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In Perm, etwa 1.200 Kilometer nordöstlich von Moskau, liegen die vielschichtigen Erinnerungen an das sowjetische Gulag-System nahe beieinander. Während in der Innenstadt ein Gedenkstein an die in „Kriegs- und Friedenszeiten gefallenen Mitarbeiter des Strafvollzugssystems“, also die Täter, erinnert, hat „Memorial“ im Jahr 1996 in einiger Entfernung zum Stadtzentrum nach Jahren des Kampfes auch ein Denkmal für die Opfer des Lagerkomplexes errichten können. „Memorial“, eine international renommierte russische Menschenrechtsorganisation, widmet sich u. a. der historischen Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft in Russland und den Überlebenden des sowjetischen Arbeitslagersystems, der sogenannten Gulags. Seriöse Forschungen gehen davon aus, dass in der Sowjetunion rund 30 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit und Verbannung gewesen sind, vorsichtige Schätzungen beziffern die Zahl der Toten auf ca. drei Millionen.
Dieses Nebeneinander von scheinbar gegenläufigen Täter- und Opfererinnerungen an den Gulag belegt die Schwierigkeit, im heutigen Russland die Verbrechen des Stalinismus zu benennen: Es gibt bisher kein einheitliches Narrativ für den Stalinismus, Täter und Opfer sind oft nicht leicht zu unterscheiden, Täter wurden später oft selbst Opfer, denn es kennzeichnete das System, dass alle Menschen zu Opfern werden konnten. Zudem waren große Bevölkerungsgruppen auf verschiedene Weise Teil des Herrschaftssystems. Es gibt Opfer, die jahrelang im Gulag Schreckliches erlitten haben und dennoch gläubige Anhänger des Systems blieben. Daher konnten in Russland bisher kaum gesellschaftlich, politisch oder gar juristisch anerkannte Kategorien für Opfer und insbesondere für Täter des untergegangenen Sowjetsystems etabliert werden.
Somit gibt es, anders als bei Verbrechen wie etwa Völkermord, keine kollektive Identität der Opfer und damit oft nur kleine Splittergruppen mit homogenen Erinnerungsnarrativen, die die Basis für zivilgesellschaftliche Initiativen wie „Memorial“ bilden können. Aufgrund der Marginalität solcher Initiativen in Russland sind diese gezwungen, den Fokus von zumeist regional begrenzter Erinnerung und Aufarbeitung allein auf die Opfer und nicht auf die Täter zu richten, denn dies birgt deutlich weniger Konfliktpotential. Bis heute gibt es in Russland keine zentral(staatlich)e Aufarbeitung.
Die an der Grenze zu Sibirien gelegene Region Perm hat eine bis in die Zarenzeit zurückgehende Tradition als Gefangenenlager und Verbannungsort. Seit der Stalinzeit war die Gegend von einem engmaschigen Netz von Gulags überzogen, und nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ kamen Kriegsgefangenenlager, insbesondere für deutsche Soldaten, hinzu. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden im Permer Gebiet einige der wenigen streng geheimen Sonderlager für politische Gefangene und Dissidenten eingerichtet. Gerade aufgrund der massiven Präsenz des sowjetischen Repressionsapparats in der Region bildeten sich schon während der Perestroika Bürgerinitiativen, die sich die Aufarbeitung der Vergangenheit und später die Bekämpfung der einseitigen Geschichtspolitik des neuen russischen Staates unter Wladimir Putin zur Aufgabe machten. So entstand in der Region Perm eine russlandweit einzigartige Erinnerungslandschaft.
Wichtigster Kristallisationspunkt der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung während der Sowjetzeit in Russland ist die 1994 von einer zivilgesellschaftlichen Initiative in Zusammenarbeit mit „Memorial“ gegründete Gedenkstätte „Perm-36“, ein einzigartiges Zeugnis des sowjetischen Terrors. Die Einrichtung ist das einzige Gulag-Museum auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, das sich auf dem Gelände und in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Arbeitslagers befindet – auch damit auch das einzige überhaupt erhaltene ehemalige Arbeitslager für politische Gefangene.
Der Lagerkomplex entstand Anfang der 1940er Jahre, die Abteilung für politische Häftlinge schloss erst im Dezember 1987 ihre Tore – als letzte der gesamten Sowjetunion. In der Endphase des Lagers saßen hier vornehmlich Aktivisten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen aus der Ukraine und dem Baltikum sowie Oppositionelle ein.
In den letzten zehn Jahren wandelte sich „Perm-36“ unter zivilgesellschaftlicher Leitung von einem regionalen Erinnerungsort im Uralvorland zu einem Museum, Mahnmal und Weiterbildungszentrum mit internationaler Reputation. Praxiskurse für Lehrende und Multiplikatoren, Sommerschulen für Museologen und Jugendbegegnungen fanden dort ebenso statt wie internationale Fortbildungsprogramme für Fachkräfte der schulischen und außerschulischen Bildung, oft in Kooperation mit internationalen Partnern. Auch das dort zuletzt jährlich stattfindende zivilgesellschaftliche Forum „Pilorama“ sorgte in den letzten Jahren für positive Entwicklungen: Menschenrechtler_innen, Wissenschaftler_innen, Künstler_innen, Politiker_innen, Journalist_innen, sowjetische Dissident_innen und ehemalige Häftlinge des Lagers aus dem In- und Ausland kamen zusammen, um über den Stand der historischen Aufarbeitung des Sowjetregimes sowie über die aktuelle Entwicklung unter Putin zu diskutieren.
