Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Lange, scheinbar endlose Reihen von Menschen mit nur wenigen Gepäckstücken; ausgemergelte Gesichter; Frauen, die Kinder an sich pressen. Die aktuellen Bilder von Flüchtlingen, die heute auf dem Weg nach Deutschland sind, erinnern unwillkürlich an ähnliche Bilder, die wir schon seit Jahrzehnten kennen: Bilder von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Zeit danach. Die Analogie der Bilder stützt historische Bezüge, die derzeit in Politik und Medien oft hergestellt werden, und die die Empathie gegenüber heutigen Flüchtlingen befördern sollen.
Als 2015 erstmals der neue staatliche „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ begangen wurde, sprach Bundespräsident Joachim Gauck von den heutigen Flüchtlingen als den „Nachfahren der Vertriebenen bei Kriegsende“. Bewusst hatte die Bundesregierung den Gedenktag auf den 20. Juni gelegt, den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Das historische Ereignis der deutschen Zwangsmigration wurde damit bewusst in den Rahmen weltweiter und auch gegenwärtiger Fluchtbewegungen gestellt. In den Medien wurde Gauck am häufigsten mit dem Wunsch zitiert, „die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen.“
Die ‚Flucht und Vertreibung’ der Deutschen als historischer Impuls für eine emphatische Haltung gegenüber heutigen Flüchtlingen – das ist eine relativ neue Erscheinung. Anfang der 1990er Jahre, als das deutsche Asylrecht angesichts steigender Antragszahlen und zunehmender Übergriffe gegen Ausländer massiv verschärft wurde, war dieser Bezug noch vollkommen unüblich. Nach der Jahrtausendwende fand jedoch eine neue erinnerungskulturelle Hinwendung zu den deutschen Vertriebenen als Kriegsopfern statt. Die damit einhergehende Konzentration auf ihre Leidensgeschichte förderte die Tendenz zur Universalisierung und zum Vergleich. Problematisch war diese universalisierende Tendenz im Hinblick auf die NS-Opfer. Sie kommt aber nun offenbar auch im Hinblick auf die Flüchtlinge der Gegenwart zum Tragen. Eine vergleichende, aber nicht gleichsetzende Perspektive kann dazu beitragen, die historischen Spezifika der deutschen Zwangsmigration vor 70 Jahren ebenso zu verdeutlichen wie die Gemeinsamkeiten mit heutigen Flüchtlingsbewegungen.
Bis heute sind Kriege die häufigsten Fluchtursachen. Auch rund die Hälfte der 12 Millionen deutschen Vertriebenen waren zunächst Kriegsflüchtlinge. So wie seit Kriegsbeginn zahllose Zivilisten in den von Deutschland überfallenen Ländern vor den deutschen Truppen geflohen waren, so machten sich in den letzten Kriegsmonaten, als die Front deutsches Territorium erreicht und überschritten hatte, deutsche Zivilisten auf den Weg ins Landesinnere.
Insbesondere im Osten kam es zu einer regelrechten Völkerwanderung. Die Wehrmacht verfolgte schon bei ihrem Rückzug aus den besetzten Gebieten eine rassistisch motivierte Räumungspolitik. Kein „deutsches Blut“ sollte dem sowjetischen Kriegsgegner in die Hände fallen. Auf Reichsgebiet leitete die nationalsozialistische Partei die Evakuierungen. Die letzten Wochenschauen priesen die Räumungsaktionen als erfolgreiche Schutzmaßnahmen des NS-Staates.
Anders als an der Westfront, wo die Räumungspolitik wegen des Widerstandes der Bevölkerung bald eingestellt wurde, war im Osten die Bereitschaft der Menschen, vor der Front zu fliehen, relativ groß. Antibolschewistische Gräuelpropaganda im Verbund mit dem latenten Wissen um die deutschen Verbrechen im Osten und die daraus resultierende Angst vor der Rache der sowjetischen Soldaten führten zu einer regelrechten Fluchtwelle der Zivilbevölkerung, die von den in Auflösung befindlichen NS-Behörden kaum noch zu kontrollieren war. Sie hatten hier möglichst lange versucht, die Bevölkerung zurück in ihren Wohngebieten zu halten, um die Kriegsführung und die Kampfbereitschaft der Soldaten im Osten aufrecht zu erhalten. Bis zum Kriegsende behielten der Transport von Soldaten und kriegswichtigem Material oberste Priorität.
In der Folge gaben die Gauleitungen die erforderlichen Evakuierungsbefehle meist viel zu spät, setzten sie dann aber auch gegen Widerstände rücksichtslos durch. Angesichts der Nähe der Front, dem Fehlen von Transportkapazitäten und der schlechten Witterungslage war eine geordnete „Rückführung“ der Zivilbevölkerung utopisch. Eine humanitäre Katastrophe ungeheuren Ausmaßes war die absehbare und logische Folge dieser selbstzerstörerischen Politik.
Da die Eisenbahn weitgehend dem militärischen Transport vorbehalten blieb, musste sich der Großteil der hauptsächlich aus Frauen, Kindern und Alten bestehenden Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg durch Eis und Schnee machen. Von den Straßen, auf denen sie nicht selten den Todesmärschen der aufgelösten Konzentrationslager begegneten, wurden sie häufig von durchfahrendem Militär abgedrängt. Die Front holte sie vielfach ein, so dass sie sich plötzlich mitten im Kampfgebiet wiederfanden. Viele der später so genannten „Vertreibungstoten“ kamen während dieser Fluchtbewegung ums Leben. Allein bei der verordneten Evakuierung aus der Stadt Breslau starben 90.000 Menschen.
