeutlichen zu wollen motivieren zum Widerstand.“ (Tonka Radisch)
Die eigene Stimme zu erheben, widerständig zu bleiben und zu kämpfen, wenn einem Unrecht begegnet, ist vielen ein wichtiges Anliegen. Doch oft wissen wir nicht, was wir angesichts globaler Ungerechtigkeiten und des Erfolges rechter Parteien weltweit verändern können und wo wir anfangen sollen.
Ein Jugendprojekt an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme beschäftige sich im Frühjahr 2017 mit der Frage, inwieweit der Widerstand gegen den Nationalsozialismus inspirieren kann, heute für eine bessere Welt zu kämpfen. Wir fragten uns: Wie können wir unser Wissen über den Nationalsozialismus und die Opposition gegen ihn in unsere alltägliche, widerständige Praxis einbinden? Welche Inspirationen und Denkanstöße können wir aus der Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Biografien, Geschichten und Erinnerungen von und über Widerstand im Nationalsozialismus ziehen? Wo können wir Bezüge zur Gegenwart herstellen, die für unsere Analyse heutiger Angriffe auf die Demokratie, die Missachtung von Menschenrechten und die Gewalt gegen Andersdenkende hilfreich sind? Wie gehen wir mit Wahlerfolgen rechtspopulistischer Bewegungen weltweit um? Welche Antwort haben wir auf rassistische Hetze und gewalttätige Übergriffe gegen Geflüchtete? Und können wir so unterschiedliche Zeiten überhaupt vergleichen?
Während ein Großteil der deutschen Bevölkerung die nationalsozialistische Ideologie entweder zustimmend übernahm oder als Zuschauer_innen und Mitläufer_innen die Durchsetzung dieser Ideologie beförderten, gab es auch Menschen, die auf unterschiedliche Weise resistent blieben oder aktiv gegen die Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von Menschen(gruppen) kämpften. Widerstandsgruppen bildeten sich, politische Flugblätter, Lieder und Geschichten wurden geschrieben, Verfolgten bei der Flucht geholfen, sabotiert, informiert und vieles mehr. Ob Ungehorsam, bewaffneter Kampf, Verweigerung oder Solidarität: Jede_r hatte Handlungsspielräume, auch im Nationalsozialismus, und trug damit auch die Verantwortung für sein eigenes Handeln.
„Ich denke, die Motivation für den Widerstand kann entweder durch die persönliche, nicht mehr als hinnehmbar erachtete Einschränkung bzw. Diskriminierung erfolgen oder aber durch einen begangenen Bruch der individuellen Wertvorstellung. Der Widerstand setzt ein, wenn die Situation als unerträglich, ungerecht und nicht tolerierbar erachtet wird, das kann bis dahin führen, dass selbst der eigene Tod als mögliche Konsequenz, als erträglicher erachtet wird als das stille Tolerieren.“ (Jana Scheffer)
Zehn junge Menschen beschäftigen sich über einen Zeitraum von knapp zwei Monaten mit dem Thema Widerstand. Neben dem Kennenlernen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und ihrer Geschichte wurde im Rahmen von sieben Studientagen viel gelesen und diskutiert. Parallel zur inhaltlichen Auseinandersetzung ging es um die Umsetzung der eigenen Gedanken und Fragen mithilfe des Mediums Radio. Nach dem Kennenlernen der technischen Tricks und Tücken mussten journalistische Formen gefunden und entschieden werden, wie der Beitrag aufgebaut sein sollte:
Die Recherchen und Auseinandersetzungen wurden von den Teilnehmenden in vier ganz verschiedenen Hörstücken umgesetzt, die mit historischen Originalaufnahmen – gesprochenen Texten, Musik, Geräuschen, Interviewzitaten und Audioausschnitten – arbeiten und sich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen:
Beginnend mit Beispielen von Swingmusik sowie Informationen über die Swing-Jugend, deren Anhänger_innen aufgrund ihres „nicht-deutschen“ Lebensstils verfolgt wurden, über aktuelle Bands wie Die Ärzte oder Irie Révoltés, deren Songs von heutigen Demos gegen Rechts nicht mehr wegzudenken sind, spannt der Beitrag den Bogen zu Esther Bejarano, die durch ihre Arbeit im Mädchenorchester von Auschwitz überleben konnte und bis heute musiziert, unter anderem mit der Hip-Hop-Gruppe Microphone Mafia.
„Was hättest du getan?“ ist die Eingangsfrage dieses mehrsprachigen Beitrags. Verschiedene Menschen geben Statements zu möglichen Widerstandsaktionen und Solidarität ab und beziehen Gruppierungen wie Pegida und den NSU sowie Übergriffe auf Geflüchtete und Obdachlose mit ein, um zu zeigen, dass Widerstand und Solidarität weiterhin notwendig sind. Der Beitrag schließt mit der Frage: „Was tust du dagegen?“
Eines der bekanntesten Beispiele von Widerstand im Nationalsozialismus ist das Attentat auf Hitler durch Claus Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juli 1944. Dass Stauffenberg Antisemit war und lange Jahre unter dem Nazi-Regime Karriere gemacht hatte, bleibt dagegen häufig unerwähnt. Der Beitrag problematisiert dieses Missverhältnis und fragt, warum wir heute jemanden verehren, der unseren Idealen von Demokratie und Antirassismus nicht entspricht.
Kriege werden bis heute damit gerechtfertigt, Frieden schaffen zu wollen. Beispiele hierfür sind: Irakkrieg und Kosovokrieg. Aber dürfen wir im Namen der Demokratie Krieg führen? Gibt es Gewalt, die gerechtfertigt ist? Brecht soll gesagt haben, „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Für Martin Luther King dagegen war der organisierte, gewaltfreie Widerstand die stärkste Waffe der Unterdrückten. Der Beitrag stellt in Frage, ob sich mit gewaltfreiem Widerstand eine Diktatur wie das Nazi-Regime überhaupt hätte überwinden lassen.
