Das Schicksal der so genannten Ostarbeiter (so lautet die deutsche Bezeichnung für die über drei Millionen Sowjetbürger, die im Verlauf des Zweiten Weltkrieges für Zwangsarbeiten in das Dritte Reich verbracht wurden; ihr Schicksal wurde erst in den 1990er Jahren der breiten Öffentlichkeit bekannt) war für fast ein halbes Jahrhundert ein „weißer Fleck“ im offiziellen sowjetischen Kriegsgedenken. Erste Medienveröffentlichungen zu diesem Thema erschienen erst, als in Deutschland Bundestagsabgeordnete von Bündnis90 / Die Grünen die Notwendigkeit, Millionen von Menschen aus Osteuropa für die Sklavenarbeit in der Industrie und Landwirtschaft des Naziimperiums zu entschädigen, thematisierten. Der Umstand, dass zu Beginn der neunziger Jahre in der UdSSR noch hunderttausende ehemalige Ostarbeiter am Leben waren, wurde bekannt, als bei der 1989 gegründeten Gesellschaft Memorial innerhalb weniger Wochen über 300.000 Briefe von Menschen eingingen, die nach vielen Jahren zum ersten Mal im öffentlichen Raum ihre Stimme erhoben.
Warum waren die ehemaligen Zwangsarbeiter in der UdSSR nicht als Kriegsopfer anerkannt worden?
Warum waren sie – im Gegenteil – gezwungen gewesen, diesen Umstand ihres Lebenslaufs, so gut es ging, zu verbergen?
In erster Linie deshalb, weil ihre Geschichte sich nicht in das offizielle Narrativ vom „Heldentum des sowjetischen Volkes im Kampf gegen die faschistischen deutschen Eroberer“ einfügte. Sie war der Beleg für etwas, das weder in die Kriegskonzeption der Stalinzeit noch später dann in die Breshnew-Ära passte, ein Beleg dafür, dass ihr Schicksal ein Teil des ungeheuren Preises war, den die Völker der UdSSR für den Sieg gezahlt hatten, und dass die Verantwortung dafür auch bei der sowjetischen Führung, und zwar an erster Stelle bei Stalin selbst, liegt. Enorme strategische Fehler führten zu Kriegsbeginn in eine Katastrophe, in deren Ergebnis Millionen Menschen ihrem Schicksal überlassen wurden. Unmittelbar vor dem Einmarsch der deutschen Truppen behauptete die sowjetische Propaganda immer noch, dass die Flucht vor ihnen Panikmache sei und man dadurch dem Feind in die Hände spiele. Für normale Menschen, die nicht zur Nomenklatura in Staat und kommunistischer Partei gehörten oder die in der kriegswichtigen Produktion arbeiteten, war es nahezu unmöglich, evakuiert zu werden und einen Platz in einem der Züge zu bekommen, die in den Osten des Landes gingen. Im Ergebnis befanden sich bereits im Herbst 1941 ungefähr 60 Millionen Sowjetbürger in den Gebieten, die von den deutschen Streitkräften und ihren Verbündeten besetzt worden waren.
Einige Monate später, im Frühjahr 1942, wurde damit begonnen, junge Menschen massenweise zu Arbeitszwecken nach Deutschland zu verschleppen. Millionen sowjetischer Bürger wurden so in das Dritte Reich verbracht.
Zwei Drittel der Zwangsarbeiter – diejenigen, die überleben konnten – kehrten nach der Befreiung in die Heimat zurück. Ihr schweres Schicksal bedeute aber nach Ansicht des Sowjetstaates nicht, dass sie Kriegsopfer waren. Nach offizieller Sprachregelung waren sie keine „Personen, die für Zwangsarbeiten nach Deutschland verschleppt worden waren“, sondern einfach Repatrianten. Die Heimkehr war erst nach einer Überprüfung in einem Filtrationslager möglich, wo sie von Mitarbeitern des NKWD – des sowjetischen Innenministeriums – verhört wurden, die nach Verrätern suchten. Jeder Verdacht und jede Denunziation konnten dazu führen, dass der Betreffende im GULAG verschwand oder Zwangsarbeit beim Wiederaufbau von zerstörten Zechen und Wasserkraftwerken leisten musste. In der Regel war es den Repatrianten untersagt, sich in den Hauptstädten der Sowjetrepubliken oder großen Städten niederzulassen. Aber auch diejenigen, die in ihr heimatliches Dorf zurückkehren wollten, hatten es mitunter schwer – viele schickte man auf die Krim, um die deportierten Krimtataren zu ersetzen, oder in das von der deutschen Bevölkerung gesäuberte Ostpreußen.
