„Witwer mit fünf Töchtern“ – so lautete eine der beliebtesten westdeutschen Filmkomödien des Jahres 1957. Heinz Erhardt spielt den latent überforderten Schlossverwalter Friedrich Scherzer, dem nach dem Tod seiner Frau der Spagat zwischen gewissenhafter Ausübung seines Berufs und der Sorge um seine fünf Töchter zu schaffen macht. Natürlich meistert der Witwer letztlich alle Schwierigkeiten mit Herzensgüte, bemühter Strenge und viel Humor.
Die Realität sah für viele Kinder und Frauen nach 1945 jedoch ganz anders aus: Ihre Väter bzw. Männer waren während des Zweiten Weltkriegs gestorben oder vermisst. In Europa soll es nach 1945 circa 13 Millionen Voll- und Halbwaisen gegeben haben, allein in Deutschland hinterließen 5,3 Millionen gestorbene Soldaten etwa 1,2 Millionen Witwen, fast 2,5 Millionen Halbwaisen und etwa 100.000 Vollwaisen. Die meisten dieser Kinder gehörten den Jahrgängen 1935 bis 1945 an. Am höchsten waren die Bevölkerungsverluste prozentual in Polen. Hier verloren drei Millionen meist christliche Bürger und ebenso viele jüdischer Herkunft, zusammen fast 16 Prozent der Vorkriegspopulation, ihr Leben. Insgesamt soll es in Polen nach dem Krieg rund 1,1 Millionen Waisen und Halbwaisen gegeben haben. Die kriegsbedingte Vaterlosigkeit, obgleich ein Massenphänomen, wurde jahrzehntelang nur wenig beachtet. In meiner Studie „Vati blieb im Krieg“. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen“ habe ich die Folgen der Vaterlosigkeit nach dem zweiten Weltkrieg und den familiären sowie gesellschaftlichen Umgang mit dieser Situation erforscht. Grundlage der Betrachtungen sind 40 Interviews mit Männern und Frauen der Jahrgänge 1935 bis 1945 aus West- und Ostdeutschland sowie aus Polen. Im Vergleich der drei Gesellschaften zeigt sich, dass die kriegsbedingte Vaterlosigkeit eine elementare Erfahrung war, die allerdings gesellschaftlich und kulturell unterschiedlich kontextualisiert war und die persönliche Erinnerung und Deutung beeinflusste. So ist zu beachten, dass es in der Bundesrepublik einen öffentlichen, stark moralisch geprägten Diskurs um Kriegerwitwen und Halbwaisen gab, während deren Situation in der DDR und in Polen unter den Vorgaben der sozialistischen Regime kaum thematisiert wurde. Wie gingen die Kinder also mit den veränderten Familienkonstellationen und mit der in der Familie erzählten Erinnerung an den Vater und seinem Tod im weiteren Leben um?
In allen drei Gesellschaften veränderten sich durch die materiell schwierige Situation nach 1945 und den Tod des Vaters die Familienkonstellationen. Wegen fehlender eigener Erinnerung wurde das Leid der trauernden Mutter umso intensiver wahrgenommen. Gleichzeitig erlebten die Kinder sie aber als starke Persönlichkeit, da sie die Familie trotz allem versorgte, woraus ein tiefes Pflicht- und Verantwortungsgefühl der Mutter gegenüber erwuchs. Wegen der Wohnungsnot zogen Kriegswitwen oft zu Verwandten oder bedurften, bei eigener Erwerbstätigkeit deren Hilfe bei der Kindererziehung. Besonders die Großeltern nahmen deshalb zumeist eine neuartige und in der Regel positiv wahrgenommene Rolle ein. Doch es gibt auch negative Erfahrungen: Während Großmütter gelegentlich ihre Töchter zu Kindern degradierten und die Erziehung der Enkel übernahmen, werden Großväter zumeist als fürsorgliche „Ersatzväter“ beschrieben, bisweilen auch als autoritär und gewalttätig charakterisiert. Im Resultat veränderte sich das generationelle Familiengefüge, was die Vermittlung von Erziehungsnormen, Sekundärtugenden und Werten betraf.