Alle vier Beiträge können auf der Homepage der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nachgehört werden.
„Der Widerstand ist die Pflicht des mündigen Bürgersund sein Recht als Individuum. Er wird nötig wenn der Staat in seiner Aufgabe scheitert und nicht länger seinen Dienst an der Gesellschaft tut. Erst durch Widerstand kommt es zu Veränderungen und erst durch Opposition wird die regierende Partei zur Rechtfertigung gezwungen und eine unbedingte Legitimation der Machtverhältnisse in Frage gestellt. Auch der Widerstand im Kleinen innerhalb einer Gesellschaft ist wichtig, da der Staat ja auch nichts anderes ist als die Summe seiner Einzelteile und von ihr geformt wird.“ (Jana Scheffer)
Auf dem Forum „Zukunft der Erinnerung“[1] präsentierten die Jugendlichen gemeinsam mit ihren Teamerinnen Wiebke Elias und Gisela Ewe zwei der vier Radiobeiträge und diskutierten gemeinsam mit den Teilnehmer_innen des Forums, ob man aus der Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus lernen könne und welche Herausforderungen sich aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit an Gedenkstätten und in der Erinnerungskultur ergäben. Im Anschluss wurden vier Workshops angeboten, die das Thema des Jugendprojektes aufgriffen und folgende Fragen diskutierten:
In welcher Situation würdest du gern Widerstand leisten? Was hält dich davon ab, öfter zu intervenieren? Was würdest du brauchen, um dich mehr zu trauen?
Die Angst vor Konsequenzen, aber auch vor Willkür, hält Menschen davon ab, Widerstand zu leisten. Häufig fühlen wir uns hilflos angesichts eines mächtigen Staates oder eines ausbeuterischen Wirtschaftssystems. In der Diskussion darum, wie wir uns selbst und gegenseitig motivieren und stärken können, wurden zahlreiche Ideen und Strategien gesammelt: Positives Feedback, Menschen ansprechen und sich mit ihnen zusammentun, Wissen und Erfahrungen austauschen, sich in die Betroffenenperspektive versetzen, ein Vorbild für andere sein (zu wollen).
Unter dem Stichwort „menschlich bleiben“ wurden einige grundlegende Aspekte diskutiert, unter denen uns der Widerstand gegen den Nationalsozialismus inspirieren kann. Dazu gehört die Unterstützung von Menschen in Not, der Wille, sich zu behaupten oder die solidarische Zusammenarbeit mit anderen. Die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus bieten gerade auch in der Bildungsarbeit die Chance, zu kritischem Denken anzuregen. Gleichzeitig riskieren wir heute nicht mehr unsere Leben, wenn wir in Deutschland protestieren. Moderne Technologien bieten Möglichkeiten zur umfassenden Überwachung und Verfolgung widerständiger Menschen, werden aber gleichzeitig auch von Aktivist_innen genutzt, um den Protest zu organisieren. Kontrovers wurden die Fragen diskutiert, ob in einer demokratischen Gesellschaft Militanz legitim sein kann und ob für aktuelle Proteste der Begriff „Widerstand“ überhaupt angebracht ist.
An welchem Punkt sich eine Aussage oder ein Verhalten jenseits des Erträglichen befindet und nicht mehr akzeptiert werden kann, wird von jedem Menschen individuell beantwortet: Für die einen ist es die Politik Erdoğans oder das Agieren von Neonazis, andere sind der Meinung, dass Rassismus oder Intoleranz generell nicht toleriert werden dürfen. Die Verwendung diskriminierender Ausdrücke, von Verunglimpfungen oder Bedrohungen stellen weitere Grenzen der Meinungsfreiheit dar. Wenn wir uns selbst fortbilden, unseren Wissensstand erweitern, Verbündete suchen oder lernen, problematische Argumentationsstrukturen zu benennen, können wir unser Repertoire erweitern, um zu widersprechen, Position zu beziehen und Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen. Auch Gedenkstätten sollten Orte sein, die politisch Position beziehen und an denen entsprechende Workshops stattfinden.
Nach einem Brainstorming über verschiedenste Widerstandsformen – vom Nicht-Vereinnahmen lassen und solidarisch mit den Opfern sein bis hin zu militärischen Widerstandsaktionen – wurde klar, wie unterschiedlich Widerstand gegen den Nationalsozialismus aussehen konnte und entsprechend nach dem Krieg auch bewertet wurde. Gerade passive Formen von Widerstand waren häufig für Außenstehende nicht zu erkennen oder wurden nicht gleichermaßen wertgeschätzt wie aktive Aktionen. Die Bewertung von Formen politischen Widerstands (kommunistisch, sozialistisch, …) hing zudem immer auch vom aktuellen Ansehen der entsprechenden Partei im jeweiligen Land ab.
Im Rahmen des Jugendprojektes „Stimme erheben, Stimmen bewahren“ wurden viele Fragen diskutiert, einige sind aber auch offen geblieben. Widerstand ist vielfältig und wir sollten ständig darauf bedacht sein, ihn zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Wir müssen uns trauen, bei Ungerechtigkeiten, die wir beobachten, die eigene Stimme zu erheben. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus kann uns inspirieren und motivieren und die Stimmen derjenigen, die damals Widerstand geleistet haben, müssen bewahrt werden.
[1] Ein Bericht zum Forum , das am 1./2. Mai 2017 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, ist hier zu finden: http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/nachrichten/news/bericht-ueber-die-internationalen-gedenkveranstaltungen-2017/