Doch auch diejenigen, denen es gelungen war, nach Hause zurückzukehren, mussten sich lange mit diversen Behörden herumplagen und erneut Verhöre durch die Staatssicherheit über sich ergehen lassen, um anstelle der Filtrationsbescheinigung normale Ausweispapiere zu erhalten. Bis zu Stalins Tod galten die ehemaligen Ostarbeiter als suspekte Personenkategorie, als Menschen mit „üblem Leumund“. Darum hatten sie es schwer, einen Studienplatz zu bekommen oder in die kommunistische Partei einzutreten. Das wiederum bedeutete, dass man mit einem solchen Lebenslauf kaum eine Chance selbst auf eine minimale Karriere im Sowjetstaat hatte. Mitte der 1950er Jahre, nachdem Stalin gestorben und das Regime etwas moderater geworden war, bestand für viele von ihnen keinerlei Aussicht auf ein Hochschulstudium oder eine Karriere mehr. Die meisten ehemaligen Ostarbeiter verbrachten ihr Leben unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen und Wohnverhältnissen.
Aber auch in den Jahrzehnten nach Stalin blieb die Geschichte dieser Menschen aus dem Feiertags- und Hochglanzbild des Krieges getilgt. Je mehr die Sowjetpropaganda den Siegeskult aufbauschte, desto mehr fühlten sie sich als Ausgestoßene. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, der in den 1970 Jahren zum wichtigsten sowjetischen Feiertag wurde, konnten sie, im Gegensatz zu den anderen Veteranen, keine Auszeichnungen anlegen und mit ihren Kindern und Enkeln zu den Festtagsdemonstrationen gehen. Sie wurden nicht verehrt. Sie wurden nicht an Schulen eingeladen. Die Redaktionen schickten keine Journalisten zu ihnen. Und sie genossen natürlich auch keine der Vergünstigungen, die den Kriegsteilnehmern zustanden. Sie wurden weder für die Jahre, die sie in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten, noch für ihre ruinierte Gesundheit entschädigt. Über lange Zeit blieben sie Menschen aus der Grauzone, die widersprüchlich und schlecht abgegrenzt war. In den 1960er und 1970er Jahren war im öffentlichen Bewusstsein durch Literatur und Film ein zwar durchaus mythologisiertes Bild des KZ-Häftlings entstanden – in gestreifter Kleidung und Holzschuhen (wobei dieser Häftling unbedingt am Widerstand teilgenommen haben musste), mit den Ostarbeitern tat man sich aber immer noch sehr schwer. Eine große Rolle spielte hierbei auch der Umstand, dass viele von ihnen als Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren nach Deutschland verschleppt worden waren – ohne die geringste Lebenserfahrung, ohne irgendetwas im Leben gesehen zu haben außer dem Dorf oder der Kleinstadt, wo sie gelebt hatten. Nur wenige von ihnen hatten vor dem Krieg die 7. Klasse beenden können. Es war für sie schwierig, ihre Erlebnisse zu verstehen und zu reflektieren. Erinnerungen an Dinge, die sich nicht in das manifeste Kriegs- und Feindbild des offiziellen Diskurses einfügten, waren einfach gefährlich. Beispielsweise Erzählungen darüber, dass es auch Deutsche gegeben hatte, die Mitgefühl gezeigt haben.
Die ehemaligen Ostarbeiter lebten in ständiger Furcht, man könne sie beschuldigen, dass sie freiwillig in das Deutsche Reich zum Arbeiten gefahren seien, dass sie sich nicht den Partisanen angeschlossen und ihr Leben im Widerstand gelassen haben. War die Zeit in Deutschland für die Männer hauptsächlich ein Hindernis für Beruf und Karriere, so mussten die heimgekehrten Mädchen nicht ohne Grund befürchten, dass sich niemand finden wird, der bereit wäre, sein Schicksal mit ihnen zu verbinden. Sogar den Frauen, die in der Roten Armee gedient hatten, begegnete man nach der Heimkehr häufig mit unverhohlener Ablehnung und unterstellte ihnen „leichtes Benehmen“ an der Front. Das Verhalten gegenüber denen, die „für den Feind gearbeitet“ und in Deutschland bei deutschen Familien gelebt hatten, war mehr als nur negativ. Dieses Verhalten wurde dadurch verstärkt, dass viele junge Mädchen und Frauen während der zwei bis drei Jahre, die sie in Deutschland verbracht haben, mitunter deutsche Frisuren übernommen hatten und zwar gebrauchte, aber deutsche Kleidung trugen. Das alles machte sie der Nähe zum Feind verdächtig. Viele bewahrten Stillschweigen darüber, was ihnen persönlich zugestoßen war oder was sie miterleben mussten – über die Gewalt seitens der Befreier aus dem eigenen Land, die sie mit den deutschen Frauen identifizierten oder nach dem Motto handelten: Die Deutschen hast du rangelassen, und wir dürfen nicht?
