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Am 21. Januar 2004 löste der damalige Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, mit einer Presseerklärung einen erinnerungspolitischen Streit aus, der bis heute nicht beendet ist. Der Streit gärt vor sich hin, blitzt hin und wieder auf und wird zwischendurch wieder unsichtbar (Martin Jander 2004). Wie auch schon im historischen „Historikerstreit“ (Ernst Reinhard Piper 1987) geht es in dieser Kontroverse im Kern um das Selbstbild der Bundesrepublik Deutschland. Große Teile der DDR-Forschung und ihre öffentliche Verhandlung sind durch diesen zweiten Historikerstreit gelähmt. Besser sagt man vielleicht, dass sie ihrer kritischen Wächterfunktion gegenüber Politik und gesellschaftlichem Konsens nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht nachkommen.
Mit seiner Presseerklärung vom Januar 2004 verdeutlichte Salomon Korn für den Zentralrat der Juden den Rückzug aus den Gremien der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten", denn, so argumentierte er, die Konstruktion der sächsischen Gedenkpolitik berge die Gefahr, durch die „Zwangsvereinigung“ unterschiedlicher Interessenvertreter von Opferverbänden im Stiftungsbeirat „fundamentale Unterschiede zwischen den Verbrechen der Nationalsozialisten mit europäischer Dimension und denen der Willkürherrschaft des Kommunismus in Ostdeutschland mit nationaler Dimension einzuebnen.“
Korn, der viele ausgezeichnete Bücher über Gedenkpolitik in der Bundesrepublik und Europa verfasst hat (Salomon Korn, Micha Brumlik 2008), fand in dieser Presseerklärung auch eine schöne Kennzeichnung für die sächsische Gedenkpolitik, die er und der Zentralrat als exemplarisch für die Bundesrepublik erachteten. Korn bezeichnete die hinter dieser Gedenkpolitik stehende Haltung als „Waagschalenmentalität“. In der Presserklärung hieß es wörtlich: „Durch die Konzeption der sächsischen Landesregierung, die auch bundespolitische Signalwirkung in der Gedenkstättenförderung hinsichtlich einer Re-Nationalisierung des Gedenkens entfaltet, wird geschichtspolitisch die Zeit nach 1945 unter dem Stichwort 'doppelte Vergangenheit' einer 'Waagschalen-Mentalität' ausgesetzt - mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der einen und den kommunistischen Verbrechen in der anderen Waagschale.“
Damit ist kurz und pointiert auf einen Begriff gebracht, um was es bis heute immer noch geht. Drehte sich der erste „Historikerstreit“ im Kern um die Frage, ob die demokratische Bundesrepublik mit einem Geschichtsbild leben könnte, das die Politik Hitlers, der nationalsozialistischen Eliten und breiter Teile der deutschen Gesellschaft als teilweise berechtigte Reaktion auf einen von der Sowjetunion und der jüdischen Gemeinschaft gegen Deutschland geplanten Krieg betrachtete, so geht es seit dem Zusammenbruch der DDR darum, ob die vereinigte demokratische Bundesrepublik mit Geschichtsbildern leben kann, die jenes große Verschwörungsdenken von Ernst Nolte und seinen Anhängern, nun kleinteilig auf jedes Detail der DDR-Geschichte überträgt.
Ob „Speziallager“, FDJ, SED oder DDR-Alltag, auf allen verschiedenen Teilgebieten der DDR-Forschung hat sich die von Korn zu Recht attackierte „Waagschalenmentalität“ Bahn gebrochen. Wie weit sich das banalisierende Schema einer Gleichsetzung von DDR und Nationalsozialismus auch in der Wissenschaft, nicht nur in öffentlichen Debatten, festgesetzt hat, führte unlängst eine Initiative vor, die ein Referat („Der deutsch-deutsche Schäferhund“) bei einer Konferenz einreichte, vortrug und in einem wissenschaftlichen Jahrbuch publizierte, in dem u. a. behauptet wurde, Wachhunde der NVA-Grenztruppen stammten eigentlich von den KZ-Hunden der Nazis ab, könnten jedoch nichts dafür, da auch diese Hunde unter der Mauer gelitten hätten (Christiane Schulte & Freund_innen 2016).
Dabei geht es bei der banalisierenden Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus nicht so sehr um die argumentativ leicht widerlegbaren Identifikationen. Es geht vor allem um gedenkpolitische Vorteile. Schon direkt nach der Schoah entstand in beiden deutschen Staaten der psychologische Abwehrmechanismus, auf den es diese Form der Gleichsetzung politisch abgesehen hat. Der unlängst verstorbene Journalist Ralph Giordano hat ihn in einem berühmt gewordenen Buch die „Zweite Schuld“ (Ralph Giordano 1987) genannt.
Unter dieser „zweiten Schuld“ versteht Giordano, und das lässt sich bis heute mit leichten Abänderungen als gedenkpolitischer Vorteil der banalisierenden Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus kennzeichnen, dass mit dem Verweis auf die Verbrechen anderer Menschen, Gruppen und Staaten, die Verbrechen, die ein Mensch, eine Gruppe oder ein Staat selbst zu verantworten hat, angeblich weniger ins Gewicht fallen. „Ihr“, so wird gesagt, „seid nicht besser als wir!“ Auch hier beschreibt das Bild der von Salomon Korn ins Spiel gebrachten „Waagschale“ gut den Effekt der expliziten oder impliziten Gleichsetzung zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus.
