Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Internationale Bildungs- und Begegnungsprogramme sind ein wichtiger Teil der pädagogischen Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Der Ort nationalsozialistischer Massenverbrechen wird in diesem Kontext wie in anderen Zusammenhängen Ort des gemeinsamen historischen Lernens aber eben auch des Kennenlernens Gleichaltriger aus unterschiedlichen Regionen bzw. Kulturen.
Das Jahr 2015 war für die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in vielerlei Hinsicht ein besonderes Jahr. Die Befreiung des Konzentrationslagers jährte sich zum 70. Mal, historische Hinterlassenschaften des Lagers wurden im Rahmen der Neugestaltung des Außengeländes wieder sichtbar gemacht und die Neueröffnung des Bildungszentrums mit mehreren professionell ausgestatteten Seminarräumen verbesserte die Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit vor Ort.
Nicht nur die notwendige Infrastruktur stand damit seit 2015 zur Verfügung. Die Gedenkstätte hatte in diesem Jahr auch die nötigen finanziellen Mittel, um mehrtägige Programme mit einem internationalen Teilnehmer_innenkreis planen und durchführen zu können: Im Rahmen der Bayerisch-Israelischen Bildungskooperation (BIBIKO) wurden durch den Bayerischen Jugendring 2015/16 unter anderem zwei Pilotprojekte gefördert, die gezielt neue Konzepte für die Bildungsarbeit in Flossenbürg erprobten. Zum einen fand im September 2015 ein dreitägiger internationaler Fan-Austausch statt. Jugendliche Fußballfans aus der tschechischen Stadt Liberec und der deutschen Stadt Augsburg nahmen daran teil. Damit trafen in Flossenbürg Angehörige einer besonderen Peergroup aufeinander, die das gemeinsame Interesse am Fußball verbindet und die sich in ihren Szenen häufig mit rechtsradikalen oder neonazistischen Strömungen konfrontiert sehen. Gemeinsam mit dem Fanprojekt Augsburg entwickelte die KZ-Gedenkstätte für dieses Format ein Programm, das sowohl die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Konzentrationslagers und seinen Nachwirkungen beinhaltete als auch die Gelegenheit zum Austausch über szeneeigene Aktivitäten gab.
Das zweite, hier im Mittelpunkt stehende Pilotprojekt, eine fünftägige Workshop-Woche unter dem Titel „Formen finden: Geschichte erfahren und Erinnerung gestalten“, fand im Juli desselben Jahres statt.
Während sich der Internationale Fan-Austausch an eine besondere Peergroup richtete und die Inhalte gezielt auf sie abstimmte, bot die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg im Rahmen der Workshop-Woche ein Programm mit einem besonderen methodischen Schwerpunkt an, nämlich der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Konzentrationslagers. Die notwendige Wissensbasis wurde den Teilnehmer_innen durch drei einleitende Programmpunkte vermittelt: Zunächst setzten sich die jungen Erwachsenen aus Israel, der Tschechischen Republik und Deutschland anhand von Fotografien aus der NS-Zeit mit ihren kulturell oder persönlich geprägten Vorstellungen vom Nationalsozialismus auseinander. Im Rahmen von begleiteten Rundgängen über das historische Gelände wurde außerdem die Entstehung und die Entwicklung des KZ Flossenbürg zwischen 1938 und 1945 vermittelt und auch ein exemplarischer Einblick in das Leben der Opfer dieser nationalsozialistischen Haftstätte gegeben. Bevor sich die Teilnehmer_innen in den Workshops auf die Auseinandersetzung mit den neu gesammelten Eindrücken konzentrierten, bot ihnen im Anschluss ein illustrierter Kurzvortrag eine Einführung in die Bedeutung der Kunst für Häftlinge des Konzentrationslagers, die dieses Medium sowohl während der Haftzeit als auch danach als Mittel der Selbstbehauptung oder zur Dokumentation des Erlittenen nutzten.
