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Wie bei anderen vom NS-Regime verfolgten Minderheiten, beispielsweise den Sinti und Roma, den aufgrund ihrer Homosexualität Verfolgten und den Deserteuren, wurde die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas bis in die 1980er Jahre hinein öffentlich nicht oder kaum zur Kenntnis genommen. Die Betroffenen erfuhren lange Zeit keine Anerkennung, den wegen Kriegsdienstverweigerung abgeurteilten Glaubensangehörigen wurde oftmals eine Entschädigung verweigert, ihre Geschichte blieb zunächst unerforscht und ihre Verfolgung in Gedenkreden unerwähnt. Dies gewiss auch deshalb, weil diese Glaubensgemeinschaft, ihre Missionspraktiken und ihr exklusiver Wahrheitsanspruch in der Gesellschaft auf große Vorbehalte stieß und auch heute noch stößt – trotz der inzwischen durch die Zeugen Jehovas juristisch durchgesetzten Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts und damit ihrer Gleichstellung mit anderen Religionsgesellschaften. Die Kritik an den Zeugen Jehovas und deren Lehre ist aber ein Thema, das nicht den Blick auf den zeitgeschichtlichen Befund verstellen darf, demzufolge die Zeugen Jehovas zweifellos im „Dritten Reich“ und später auch in der DDR, wo sie 1950 verboten wurden, zu den am härtesten verfolgten Minderheiten zu zählen sind.
Wie kam es dazu? Die Anfänge dieser heute weltweit rund 8,2 Millionen Anhänger zählenden Glaubensbewegung reichen bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Die vor bald 150 Jahren in Pittsburgh von dem amerikanischen Prediger Charles Taze Russell verkündete Botschaft, dass Christus für die Menschen unsichtbar wiedergekommen sei, um in naher Zukunft das die Erlösung verheißende „Tausendjährige Reich“ auf Erden zu errichten, fand Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland Anhänger. Am Ende des Ersten Weltkrieges, als die – wie sie damals hieß – „Internationale Bibelforscher-Vereinigung“ im Deutschen Reich in ca. 100 Ortsversammlungen nahezu 4.000 „Verkündiger“ zählte, wurden erstmals – veranlasst durch die zunehmende Zahl von Kriegsdienstverweigerern aus dem Kreise der Bibelforscher – kirchliche und staatliche Stellen auf ihre Aktivitäten aufmerksam.
Seitdem sahen sich die Bibelforscher in Deutschland, deren Zahl in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stark zunahm, heftigsten Angriffen von Seiten der die Bekämpfung des „Sektenunwesens“ propagierenden kirchlichen Apologetik und vor allem von völkischer Seite ausgesetzt. Angriffspunkte bildeten in erster Linie die Predigt vom kurz bevorstehenden Untergang der „alten Welt“ und der sie tragenden Mächte „Politik, Kapital und Kirche“, die scharfe antiklerikale Polemik der Bibelforscher, die Lehre von der Gleichheit der Rassen sowie die „Fremdlenkung“ der Glaubensgemeinschaft aus den USA. Die Nationalsozialisten stellten die vermeintliche Nähe zum Judentum heraus und sahen in den Bibelforschern „Wegbereiter des jüdischen Bolschewismus“, die es unnachsichtig zu bekämpfen gelte.
Die „Zeugen Jehovas“, wie sich die Bibelforscher seit 1931 nannten, wurden als erste Glaubensgemeinschaft bereits ab April 1933 nach und nach in allen deutschen Ländern verboten. Ein großer Teil der damals 25 000 Zeugen Jehovas beugte sich dem Verbot nicht. Trotz des hohen Risikos setzten sie ihren „Verkündigungsdienst“ beharrlich fort, trafen sich weiterhin zu „Bibelstudien“ und stellten im Untergrund ihre Zeitschrift „Der Wachtturm“ und andere Schriften her. 1936/37 wandten sie sich sogar mit mehreren reichsweiten Flugblattkampagnen an die Bevölkerung, um gegen die Einschränkung ihrer Glaubensfreiheit zu protestierten. Das Regime reagierte mit verschärfter Verfolgung, Aburteilungen durch Sondergerichte und der Einlieferung Tausender in Gefängnisse und Konzentrationslager.
