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Religiöse Bildung ist heute nicht denkbar ohne die Dimension interreligiösen Lernens. Im Zuge von Globalisierung und Ökonomisierung sind sich fremde Kulturen und Religionen näher gerückt. Nicht erst seit dem 11. September 2001 berichten die Medien aufmerksam von religiös motivierten Konflikten auf der ganzen Welt, im gesellschaftlichen Nahbereich hat nicht erst die Flüchtlingskrise und der Zuzug von hunderttausenden nichtchristlichen Migranten zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für fremde Religionen, vor allem für den Islam geführt. Wer in diesem Kontext Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bei der Entwicklung einer religiösen Kompetenz helfen will, die Orientierung, Sinnfindung und Weltdeutungsoptionen möglich macht, der ist auf die differenzierte und konstruktive Auseinandersetzung mit fremden Religionen und ihrem Verhältnis zu eigenem Glauben und eigener Religion angewiesen. In diesem Sinne sind interreligiöse Lern- und Bildungsprozesse, sei es in Schule, Jugendarbeit oder Gemeinde, von elementarer Bedeutung für ein fried- wie respektvolles Miteinander in unserer Gesellschaft.
Der Begriff des interreligiösen Lernens wird in der religionspädagogischen Debatte unterschiedlich verwendet. Das liegt sicher auch daran, dass der Begriff selbst erst seit gut 20 Jahren im Gebrauch ist. Wie er verwendet wird, hängt von pädagogischen und theologischen Perspektiven ab. Vor allem in der evangelischen Religionspädagogik ist es inzwischen üblich, den Begriff des interreligiösen Lernens durch eine grundsätzliche Differenz zur traditionellen Weltreligionendidaktik zu definieren. Die Weltreligionendidaktik war in den 1960er Jahren entstanden und versuchte, Lernprozesse über nichtchristliche, fremde Religionen allein durch Informationen und Instruktion im Rahmen des konfessionellen Religionsunterrichts zu ermöglichen. Spätere evangelische Ansätze sprachen dann aber diesem für das deutsche Schulsystem ‚klassischen’ Lernweg das Prädikat des interreligiösen Lernens ab, weil ihm das Kriterium der ‚authentischen’ Begegnung verschiedener Religionen fehle: „Interreligiöses Lernen ist nur möglich, wo sich Mitglieder verschiedener Religionen tatsächlich in der täglichen Lebenspraxis begegnen und wo sie Gelegenheit haben, sich über ihren Glauben auszutauschen […]. Nur auf diese Weise kann die Authentizität des Lernprozesses behauptet werden, die für das interreligiöse Lernen charakteristisch ist“ (Rickers 2001, 875). Allerdings sind im Folgenden die Voraussetzungen für eine solche Konzeption interreligiösen Lernens, das es z. Z. schulpolitisch nur an Hamburger Schulen gibt, in Frage gestellt worden: „Nicht zuletzt ist die Diskussion um interreligiöses Lernen durch einen pädagogischen Mythos belastet, den Mythos der Authentizität […]. Unter den Bedingungen schulischen Unterrichts, der aus prinzipiellen systemischen Gründen ein artifizieller Lernraum ist und mit dem ‚wirklichen’ Leben selbst nicht identisch sein kann und darf, ist Authentizität immer nur in inszenatorischer Gebrochenheit denkbar“ (Dressler 2003, 117). Jede Begegnung, jeder Dialog und jedes gemeinsame Lernen im Raum Schule finde nämlich in einem formellen Setting, mit dem Charakter der Inszenierung und im Modus des Probehandelns statt: Dies gilt z. B. sowohl für das gemeinsame Erarbeiten von Infopostern zu den abrahamischen Religionen als auch für die inszenierte Diskussion mit verteilten Rollen zur Frage der Speisegebote. Entsprechend folgert Dressler, dass ein in dieser Weise „dialogisch“ konzipierter Religionsunterricht auf Seiten der Schülerinnen und Schüler voraussetze, was er eigentlich erst in seinen Lernzielen erreichen wolle, nämlich die „Dialogfähigkeit“ in Sachen Religion. Gerade Folkert Rickers akzeptiere laut Dressler „interreligiöses Lernen nur unter Voraussetzungen, die allenfalls ein mögliches Resultat interreligiöser Lernprozesse sein können“ (ebd.).
