Bereits im Jahr 2007 ist eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, http://www.dfg.de/) geförderte Studie erschienen, in deren Rahmen die Potentiale des Schulunterrichts sowie in Gegenüberstellung dazu die Möglichkeiten der außerschulischen Jugendbildung für die Vermittlung sozial gültiger Werte und Normen untersucht wurden. Die Mitarbeiter_innen des Projekts hatten sich damals an drei Strukturproblemen (Paradoxien) orientiert und daran anknüpfend unterschiedliche Formen pädagogischer Kommunikation untersucht: Demnach ist es zum einen den Erziehenden nicht möglich, die Übereinstimmung von Absicht und Wirkung ihrer Tätigkeit zu kontrollieren. Sie können lediglich versuchen, die Wahrscheinlichkeit der Annahme des an die Zielgruppe vermittelten Stoffes durch geeignete didaktische, methodische und organisatorische Anordnungen zu erhöhen. Zweitens steht politisch-moralische Erziehung vor der Herausforderung, nicht bloß die Aneignung kognitiven Wissens, sondern die verbindliche Annahme von Werten zum Ziel zu haben, gleichzeitig aber die Autonomie der Adressat_innen nicht gefährden zu dürfen. Drittens muss sie in einer pluralistischen Gesellschaft ohne Wertekonsens auskommen und droht dadurch mitunter in Legitimierungsnöte zu geraten.
An dem Projekt war neben Weiteren die Sozialpädagogin Verena Haug beteiligt, die wissenschaftlich, konzeptionell, pädagogisch und publizistisch in und über Gedenkstätten arbeitet. Aufbauend auf der DFG-Studie und in Übernahme ihrer theoretischen und methodischen Grundlagen hat sich Verena Haug im Rahmen ihrer Dissertation intensiv mit den Herausforderungen der Gedenkstättenpädagogik unter den oben genannten Umständen beschäftigt. Ihre Beobachtungen zur pädagogischen Interaktion an Gedenkstätten hat Haug in ihrer Dissertationsschrift „Am ‚authentischen‘ Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik“ zusammengefasst.
Ziel der Autorin ist es, das Forschungsinteresse weg von den Empfänger_innen historisch-politischer Bildung hin zu den Vermittler_innen, insbesondere aber auf das Zusammenspiel zwischen beiden zu verschieben. Der mangelhafte Forschungsstand macht demnach gedenkstättenpädagogische Kommunikation zu einer „black box“ (S. 17), deren Lüftung das zentrale Anliegen der Arbeit darstellt. Die in der DFG-Studie formulierten allgemeingültigen Paradoxien politisch-moralischer Erziehung konkretisiert die Autorin für den Lernort Gedenkstätte und beschreibt die Kommunikationsformen, die sich unter diesen Besonderheiten entwickelt haben. Leitfragen der Arbeit sind etwa, wie sich vor Ort entstehende neue Lernsituationen auf den Ablauf der Bildungsveranstaltungen auswirken oder wie der Lerngegenstand und der Ort selbst kommunikativ hergestellt werden. Ein kritischer Blick auf die Rolle der „Authentizität“ des historischen Ortes rückt dabei die Wirkungskraft pädagogischer Angebote in den Mittelpunkt.
Zu diesem Zweck hat Verena Haug Veranstaltungen im schulischen Rahmen mit einer Dauer zwischen drei Stunden und fünf Tagen (seitens der Gedenkstätten als Studienbesuch, Studientag, Projekt, Langführung, Tages- oder Mehrtagesveranstaltung bezeichnet) in fünf namentlich nicht erwähnten KZ-Gedenkstätten begleitet und audiotechnisch festgehalten. Die Aufzeichnungen werden im Buch einer intensiven Gesprächsanalyse unterzogen.
Zunächst sorgt die Autorin für den theoretischen Hintergrund, beginnend mit der Betrachtung von Gedenkstättenpädagogik aus historischer Perspektive, sowohl für deren Entwicklung in der DDR als auch in der alten Bundesrepublik sowie im wiedervereinten Deutschland. Der Verschmelzung der „‘Geschichte von oben‘ mit der ‚Geschichte von unten‘ nach 1989 zu einer neuen Nationalerzählung“ schreibt Haug besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung von Gedenkstätten „insbesondere auch in ihrer Funktion als öffentliche Bildungseinrichtungen“ (S. 19) zu. Das daran anschließende Kapitel kontrastiert öffentliche Erwartungen an den Lernort Gedenkstätte zu den mit der Selbstbeschreibung von Gedenkstättenpädagogik einhergehenden Aufgaben und Zielen. Die Auswertung der Forschungsergebnisse erfolgt nach Offenlegung der empirischen Methode und Vorstellung der beobachteten Veranstaltungen in den Kapiteln V bis X.
