Die Mitgliedschaft in der HJ [Hitlerjugend; d. Verf.] war zwar Pflicht, jedoch muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angehörige der HJ dem NS-Staat zwar gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstanden, aber nicht den Mut hatten, sich der Zwangsmitgliedschaft zu entziehen, da sie die Konsequenzen fürchteten. Manche dürften sich der HJ nur entzogen haben, um der Bevormundung zu entgehen und um ihre Eigenständigkeit zu manifestieren. So trat z.B. die Swing-Jugend in Hamburg betont lässig, aber auch elegant, demonstrativ zivil und smart anstatt „volksdeutsch“ auf. Hier formierte sich eine kulturelle Gegenwelt, die die paramilitärische HJ und die Gestapo provozierte (s. u.). Deshalb sah sich u. a. Himmler zum Eingreifen veranlasst und befahl eine verstärkte Überwachung.
Wie viel mehr musste das System junge Menschen wie den 17jährigen Walter Klingenbeck (geb. 1924) aus München fürchten, der die NS-Propaganda als „politischen Kitsch“ entlarvte und auf den Sieg der Gegenseite wartete, allerdings nicht tatenlos. Mit vielen Aktionen – Anbringen des V-Zeichens an Hauswänden, Verteilen von Flugblättern und dem Bau eines Geheimsenders – stellte er sich bewusst gegen den Nationalsozialismus. Er wurde denunziert und im August 1943 hingerichtet.
Freilich blieb auch bei den Jugendlichen die Tat Sache einer Minderheit. Diese half mit, das zu verwirklichen, was die Weiße Rose in ihrem letzten Flugblatt schrieb: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn die deutsche Jugend nicht endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet.“
Auch wenn die Zahl der Jugendlichen, die sich dem NS-Staat entzogen oder gar entgegenstellten, nicht greifbar wird, so geht aus den vielen bekannt gewordenen Aktionen doch hervor, dass das Regime die Jugendopposition ernst nahm. Jugendliche, die sich den Regeln widersetzten, konnten in spezielle Konzentrationslager eingewiesen werden: Moringen bei Göttingen (seit 1940) für Jungen ab 13 Jahren und Jugendkonzentrationslager Uckermark (seit 1942) für Mäd- chen ab 14 Jahren. Dieses lag in der Nähe des KZ Ravensbrück.
Der Widerstand bzw. die Opposition Jugendlicher gegen das Dritte Reich entwickelte sich spontan. Er war nicht geplant und geregelt wie bei den Jugendorganisationen der SPD oder KPD. In diesen Organisationen wurde der Wider- stand aus einer politischen Motivation heraus geführt. Die Motive der allgemeinen Jugendopposition waren unterschiedlich. Ein Teil der Jugendlichen wünschte sich eine freiere Jugendkultur, ein anderer Teil knüpfte an die Traditionen der 1933 verbotenen bündischen Jugendgruppen an, wieder andere lehnten den Staat aus religiösen Gründen ab. Eine ganze Reihe Jugendliche gingen aus reiner Abenteuerlust in Opposition. Insgesamt wehrten sich die Jugendlichen gegen den immer stärker werdenden Druck des Staates. Der Widerstand der Jugendlichen, von denen viele anfangs der HJ noch positiv gegenüberstanden, verstärkte sich in dem Augenblick, als der HJ-Dienst immer mehr militärischen Charakter annahm. Die Jugendopposition äußerte sich ganz unterschiedlich. Zum Beispiel:
ziviler Ungehorsam (Nichtteilnahme am HJ-Dienst)
• Aufrechterhaltung traditioneller Gemeinschaften
• Nonkonformität
• Ablehnung von NS-Normen (z.B. Herrenmenschentum)
• zum Teil aktiver Widerstand (Sabotage, Flugblattvertei- lung)
Aus den Jugendgruppen ging z. B. die Weiße Rose hervor. Die Jugendopposition wurde vom NS-Regime sehr ernst genommen. Die Gruppen wurden systematisch verfolgt und drakonisch bestraft.
Die Machthaber scheuten sich nicht, Minderjährige mit dem Tode zu bestrafen. Dabei bedienten sie sich auch der Rechtsbeugung. Dem siebzehnjährigen Helmuth Hübener (s. S. 21) bescheinigte man eine über sein Alter hinausgehende Intelligenz und verurteilte ihn als Erwachsenen, was das Todesurteil zur Folge hatte. (nach http://www.shoahproject.org/widerstand/kids/shkidsinx.htm)
Helmuth Hübener (geb. 1925) war, als er gefasst und im Oktober 1942 in Berlin-Plötzensee enthauptet wurde, ein siebzehnjähriger Lehrling in Hamburg. Er war Mitglied der mormonischen Glaubensgemeinschaft „Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“.