Im katholischen Bereich wird interreligiöses Lernen eher als eine religionsdidaktische Dimension des schulischen Religionsunterrichts gesehen: Hier ist interreligiöses Lernen ein im schulischen Unterricht initiierter und arrangierter Prozess, in dem die bewusste Wahrnehmung, die angemessene Begegnung und die differenzierte Auseinandersetzung mit Zeuginnen, Zeugen und Zeugnissen fremder Religionen eingeübt und entwickelt werden soll (vgl. Sajak 2010b, 264). Dieser Prozess findet sowohl im Rahmen der konfessionellen Lerngruppe als auch in klassen- und schulübergreifenden Lernformaten statt.
Stephan Leimgruber hat in der Neuauflage seines Handbuchs „Interreligiöses Lernen“ versucht, die beiden referierten gegensätzlichen Definitionen des interreligiösen Lernens miteinander zu verbinden, indem er eine Neuordnung der Begriffe vorgenommen hat. Er spricht jetzt vom interreligiösen Lernen „in einem weiteren Sinne“ und „in einem engeren Sinne“ (Leimgruber 2007, 20f.). Zum interreligiösen Lernen im weiteren Sinne gehören alle „Wahrnehmungen, die eine Religion und deren Angehörige betreffen, die verarbeitet und in das eigene Bewusstsein aufgenommen werden“ (ebd., 20). In diesem Sinne kann das Lesen eines Kinderbuchs über das Leben eines jüdischen Jungen zur Zeit Jesu genauso als interreligiöses Lernen verstanden werden, wie die Vorführung einer DVD über den Buddhismus in Tibet.
Interreligiöses Lernen im engeren Sinne geschieht dagegen „durch das Gespräch in direkten Begegnungen. Im Zentrum steht der Dialog, in dem sich beide Gesprächspartner gegenseitig respektieren und zu verstehen versuchen“ (Leimgruber 2007, 21) und der zur Konvivenz, also zum Miteinander in respektierter Differenz führen soll. Ein solches interreligiöses Lernen im engeren Sinne findet somit da statt, wo in besonderer Weise Schülerinnen und Schüler verschiedener Religionen in einen Dialog gebracht werden, wie z. B. im Rahmen des Schulwettbewerbs „Trialog der Kulturen“ der Herbert Quandt-Stiftung (vgl. Sajak 2010a). Es handelt sich hier also um ein Lernen durch die Zeuginnen und Zeugen fremder Religionen. Gerade ein Blick auf die vielen ermutigenden Schülerprojekte des Wettbewerbs zeigt, dass ein interreligiöses Lernen im engeren Sinn gar nicht ohne ein vorausgehendes, ausgiebiges interreligiöses Lernen im weiteren Sinne erreicht werden kann: Ohne die Vorbereitung der Begegnung und des Dialogs durch religionskundliche Unterrichtssequenzen über die anderen Religionen in den konfessionellen Lerngruppen hätte es z. B. kein gemeinsam erarbeitetes Theaterstück mit Angehörigen verschiedener Religionen über die Begegnung der Religionen und auch kein Kochbuch für die abrahamischen Religionen gegeben. Interreligiöses Lernen muss also immer Zeuginnen, Zeugen und Zeugnisse fremder Religionen mit einbeziehen.