Die erlebten Kränkungen und Traumata mussten das weitere Schicksal dieser Menschen ganz einfach prägen. Nur wenigen Ostarbeitern gelang es, ein normales Familienleben zu führen. Und wenn (was häufig der Fall war), dann verbanden sie sich mit ihresgleichen, um nichts erklären und nichts erzählen zu müssen.
Das Bestreben, die „gefährlichen Erinnerungen“ loszuwerden, führte dazu, dass Stillschweigen gewahrt wurde, dass Frauen ihren Ehemännern die Verschleppung nach Deutschland verschwiegen, dass Eltern ihren Kindern nichts erzählten. Einerseits wollte man die Menschen, die einem nahestanden, nicht mit Berichten über Schinderei, Hunger, Bestrafungen und die allgegenwärtigen Erniedrigungen traumatisieren. Zum Beispiel über die Fleischbeschau beim Aussuchen von Arbeitskräften auf dem Arbeitsamt, wo Zähne und Muskeln geprüft wurden, oder wie man das Brandzeichen, den Aufnäher mit dem Wort „Ost“, tragen musste. Oder mit Berichten darüber, wie die Schläge ins Gesicht, die man von der gutgekleideten Hausherrin erhalten hat, und das verächtliche Verhalten gegenüber den „Russenschweinen“ eine Spur fürs Leben hinterlassen haben. Andererseits fiel es schwer, über Unterstützung und positives Verhalten zu berichten, denn man hätte ja der Kollaboration verdächtigt werden können.
Im Ergebnis dieses Schweigens sind so gut wie keine oder nur wenige Bücher, Filme oder geschichtliche Untersuchungen entstanden, die das Schicksal der Ostarbeiter beschreiben, und so konnte auch kein Narrativ entstehen, an dem diese Menschen ihre Erfahrungen hätten messen können.
Diese Möglichkeit entstand spät, erst in den 1990er Jahren. Das geschah nicht nur im Ergebnis dessen, dass Tabus und Ängste aufgehoben wurden, sondern auch dank der wenngleich nicht sehr hohen Zahlungen und Entschädigungen, die die ehemaligen Ostarbeiter aus Deutschland erhalten haben.
Es ging ja nicht nur darum, dass die Betroffenen sich für diese geringen Beträge Dinge kaufen konnten, die sie sich sonst kaum hätten leisten können – einen neuen Kühlschrank, eine Waschmaschine oder ein Fernsehgerät. Viel wichtiger war, dass sie zum ersten Mal spürten, dass sie sich für ihren Lebenslauf vor ihren Kindern und Enkeln nicht schämen müssen, sondern dass sie wertvolle Zeitzeugen sind. Erinnerungen wurden gesammelt und veröffentlicht, Archive wurden geöffnet, Geschichtsstudien entstanden. Die russische Gesetzgebung hat die Ostarbeiter endlich den Kriegsteilnehmern gleichgestellt, wodurch sie in den Genuss einiger sozialer Leistungen kamen.
In den letzten Jahren allerdings ist das Interesse am Schicksal der ehemaligen Ostarbeiter wieder erloschen, und nicht nur deshalb, weil die letzten Zeitzeugen bereits von uns gegangen oder im Gehen begriffen sind. In dem Maß, wie die offizielle Propaganda erneut das Gedenken an den Krieg in ein Gedenken an den Sieg transformiert, aus dem alles Tragische und Belastende verdrängt wird, das sich nicht in den Siegesmythos einfügt, erscheint die Geschichte der Ostarbeiter, die im Grunde „Opfer zweier Diktaturen“ sind, erneut als widersprüchlich und unbequem. Es bleibt zu hoffen, dass diese Erinnerung, die vor zwanzig Jahren zum Leben erweckt wurde, nicht erneut aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt wird.