Im November 2012 trat in Russland ein neues NGO-Gesetz in Kraft, das Nichtregierungsorganisationen, die ausländische Fördermittel erhalten und angeblich eine „politische Tätigkeit“ betreiben, dazu verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Laut „Memorial“ sind diese neuerlichen Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Einrichtungen eine Reaktion der russischen Administration auf die regierungskritischen Massendemonstrationen 2011/12. Diese begannen zunächst als Demonstrationen gegen angenommene Wahlfälschungen der Regierung und führten zu den größten Protestkundgebungen in der jüngeren Geschichte des Landes. Die Regierung in Moskau kommentierte die Proteste nach den bekannten Erklärungsmustern der farbigen Revolutionen im postsowjetischen Raum, insbesondere der „Orangen Revolution“ in der Ukraine von 2004: Es handele sich bei den Protesten um ausländische Intrigen – insbesondere aus den USA und Europa – die von gesellschaftlichen Organisationen in Russland ins Werk gesetzt werden, um auf einen politischen Umsturz hinzuarbeiten.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sowie dem Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014 verschärfte sich auch die innenpolitische Situation Russlands weiter, und die Einflussnahme Moskaus auf „Perm-36“ erhöhte sich drastisch. Im Frühsommer 2014 wurde die Gedenkstätte schließlich verstaatlicht und anschließend geschlossen. Begleitet wurden diese Schritte durch eine medial inszenierte politische Hetzkampagne gegen „Perm-36“: Diese erreichte mit der propagandistischen Berichterstattung eines staatlichen Senders ihren Höhepunkt, in der die Gedenkstätte als Projekt einer „Fünften Kolonne“ verleumdet und der Zusammenarbeit mit dem feindlichen Ausland bezichtigt wurde. Zudem wurde die Gedenkstätte für den Krieg in der Ostukraine instrumentalisiert: In „Perm-36“ würden, angeblich finanziert durch die USA, die Leistungen der Sowjetunion diskreditiert, während aktuell im Donbass aufrichtige Russen gegen ukrainische Faschisten kämpften.
Im Sommer 2014 wurde das Museum unter alleiniger Trägerschaft der Behörden wiedereröffnet, um in den folgenden Monaten den Akzent der Ausstellung zu einer national-patriotischen Sichtweise hin zu verschieben, die nun seit Juni 2015 anstelle des Gedenkens an die Opfer der Repressionen den Beitrag der Häftlinge zum Sieg über den deutschen Faschismus in den Mittelpunkt stellt. Sie hätten – so die neue Darstellung – durch ihre Arbeitseinsätze zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ beigetragen. Zudem wird bei Führungen nun hervorgehoben, dass alle Häftlinge „Feinde der Sowjetunion“ und „Kriminelle“ gewesen und somit zurecht inhaftiert gewesen seien – eine klare Verfälschung der Geschichte.
Regional arbeitende zivilgesellschaftliche Gruppen wie „Memorial“ und „Perm-36“ hatten bis vor kurzem durchaus Spielräume, dem eindimensionalen staatlichen Vergangenheitsnarrativ in Form einer liberalen und historisch fundierten Gegenerinnerung zu begegnen. Die russische Staatsführung weitet aktuell im Zuge des Krieges in der Ostukraine ihren Kampf gegen politische Opposition, liberale zivilgesellschaftliche Strukturen und deren Infragestellung der offiziell propagierten russisch-sowjetischen Helden-, Sieger- und Märtyrergeschichte massiv aus.
Solange der russische Staat mit seiner repressiven Geschichtspolitik weiterhin das Bild einer ausschließlich ruhmreichen Vergangenheit vermittelt wird sich keine breite und engagierte gesellschaftliche Debatte zum kommunistischen Terror in Russland entwickeln können. Hinzu kommt, dass die Sowjetunion als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt dazu gezwungen war, eine „negative“ Identität zu entwickeln, auf der eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der Diktatur in Russland fußen könnte.
Mit „Perm-36“ ist ein weltweit einzigartiger Ort der Erinnerung an die Opfer des Gulags untergegangen. Die Existenz der Gedenkstätte ist der langjährigen, beharrlichen Aufbauarbeit zahlreicher engagierter Aktivisten zu verdanken. Was mit den Ausstellungen und den historischen Hinterlassenschaften auf dem Gelände passiert, obliegt mittlerweile der Entscheidung des Staates, der auch einen Krieg gegen die eigene Vergangenheit führt.
Anne Applebaum: Der Gulag, Berlin 2003.
Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003.
Jörg Ganzenmüller, Raphael Utz (Hrsg.): Sowjetische Verbrechen und russische Erinnerung. Orte – Akteure – Deutungen, München 2014.
Volkhard Knigge, Irina Scherbakowa (Hrsg.): Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956, Göttingen 2012.
Manuela Putz, Ulrike Huhn (Hrsg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm, Bremen 2010.
Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008.
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