Wie aber verhält sich der Begriff des interreligiösen Lernens zum neuen „Paradigma“ eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts? In welcher Beziehung stehen interreligiöses Lernen und interreligiöse Kompetenz? Nun, interreligiöses Lernen, das zu einer bewussten Wahrnehmung, einer angemessenen Begegnung und einer differenzierten Auseinandersetzung mit Zeuginnen, Zeugen und Zeugnissen fremder Religionen führen soll, zielt auf Kompetenz, also auf spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten in Sachen Religion. Dabei sind drei Konstituenten zu identifizieren: Es geht zum Ersten immer um eine Person, die in Lernprozessen befähigt wird, in einer bestimmten Weise zu handeln. Es geht zum Zweiten um Fähigkeiten und Fertigkeiten, in der Sprache der Bildungswissenschaften, also um „basale Kompetenzen“, die es dieser Person ermöglichen, in bestimmten Situationen zu handeln und bestimmte Entscheidungen treffen zu können. Und es geht zum Dritten um Wissen, das den Fähigkeiten zugrunde liegt und an dem diese Kompetenzen erworben und entwickelt werden können. Zusammengefasst formuliert: Es geht um Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit denen Schülerinnen und Schüler sich das Wissen um und über den eigenen Glauben, die eigene Religion, aber eben auch die Glaubensvorstellungen und Lebenspraktiken von Menschen anderer Religionen erschließen und aneignen können. Wer sich die Mühe macht, Schülerinnen und Schüler in der beschriebenen Weise bei interreligiösen Lernprozessen zu begleiten und zu unterstützen, der wird feststellen können, dass diese engagiert und qualifiziert das Gespräch, die Diskussion und die argumentative Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen anderen Glaubens suchen und gestalten können. Voraussetzung ist allerdings, dass sie Arrangements und Formate interreligiösen Lernens angeboten bekommen, die zur Entwicklung ihrer interreligiösen Kompetenz beitragen (vgl. Sajak 2011).
Und der interreligiöse Dialog? Der Begriff des interreligiösen Dialogs wird in der Öffentlichkeit häufig verwendet, wenn es um die Beziehung zwischen den Religionen geht. Aber nicht jede Begegnung und schon gar nicht jedes Mit- oder Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Religionen ist bereits interreligiöser Dialog. So müssen im religionstheologischen Zusammenhang drei Formen des Dialogs unterschieden werden: Auf einer ersten, rein menschlichen Ebene gibt es den Dialog als reziproke Kommunikation, auf einer zweiten, höheren Ebene ist der Dialog eine Haltung des Respekts und der Freundschaft. Interreligiöser Dialog im engeren Sinn muss aber mehr bedeuten: Hier muss es um die ernsthaften und konstruktiven Beziehungen zwischen Personen und Gemeinschaften anderen Glaubens gehen mit dem Ziel, sich gegenseitig zu verstehen und einander zu bereichern, und zwar in Rückbindung an die eigene Wahrheit und im Respekt vor der Freiheit des Anderen.
Dressler, Bernhard (2003), Interreligiöses Lernen – Alter Wein in neuen Schläuchen? Einwürfe in eine stagnierende Debatte, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2, 113-124.
Leimgruber, Stephan (2007), Interreligiöses Lernen. Neuausgabe, München.
Rickers, Folkert (2001), Art. Interreligiöses Lernen, in: Mette, Norbert/Rickers, Folkert (Hg.), Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn, 874-881.
Sajak, Clauß Peter (2010a), Trialogisch Lernen. Bausteine für die interkulturelle und interreligiöse Projektarbeit, Seelze.
Sajak, Clauß Peter (2010b), Das Fremde als Gabe begreifen. Auf dem Weg zu einer Didaktik der Religionen aus katholischer Perspektive, Münster.
Sajak, Clauß Peter (2011), Interreligiöses Lernen – ein Ernstfall für die Kompetenzorientierung, in: Rupp, Hartmut/Hermann, Stefan (Hg.), Jahrbuch für kirchliche Bildungsarbeit 2012 – Bildung und interreligiöses Lernen, Stuttgart 2011, 187-199.