Seit 1935, dem Jahr, in dem viele Hunderte Zeugen Jehovas in die Konzentrationslager Esterwegen, Moringen und Sachsenburg eingewiesen wurden, bildeten die Bibelforscher-Häftlinge innerhalb der Lagergemeinschaft – neben Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Regimegegnern sowie den anfangs noch vergleichsweise wenigen „nicht-politischen“ KZ-Gefangenen – eine eigene, gesonderte Gruppe. In den Vorkriegsjahren, als die Belegungszahl in den Konzentrationslagern noch relativ gering war, stellten die Zeugen Jehovas zahlenmäßig eine nicht unerhebliche Gruppe. So betrug ihr Anteil an der jeweiligen Belegstärke der Konzentrationslager 1937/38 in den Männerlagern über 10 Prozent (im Mai 1938 in Buchenwald 11,9 %, in Sachsenhausen 10,7 %), in den Frauenlagern Moringen, Lichtenburg und in der Anfangsphase des KZ Ravensbrück 1939 sogar zeitweilig bei über 40 Prozent. Da Zeuginnen Jehovas nach dem Verbot der Glaubensgemeinschaft an der Untergrundtätigkeit in hohem Maße und teilweise auch in Leitungsfunktionen mitwirkten, waren bei ihnen Frauen in höherem Maße von Verfolgungsmaßnahmen betroffen als bei anderen Gruppen von Regimegegnern. In diesen Anfangsjahren wurden Zeugen Jehovas besonders oft im Lageraufbau eingesetzt.
Schon früh hatte die SS begonnen, sie zu separieren, um die regen Missionsaktivitäten der Zeugen Jehovas zu unterbinden und ihre Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit anderen Gefangenen einzuschränken. In dem 1938 für die Konzentrationslager festgelegten System von Farbcodes wies die SS den „Bibelforscher“ mit dem „lila Winkel“ neben den politischen „Schutzhäftlingen“, den „Asozialen“, den „Kriminellen“ und den „Homosexuellen“ eine eigene Häftlingskategorie zu. Mit der gesonderten Kennzeichnung reagierte die SS auf das sich deutlich von anderen Häftlingsgruppen unterscheidende Verhalten der Zeugen Jehovas. Ihre Unbeugsamkeit und ihre unerschütterliche Glaubenszuversicht ließen sie anfangs zum besonderen Hassobjekt der SS werden, die mit fortgesetzten Misshandlungen die außergewöhnliche Resistenz dieser Gruppe zu brechen versuchte. Zeitweilig wurden sie daher generell in die Strafkompanien eingewiesen, gänzlich von den anderen Häftlingen isoliert und über sie eine totale Postsperre verhängt. Insbesondere zu Kriegsbeginn wütete die SS mit bestialischer Gewalt gegen die Zeugen Jehovas. Im KZ Sachsenhausen richtete die SS im Winter 1939/40 durch Torturen und Hunger 130 Zeugen Jehovas zugrunde. Im KZ Mauthausen starben zwischen Januar und April 1940 von 143 dort inhaftierten Zeugen Jehovas 53, die meisten von ihnen wurden im Steinbruch systematisch zu Tode geschunden.
Trotz derartigen Terrors vermochte die SS den Widerstand der Zeugen Jehovas nicht zu brechen. Nur wenige von ihnen unterschrieben eine „Verpflichtungserklärung“, die ihnen bei Lossagung von ihrem Glauben unter bestimmten Bedingungen die Entlassung aus der KZ-Haft in Aussicht stellte. Als die Konzentrationslager ab 1942 verstärkt in die Rüstungsfertigung einbezogen wurden, verweigerten nahezu alle Bibelforscher-Häftlinge die Mitarbeit bei der Herstellung von Waffen oder anderem Kriegsgerät.
