Der Schriftsteller Arno Surminski blieb nach der Deportation seiner Eltern 1945 allein als Kind in Ostpreußen zurück. Nach Lageraufenthalten in Brandenburg und Thüringen 1947 wurde er von einer Familie in Schleswig-Holstein aufgenommen. In seinen Romanen und Erzählungen verarbeitet er seine biografischen Erfahrungen und setzt seiner ostpreußischen Heimat unprätentiös und schnörkellos ein Denkmal. Mit der Journalistin Hilke Lorenz sprach er über Nachkriegsjahre, Elternlosigkeit und über die Verbindungen zwischen Literatur und Biografie.
Lorenz: Herr Surmiski, Ihr neuestes Werk ist ein Band mit Erzählungen, die vom Ende des Krieges handeln. Wieviel aus diesen Geschichten deckt sich mit Ihren persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit?
Surminski: Vieles davon ist meine Geschichte. Nehmen wir beispielsweise die Erzählung „Karaganda“, die genau das schildert, was ich erlebt habe. Ich war das kleine Mädchen in der Geschichte, das alleine ohne seine Eltern zurück blieb. Auch in meiner Kindheit holten die Soldaten erst meinen Vater und zwei Tage später meine Mutter ab, und genau wie in der Erzählung wurde auch mir immer die Hoffnung vorgespielt, dass meine Eltern in ein paar Monaten wieder kommen würden. Diese Hoffnung hat mich ermutigt und am Leben erhalten. Als Kind schaute ich immer zur Allee und fragte mich, wann sie denn endlich kommen. Das Warten und auch die Ungewissheit haben mich im ersten Sommer nach Kriegsende sehr geprägt.
Lorenz: Sie sind 1934 geboren und waren zum Zeitpunkt der Deportation Ihrer Eltern ein zehnjähriger Junge. Was fehlte Ihnen besonders?
Surminski: Es war vor allem das Gefühl der Geborgenheit, das mir sehr fehlte. In dem Alter hat man ja noch Angst vor vielen Dingen: Vor einer dunklen Nacht oder an einem Friedhof vorbeizugehen. Das tat man eigentlich immer nur an der Hand der Mutter oder des Vaters, und jetzt musste ich alles alleine machen.
Lorenz: Aber es gab Menschen, die sich um Sie gekümmert haben. Wer war da an Stelle der Eltern?
Surminski: Ja, es gab fremde Menschen, die sich um mich gekümmert haben. Aber nicht so, dass sie mich als Kind von sich aus in ihre Familie integrierten. Ich habe mich praktisch wie ein Haustier zu ihnen gesellt und lief nebenbei mit.
Lorenz: Können Sie diese Überlebensstrategie eines Zehnjährigen ein bisschen genauer beschreiben? Wie orientiert man sich, wenn es eigentlich keine Orientierung mehr gibt?
Surminski: Alles Tun und Lassen drehte sich um das Essen. Wie ein Hund auf der Suche nach einem Knochen rannte ich durch die Gegend. Von dieser Zeit ist mir eine manische Sucht nach dem Sammeln von Beeren, Pilzen und all diesen Dingen, die in der Natur wachsen, zurückgeblieben. Die Kartoffel ist mir auch heute noch eine wunderbare Pflanze. Kartoffelsammeln auf den Feldern gehört zu den bleibenden Erinnerungen. Kleine, ganz triviale Dinge waren die Hauptsache für mich und darüber vergaß ich das große Unglück.
Lorenz: Später sind Sie in den Westen in ein Lager gekommen und irgendwann mussten Sie sich orientieren und herausfinden, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollten. Was hat Ihr Schicksal in Bezug auf Ihre persönliche Zukunft bewirkt?
Surminski: Bei mir hat es bewirkt, dass ich einen unerhörten Willen entwickelt habe: „Euch werde ich es zeigen, ich werde es schaffen. Ich will irgendwas werden“, habe ich oft gedacht. Schon als Kind, nachdem ich die Eltern verloren hatte, war mein Gedanke, dass ich es zu irgendetwas Besonderem bringen muss. Diese Erfahrung hat mich zur Leistung angetrieben. Als Junge habe ich meine Eltern oftmals ein bisschen schikaniert und ich verstand den Verlust der Eltern als Bestrafung für mein Verhalten. Ich wollte meinen Eltern zeigen, dass ich es zu etwas bringe, auch um diese gefühlte Schuld wieder gutzumachen.
Lorenz: Und als Schriftsteller haben Sie es zu etwas gebracht. Sie wussten immer, dass Sie einmal schreiben wollten, war Ostpreußen dabei auch schon immer das Thema und der Handlungsort Ihrer Texte? Bestand schon immer diese Verbindung zwischen Ihrer Vergangenheit und dem Schreiben?
Surminski: Nein, Ostpreußen stand nicht von vornherein im Mittelpunkt. Ursprünglich habe ich viele verschiedene Genres und Themen ausprobiert, ich habe Erzählungen über die Verhältnisse in Kanada geschrieben und mich mit einem Krimi versucht. Dann kam mir eines Tages der Gedanke: Warum über so viele ausgedachte Themen schreiben, wenn du doch selber etwas erlebt hast, das nicht alltäglich ist und über das es sich lohnt zu schreiben?
Anfangs war es ein schwieriger Prozess, meine Erlebnisse in die richtige Form zu bringen. Ich habe den Fehler gemacht, in der Ich-Form zu schreiben, und nach mehrmaligem Lesen empfand ich diese subjektive und emotionale Sicht als unerträglich für den Stoff. Ich habe mich dann entschlossen, aus der distanzierten und unbeholfenen Sicht eines Kindes zu schreiben. Kinder können ja über Leichen springen, ohne es zu merken.
Lorenz: Wie haben Sie sich nach all diesen Erlebnissen davor bewahrt, Ihr Leid nicht als Leid der Welt zu sehen, sondern einen klaren Blick zu bewahren?
Surminski: Das ist wohl eine Charaktereigenschaft, die ich von meiner Mutter geerbt habe, die auch in der größten Not immer noch einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte. Hassen im wörtlichen Sinne kann ich nicht. Verachten ist das äußerste des Negativen. Ich kann auch die fünf Soldaten nicht hassen, die meine Eltern abgeholt haben. Es war das System, das ich verachtet habe, ein System, das so etwas ermöglicht hat. Ich bin ein Befürworter Europas, und es ist mir egal, ob die Masuren deutsch oder polnisch sind – sie sind europäisch, das ist mir wichtig. Mit dieser ‚europäischen’ Einstellung kann man alle negativen Haltungen, die man zu anderen Völkern und Menschen hat, überbrücken.
Lorenz: Es klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber sind Sie versöhnt mit Ihrem Schicksal Herr Surminski?
Surminski: (überlegt) Verwöhnt wäre der richtige Ausdruck! Nach den furchtbaren Ereignissen meiner Kinderzeit hat das Schicksal es sehr gut mit mir gemeint.
Das gesamte Gespräch von Arno Surminski und Hilke Lorenz können Sie online als Video ansehen.