Die Informationen, die er aus dem Abhören von Auslandssendern, vor allem der BBC, gewann, verarbeitete er zu ungefähr 60 Flugblättern mit einer Auflage zwischen drei und fünf Stück. Die Flugblätter enthielten Spottverse auf Joseph Goebbels, kritisierten die antireligiöse Haltung der NS-Pro- paganda und rückten die Wehrmachtsberichte zurecht.
Anfang Februar 1942 wurde er von einem Vorgesetzten denunziert und am 11. August 1942 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Seine drei Mitangeklagten erhielten Gefängnisstrafen zwischen vier und zehn Jahren.
In der Urteilsschrift des Volksgerichtshofes werden seine Aktionen sowie seine Persönlichkeit deutlich:
„Im März 1941 brachte der Bruder des Angeklagten Hübener aus Frankreich ein Rundfunkgerät mit und stellte es bei den Großeltern auf, wo H. sich, da seine Eltern berufstätig waren, aufhielt. Der Angeklagte ließ das Gerät reparieren und als er es einspielte, stieß er auf den sogenannten Deutschen Nachrichtendienst aus London. Er hörte die Sendung ab, fand an ihr Gefallen und unterlag ihrer Wirkung derart, dass er sie von nun an vier- bis fünfmal in der Woche um 10 Uhr abends, wenn die Großeltern schliefen, anhörte.“
Seit Sommer 1941 verarbeitete H. den Inhalt der abgehörten englischen Sendungen zu Flugzetteln und Flugblät- tern. „[...] sie enthalten niederträchtige Beschimpfungen und Verleumdungen des Führers, Aufforderungen zu seinem Sturze sowie hetzerische Ausführungen zur Kriegslage. Zwei Flugzettel tragen die Überschriften ,Hitlers Schuld‘ und ,Hitler trägt die alleinige Schuld‘. Sie enthalten die Be- hauptung, dass durch den uneingeschränkten Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung hunderttausend Wehrlose getötet worden seien, dass dieser Luftkrieg aber nicht von der englischen Luftwaffe, sondern vom Führer begonnen worden sei und seitens Englands nur die Vergeltung für Warschau und Rotterdam darstelle.
In einem 5. Flugzettel ,Wer lügt?‘ werden die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht als Lüge hingestellt. In einem weiteren Flugzettel wird behauptet, dass bisher ein- einhalb Millionen Deutsche in Russland gefallen seien. Au- ßerdem wird zum Abhören des Londoner Rundfunks aufgefordert und dessen Sendezeiten angegeben. Zwei weitere Flugzettel sprechen von schweren Verlusten einzelner deutscher Truppenteile in Russland und schieben dem Führer die Verantwortung für das Schicksal der Witwen und Waisen zu [...]. H. stellte insgesamt etwa 60 Flugzettel her.
Zur Anfertigung der Reinschriften und Durchschläge benutzte H. in der Regel eine Schreibmaschine. Das letzte Flugblatt ,Wer hetzt wen?‘ war bei der Festnahme des H. noch in der Schreibmaschine eingespannt [...]. Die Mehrzahl der Hetzschriften versah er mit der Aufschrift: ,Dies ist ein Kettenbrief – und darum weitergeben!‘ [...]“
Bei dem Inhalt der von Hübener verfassten Flugschriften würde niemand vermuten, dass sie von einem erst 16- und 17jährigen Jungen verfasst worden sind. Auch die Überprüfung seines allgemeinen Wissens, seiner politischen Kenntnisse und seiner Urteilsfähigkeit und sein Auftreten vor Gericht ergab durchweg das Bild eines geistig reifen jungen Mannes [...]. Damit war der Angeklagte wie ein Erwachsener zu bestrafen [...]. „Dass bei ihm ein besonders schwerer Fall vorliegt, ist insbesondere darin begründet, dass H. die Flugblätter in einem Arbeiterviertel der Stadt verbreitet hat, in dem infolge der schweren Luftangriffe die Gefahr einer zersetzenden Wirkung besonders groß ist, zumal auch heute noch nicht davon gesprochen werden kann, dass der Marxismus dort völlig ausgerottet ist.“ (nach: KLÖNNE, Arno: Gegen den Strom, Norddeutsche Verlagwesanstalt O. Goedel, Hannover und Frankfurt/Main, Saarbgrücken, 1957)
Dieser Text wurde erstveröffentlicht in der pädagogischen Handreichung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge von Erich und Hildegard Bulitta: „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“: http://www.volksbund.de/bayern/bayern-aktuelles/aktuelles-im-detail/artikel/neue-paedagogische-handreichung-widerstand-gegen-den-nationalsozialismus-des-lv-bayern.html