Es gab die deutsche Schuldabwehr natürlich auch in der DDR. Dort war sie Teil der antifaschistischen Staatspropaganda. Die Gleichsetzung wurde hier aber anders gestrickt. Nicht Stalinismus und Nationalsozialismus wurden gleichgesetzt, sondern Kapitalismus, Demokratie und Faschismus (Jeffrey Herf 1997). „Nicht wir DDR-Bürger“, so lautete die Botschaft, „sind die Faschisten, sondern der Westen, die Demokratie und Israel.“ Die Existenz eines gewaltförmigen Neonazismus wurde geleugnet (Harry Waibel 2014).
Besonders deutlich war dieser Wunsch nach Schuldabwehr, einer Normalisierung und der Bemäntelung der Beteiligung an den Verbrechen unlängst in der Bundesrepublik Deutschland zu besichtigen (Martin Jander 2014). Ohne große Widerstände und unter großer Beteiligung aller relevanten politischen Kräfte, wurde der 9. November 2014, der Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, in eine Art heimlichen Nationalfeiertag verwandelt, bei dem vor allem der Freude über das Ende des Kalten Krieges in Europa und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten Ausdruck verliehen wurde.
Die Erinnerung an die brennenden Synagogen, die Plünderungen, die Deportationen in Konzentrationslager, blieb eine Angelegenheit der jüdischen Gemeinden und einiger von der Amadeu-Antonio-Stiftung mobilisierter Unterstützer_innen (Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) 2010). „Deutschland“ gedachte der Leiden der Teilung und gab seiner Freude über das Ende der Mauer Ausdruck. Die Generation der Nazi-Täterenkel wendet sich den Leiden ihrer Großeltern zu und will von Fragen von Schuld, Haftung und Solidarität mit den Überlebenden nichts mehr hören (Harald Welzer 2002).
Der Mechanismus der Schuldabwehr, der bis zur Schuldumkehr reicht, ist dabei keineswegs ein Phänomen, was sich gegenwärtig lediglich in der Bundesrepublik Deutschland beobachten ließe. Die banalisierende Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus ist ein Phänomen in ganz Europa. (Günter Morsch 2010).
Als Jürgen Habermas und andere Intellektuelle in den 1980er Jahren Ernst Nolte und größere Teile der konservativen Historikerzunft kritisierten, hatten sie weite Teile der liberalen Öffentlichkeit, aber auch große Teile der sozialdemokratischen Partei auf ihrer Seite. Der Streit spielte sich damals keineswegs lediglich in der wissenschaftlichen und kulturellen Arena ab, er hatte die Politik erreicht.
Der gegenwärtig schwelende Historikerstreit, der von Salomon Korn 2004 angestoßen wurde, hat die politische Arena auch erreicht, aber in ganz anderer Form. Die „Waagschalenmentalität“ und die Rede von der „doppelten Vergangenheit“ haben sich auf vielen verschieden Ebenen durchgesetzt, ohne dass sie skandalisiert würden.
Das Bild einer deutschen Gesellschaft, die sich vom Feind der Menschheit zu einem gefestigten demokratischen Gemeinwesen entwickelte, hat sich nicht nur in der vereinigten Bundesrepublik selbst, es hat sich auch international durchgesetzt. Dieses Bild bleibt dennoch ein Trugbild. Nicht erst die völkischen PEGIDA-Demonstrationen, die Wahlerfolge der AfD und die explodierende Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge zeigen deutlich, dass Rassismus und Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet sind.
Im Kern hat die große Mehrheit der Forscherinnen und Forscher die Geschichte der DDR als einer nachnationalsozialistischen Gesellschaft noch nicht entdeckt (Werner Bergmann u. a. Hg., 1995.). Viele Fragen, die essentiell sind, wenn man das demokratische Potential der deutschen Gesellschaft, aber auch ihre problematischen Traditionen bis heute, erfassen will, werden nicht gestellt. Die Folgen des Nationalsozialismus in der DDR wurden bislang überhaupt nicht ausreichend befragt (Jan C. Behrends u. a. (Hrsg.) 2003).
Die Zeitgeschichtsforschung der Bundesrepublik hatte über lange Jahre eine kritische Wächterfunktion gegenüber Politik und gesellschaftlichem Konsens. Sie sollte in diese Rolle zurückkehren.
Martin Jander, Gedenkstätten-Konzept der Union: Waagschalen-Mentalität, in: hagalil.com vom 20. Juni 2004.
Ernst Reinhard Piper (Hrsg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987.
Salomon Korn, Micha Brumlik (Hrsg.): Europa und der Judenmord,Berlin 2008.
Christiane Schulte & Freund_innen, Kommissar Rex an der Mauer erschossen, in: Telepolis vom 15. Februar 2016.
Ralph Giordano: Die zweite Schuld, Hamburg 1987.
Jeffrey Herf: Divided Memory, London 1997.
Harry Waibel: Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR, Frankfurt 2014.
Günter Morsch: Geschichte als Waffe?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2010, S. 109ff.
Martin Jander, „Ballonpaten“, in: hagalil.com vom 1. November 2014. (http://www.hagalil.com/2014/11/ballonpaten/)
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2002.
Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.): „Das hat´s bei uns nicht gegeben!“ – Antisemitismus in der DDR, Berlin 2010.
Werner Bergmann, Rainer Erb, Albert Lichtblau (Hrsg.): Schwieriges Erbe, Frankfurt 1995.
Jan C. Behrends, Thomas Lindenberger, Patrice Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR, Berlin 2003.