Über sechs Millionen Deutsche zogen so in den letzten Kriegsmonaten nach Westen. Aus den Ostprovinzen waren es über drei Viertel der Bevölkerung. Sie waren Kriegsflüchtlinge, wie die meisten heute nach Deutschland kommenden Menschen.
Während die vor Kriegsende ins Landesinnere geflohenen oder evakuierten Deutschen nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten, wurden die im Osten verbliebenen Deutschen in den folgenden Monaten und Jahren nach und nach ausgesiedelt. Hintergrund für die Entscheidung der Alliierten, die Deutschen aus den an Polen abgetrennten Gebieten, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn in die vier Besatzungszonen auszusiedeln, war die Erfahrung des Kriegsbeginns: Nazi-Deutschland hatte gezielt die Lage der deutschen Minderheiten in den östlichen Nachbarstaaten verschärft, sie mit Grenzfragen verknüpft und schließlich zur Zerschlagung der Tschechoslowakei und für den Überfall auf Polen instrumentalisiert. Die deutsche Minderheit war eine Stütze der aggressiven Expansionspolitik und der rassistischen Besatzungsherrschaft.
Ziel der Alliierten war die Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung. Sie sollte eine erneute Instrumentalisierung deutscher Minderheiten für die Zukunft ausschließen. Die Erfahrung der brutalen deutschen Besatzungspolitik verringerte vorhandene Hemmungen gegenüber einer Aussiedlung, die im Grundsatz schon früh als unausweichlich galt. Die Westverschiebung Polens erhöhte allerdings die Zahl der auszusiedelnden Deutschen erheblich. Aber das Zusammenleben mit einer größeren Zahl von Deutschen, die das NS-System gestützt und mitgetragen hatte, war Polen und Tschechen nach diesem Krieg kaum zumutbar und nur schwer vorstellbar. Eine Entfernung der Deutschen aus den östlichen Nachbarstaaten erschien daher allen Seiten als der einzige Weg, den Frieden in Europa dauerhaft zu erhalten. Bestärkt wurden die Alliierten zudem dadurch, dass Deutschland selbst während des Krieges im Rahmen umfangreicher ethnographischer Neuordnungspläne schon eine Million „Volksdeutsche“ umgesiedelt hatte.
Nachdem es bereits nach Kriegsende zu so genannten „wilden Vertreibungen“ gekommen war, beschlossen die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 eine geregelte und geordnete Aussiedlung der Deutschen. Die vorgesehene „ordnungsgemäße und humane“ Durchführung wurde nicht nur durch Kriegszerstörungen, Versorgungsengpässe sowie widerstreitende Interessen unterschiedlicher Stellen behindert. Sie scheiterte auch daran, dass die deutsche Terror- und Vernichtungspolitik in den besetzten Gebieten zu einer Haltung geführt hatte, die wenig Mitgefühl mit den Deutschen aufkommen ließ. Aus der Besatzungserfahrung der Kriegsjahre resultierten dagegen vielfach Gleichgültigkeit oder gar ein genereller Hass gegenüber den Deutschen, der wenig Raum für individuelle Differenzierungen ließ. Die Aussiedlung der Deutschen war daher mit zahlreichen Übergriffen und Plünderungen verbunden. Sie erfolgte hauptsächlich in den Jahren 1945/46 und zog sich bis 1950 hin.
Vertreter von Vertriebenenverbänden betonen heute immer wieder, dass mit den Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche zu Deutschen gekommen seien. Die Voraussetzungen und der Erfolg ihrer Integration seien daher mit denen der heutigen Flüchtlinge nicht vergleichbar. Tatsächlich waren die Deutschen damals Binnenflüchtlinge, so wie heute die meisten Flüchtlinge auf der Welt, die in der Regel versuchen, in der Nähe ihrer Herkunftsgebiete und in einer Kultur zu verbleiben, die ihnen vertraut ist.
Trotzdem gab es auch für die deutschen Zuwanderer nach dem Krieg erhebliche Integrationshemmnisse. Die einheimische Bevölkerung reagierte oft ablehnend auf den Zuzug von außen, den sie als ein ungerechtes Diktat der Siegermächte wahrnahm. Höchst ambivalent wirkte der politische Revisionsvorbehalt, der sich aus der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze ergab. Solange die Wiedergewinnung der Heimat im Osten proklamiert wurde, konnten die Vertriebenen zwar das Gefühl haben, dass sie in ihrem Rückkehrwunsch von der Aufnahmegesellschaft unterstützt würden. Die Neubeheimatung im Westen blieb damit aber lange nur provisorisch.
Für beide Seiten wirkte die Konfrontation konfessioneller Milieus, ländlicher und städtischer Herkünfte sowie regionaler Eigenarten anfangs nicht selten wie ein Kulturschock. Gleichzeitig erfolgten das Entdecken von Gemeinsamkeiten und die langsame Transformation in eine neue gemeinsame Gesellschaft. Bis heute gehören Diskriminierungserfahrungen zu den schmerzhaften, die Erfahrung von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zu den positiven Erinnerungen der deutschen Vertriebenen. Nicht zuletzt diese Erinnerungen verbinden sie mit Zuwanderern von heute.