Die Zeugen Jehovas zeigten in den Lagern einen ausgeprägten Selbstbehauptungswillen. Ihr Gemeinschaftsgeist ermöglichte es ihnen, kollektive Strategien des Überlebens herauszubilden und dadurch die Belastungen des Lageralltages zu mildern. Mit anderen Häftlingsgruppen im KZ pflegten die Zeugen Jehovas allerdings keine Zusammenarbeit. Eine Teilnahme an dem von politischen Gefangenen getragenen Lagerwiderstand lehnten sie ab.
In den späteren Jahren verbesserte sich die Lage der Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern zusehends. Angesichts der stark anwachsenden Bedeutung der Häftlingsarbeitskraft waren sie zu begehrten Kräften geworden, denn die SS schätzte ihren Fleiß und die Sorgfalt, mit der sie die erteilten Aufträge – sofern diese nicht ihren Überzeugungen widersprachen – zu erledigen pflegten. Da die Zeugen Jehovas aus Glaubensgründen eine Flucht aus dem Lager ablehnten – sie sahen ihr Schicksal ganz in die Hand Gottes gelegt –, wurden sie gern außerhalb der Lager an schwierig zu überwachenden Arbeitsplätzen und in so genannten „Vertrauensstellungen“ eingesetzt, so auch in SS-Sanatorien oder Heimen des Lebensborn. Vergleichsweise gute Bedingungen hatten auch jene Bibelforscher-Häftlinge, die in den letzten Kriegsjahren zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft in den zur SS-eigenen „Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH“ gehörenden Betrieben abkommandiert wurden.
Die verbesserte Lage bildete die Basis für eine verstärkte Fortsetzung ihrer Aktivitäten auch innerhalb der Gefangenschaft. Die Zeugen Jehovas trafen sich in den Konzentrationslagern heimlich zu „Bibel- und Wachtturm-Studien“, feierten Gottesdienste und setzten selbst innerhalb der Lager alle Bemühungen daran, für ihren Glauben neue Anhänger zu gewinnen. In den letzten beiden Kriegsjahren gelang es Zeugen Jehovas sogar, zeitweilig zwischen den verschiedenen Lagern ein Kuriernetz aufzubauen. Dabei wurden Berichte von jenen Häftlingen, die tagsüber zu Arbeiten außerhalb der Lager abkommandiert waren, herausgeschmuggelt. Die Texte wurden von nichtinhaftierten Zeugen Jehovas vervielfältigt und weiterverbreitet. Die so entstandenen „Mitteilungen“ gelangten anschließend auf dem umgekehrten Weg in andere Lager hinein. Berichte aus den Konzentrationslagern erreichten sogar das Zentraleuropäische Büro der Wachtturm-Gesellschaft in der Schweiz, teilweise wurden sie dann in den Zeitschriften veröffentlicht.
In den besetzten oder mit dem Deutschen Reich verbündeten Ländern wurden die Zeugen Jehovas ebenfalls verfolgt und viele von ihnen getötet. Zum Umfang der Verfolgung lassen sich folgende Angaben erheben: Allein in Deutschland waren 10 700 Zeugen Jehovas von Verfolgungsmaßnahmen wie Entlassungen, Rentenentzug oder Wegnahme der Kinder betroffen. Über 8800 deutsche Zeugen Jehovas wurden inhaftiert, davon 2800 in Konzentrationslagern, unter ihnen nahezu 1000 Frauen. Tausende weiterer Verhaftungen kamen in den besetzten europäischen Staaten hinzu. Insgesamt mussten – soweit namentlich bekannt – 4100 Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern den lila Winkel tragen, darunter ungefähr 1300 Zeugen Jehovas aus den Niederlanden, aus Österreich, Polen, Frankreich und anderen Ländern. Ungefähr jeder vierte der „Bibelforscher-Häftlinge“ kam in der KZ-Haft ums Leben. Unter den 500 ausländischen und 950 deutschen Todesopfern befanden sich 300 Zeugen Jehovas, die aufgrund einer wehrmachtgerichtlichen Verurteilung wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet wurden.