In diesem Hauptteil des Werkes richtet sich der Blick zuerst auf die Herstellung der sozialen Ordnung zwischen Pädagog_innen, Schüler_innen und dem sie begleitenden Lehrpersonal am neuen Lernort. Dabei kristallisieren sich neue Formen der Arbeitsteilung zwischen Gedenkstättenmitarbeiter_innen und Lehrer_innen heraus: Während Letztere für Ablauf und Inhalt der Veranstaltungen nahezu überflüssig werden, obliegt ihnen der formale Überblick über die Gruppe sowie die Zuständigkeit für die sozialen Bedürfnisse der Schüler_innen. Die Mitarbeiter_innen dagegen profilieren sich durch ihre Expertise von Ort und Thema und tragen durch die kommunikative Herstellung des Ortes aktiv zu seiner emotionalen Aufladung bei. Diesem Vorgang lässt die Autorin besondere Aufmerksamkeit zukommen, zeigen die von ihr genutzten Fallbeispiele doch, dass die Erwartungen der Schüler_innen an den Ort keineswegs die alternativlose Grundlage der Veranstaltungen bilden, sondern dass erst „in den gedenkstättenpädagogischen Arrangements interaktiv die ‚Besonderheit‘ der Orte als gemeinsame Grundlage erzeugt“ (S. 176) wird. Die Pädagog_innen stehen dabei vor der Herausforderung, auf die Wirkung des Ortes nicht verzichten zu können, gleichzeitig aber die ihnen anvertrauten Teilnehmer_innen emotional nicht überfordern zu dürfen.
Die Wirkung des Ortes zeigt sich eindrucksvoll an seiner Verwendung zu Motivations- und Disziplinierungszwecken. Dabei werden Disziplinierungen, etwa durch den Verweis auf das Leiden der Opfer an selber Stelle, von allen Beteiligten auf ganz unterschiedliche Weise initiiert. „Die didaktischen Interessen und Entscheidungen der Pädagog_innen werden [dadurch] kommunikativ unsichtbar gemacht und verschwinden gewissermaßen hinter angeblichen Erfordernissen des Ortes“ (S. 205). Nicht nur hierbei zeigt sich jedoch auch die Schwierigkeit, Balance zwischen mitunter widersprüchlichen Aufgaben von Gedenkstättenpädagogik zu wahren: In gleichem Maße, in dem ihr die moralische Erziehung der Teilnehmer_innen obliegt, trägt sie die Fürsorgepflicht für das Vermächtnis der ehemaligen Häftlinge. Zuletzt begleitet die Studie die Pädagog_innen bei dem Versuch, während des abschließenden Gedankenaustausches den Lern- bzw. Erziehungserfolg der Veranstaltung abzuschätzen. Nicht zuletzt die Erkenntnis der Autorin, dass bereits zu Beginn der Seminare gemeinsame Wertgrundlagen formuliert wurden, schließt dabei sichere Aussagen darüber aus, ob im Rahmen der Rückmeldungen „tiefste Überzeugungen bekundet oder sozial erwünschte Antworten gegeben werden“ (S. 280).
Die Gesprächsanalysen von Verena Haug erweitern das Forschungsfeld um eine Perspektive, die es in dieser Form bislang nicht gegeben hat. Auch wenn die Beobachtung von fünf Veranstaltungen freilich keine allgemeingültigen Schlüsse zulässt, bringt sie doch aufschlussreiche Aspekte zur besonderen Situation an Gedenkstätten ans Licht, etwa zur doppelten pädagogischen Rahmung aus Mitarbeiter_innen und Lehrer_innen, zum Gegensatz von planerischer Vorbereitung und individueller Abstimmung der Veranstaltungen oder zum doppelten Anspruch, Erziehung und Gedenken gleichermaßen zu betreiben. Letztlich kommt Haug zu dem naheliegenden Schluss, dass die „Authentizität“ des Ortes allein nur wenig Wirkung auf die Besucher_innen auszuüben vermag: „Geschichten müssen erzählt werden, und diese Erzählungen liefern mehr als Inhalte. Sie bringen nicht lediglich Steine zum Sprechen, sondern sie interpretieren die Steine auch. Sie laden sie mit Bedeutungen auf, die nicht nur das historische Geschehen erläutern, sondern auch zu bestimmtem Verhalten bewegen, Aufmerksamkeit erzeugen oder zum Durchhalten motivieren können“ (S. 290). Da die Arbeit darüber hinaus überaus zielführend strukturiert ist, stellt sie eine geeignete Basis für die weitere Erforschung der Kommunikationsprozesse an Gedenkstätten dar.