Vom dritten bis zum fünften Tag stand das Bildungs- und Begegnungsprogramm ganz im Zeichen der beiden angebotenen und frei wählbaren Workshops: einem Workshop „Fotografie“, durchgeführt von Mark Mühlhaus sowie einem Workshop „Tanz“, der von Alan Brooks geleitet wurde. Im Vergleich zur gemeinsamen Hinführung waren die Workshop-Phasen noch stärker von einer eigenaktiven, kooperativen, selbstverständlich kognitiven, aber eben auch emotionalen Herangehensweise geprägt. Ausgehend von selbst gewählten thematischen Schwerpunkten konnten die jungen Erwachsenen auf die Suche nach einer adäquaten körperlichen oder bildhaften Form gehen, um ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Am Ende dieser intensiven gemeinsamen Auseinandersetzung stand am fünften und letzten Tag der Veranstaltung eine Präsentation der künstlerischen Produkte vor allen Programmteilnehmer_innen, die zum Abschluss auch den nötigen Raum für die gemeinsame Reflexion und Diskussion über die Resultate bot.
Häufig diskutiert wurde und wird, dass historisches Lernen an schulischen wie außerschulischen Lernorten durch kognitive Aneignungsprozesse dominiert ist. Geschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge werden beispielsweise anhand von historischen Text- oder Bilddokumenten erarbeitet oder durch eine Geschichtserzählung näher gebracht, die im Fall der KZ-Gedenkstätten mit Hilfe baulicher Überreste veranschaulicht werden kann. Ein Programm mit einem künstlerisch-kreativen Schwerpunkt wirkt dieser Tendenz entgegen, muss sich im Gegenzug aber auch Fragen gefallen lassen: Etwa, ob das historische Lernen, das Begreifen historischer Zusammenhänge hinter den Versuch zurücktritt, ein attraktiveres, abwechslungsreicheres Programm zu bieten. Wird der Forderung nach methodischer Vielfalt letztlich zu großes Gewicht eingeräumt? Muss der Inhalt also in gewisser Weise dem Wunsch nach neuen Formen Platz machen?
Völlig verzichtbar ist eine grundlegende Wissensaneignung vor Erprobung kreativer Formen nicht. Die Phase einer kognitiv geprägten Orientierung innerhalb der Geschichte der NS-Zeit und die Einführung in die historischen Ereignisse im KZ Flossenbürg waren deshalb auch für dieses Programm die notwendige Basis. Die Arbeit in den Workshops baute also auf eine ausführliche inhaltliche Hinführung auf, die unabhängig von der Schwerpunktsetzung eines mehrtägigen Programms auch den Interessen und Erwartungen der Teilnehmenden entsprach. Das Angebot einer intensiven künstlerisch-kreativen Beschäftigung mit dem neu angeeigneten Wissen bot den Teilnehmer_innen danach einen zusätzlichen Zugang, der den Prozess der Auseinandersetzung mit den neuen Eindrücken intensivierte, vertiefte und außerdem die Gelegenheit gab, sich selbstbestimmt mit möglichen Formen des Erinnerns an das Geschehene zu befassen. Die Vorteile des kreativ-künstlerischen Ansatzes gerade für internationale Bildungs- und Begegnungsprojekte liegen dabei auf der Hand. Angebote, die nicht auf Texten basieren, erleichtern die Zusammenarbeit trotz bestehender Sprachbarrieren. Und kreative Workshops, die auf Eigenaktivität und Kooperation der Teilnehmer_innen ausgerichtet sind, befördern das Ziel, einen Raum für die Kontaktaufnahme und den Austausch in multinational zusammengesetzten Gruppen zu schaffen.
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Ergänzend zu diesem Beitrag beschreibt Alan Brooks seine Erfahrungen und Reflexionen im Tanzworkshop des Pilotprojekts: Dancing into the past, dancing into the future.