Auch das Verhältnis zwischen Geschwistern wurde empfindlich, aber geschlechts- und länderspezifisch, tangiert. In Westdeutschland wurden Mädchen in der Regel gegenüber ihren Brüdern deutlich weniger gefördert, diese rückten früh in der Erbfolge nach und durften eher eine höhere Schule besuchen. Der soziale Status der Mädchen definierte sich vor allem über die Eheschließung. Auch gesellschaftliche Diskurse spielten eine Rolle. So gingen westdeutsche Pädagogen, Psychiater und Soziologen davon aus, dass Mädchen weniger unter der Vaterlosigkeit litten als Jungen. Solche Diskurse waren in den Familien zumindest implizit relevant, wo Söhnen mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde, wie Interviewpartnerinnen beschreiben. In Ostdeutschland spielten derlei Konkurrenzen hingegen kaum eine Rolle, weil die Vererbung von privaten Unternehmen selten vorkam und der Zugang zu höherer Bildung politisch, nicht aber finanziell reglementiert war. Ähnliches gilt für die polnischen Interviewpartnerinnen, die von Unterschieden in der Bedeutungszuschreibung von männlichen und weiblichen Geschwistern berichten, ohne dass diese materiell untermauert waren. Die fehlende öffentliche Beschäftigung mit den Kriegshinterbliebenen in der DDR hatte zur Folge, dass den Kindern im sozialen Umfeld unvoreingenommener begegnet wurde. Die Interviewpartner aus Westdeutschland, wo die offizielle Gedenkpolitik die Soldaten als Opfer des Nationalsozialismus deutete, fühlten sich hingegen öfters abschätzig behandelt, zumal Sozialexperten gerade jungen Frauen nicht zutrauten, ihren Erziehungspflichten gerecht zu werden. Diskurse über Verwahrlosung flossen deshalb auch in die (Selbst-)Beurteilung der Halbwaisen ein. In Polen fühlten sich die Kinder von ihrem sozialen Umfeld dagegen eher aufgrund ihres Flüchtlingsstatus schlecht behandelt: Hier mussten fast alle Interviewpartner während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der Vertreibung durch deutsche bzw. sowjetische Besatzer bzw. infolge der Westverschiebung der polnischen Grenze nach Kriegsende mindestens einmal ihren Wohn- und Aufenthaltsort ändern.
Ein weiterer Faktor für familiäre Veränderungen war die erneute Heirat der Witwen, was bemerkenswerterweise bei Müttern von Töchtern häufiger vorkam. Gerade polnische Mädchen lehnten dies jedoch oft ab, weil sie ihren Vater als Held und Märtyrer sahen. Auch in Deutschland standen die Mädchen einer neuen Ehe skeptisch gegenüber, zumal sie die meist versehrten Kriegsheimkehrer als „unberechenbar“ empfanden. Töchter neu verheirateter Mütter bezeichnen das Verhältnis zum Stiefvater bestenfalls als neutral.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Tod und die Toten in den Nachkriegsgesellschaften stets in Erinnerungen präsent. In West- wie in Ostdeutschland kursierten in den meisten Familien idealisierende Erzählungen über den gefallenen Vater. Die Trauer vieler Mütter trug dazu bei, die gemeinsame Zeit romantisch zu verklären. Zudem gab es strenge, die Erinnerung betreffende Konventionen, die auf das Gedenken einwirkten und auch in den Interviews relevant sind. Über die Aktivitäten der Väter im Krieg wurde generell nicht gesprochen. Mehr noch: Die deutschen Befragten binden den Vater in einen entlastenden Konversions-Topos ein, um ihn von einer möglichen Beteiligung an den Verbrechen der Nationalsozialisten freizusprechen.
In Polen wurde über die Tätigkeiten des Vaters im Krieg wegen großer Disparitäten von eigener Erinnerung und staatlicher Erinnerungspolitik kaum gesprochen. Dies galt vor allem, wenn dieser als Angehöriger der als staatsfeindlich geltenden Armia Krajowa oder durch die sowjetische Besatzung ums Leben gekommen war. In einigen Fällen führte die Mischung aus Verschweigen und Mystifizierung sogar dazu, dass der Vater gleichzeitig vergessen und zugleich heroisiert wurde. Mit dem „Frühling im Oktober“ des Jahres 1956 lockerte sich die offizielle Haltung gegenüber der Armia Krajowa allmählich, Gewalttaten der sowjetischen Besatzer blieben jedoch bis in die 1980er Jahre hinein tabuisiert.
In allen Interviews spielt die empfundene Verpflichtung zur Wiedergutmachung des Leids der Mutter eine große Rolle und das eigene berufliche und familiäre Leben wird damit eng verbunden. Gerade im Bereich von Ehe und Familie ist die Vaterlosigkeit als Deutungsmotiv bei den befragten Frauen jedoch deutlich präsenter als bei den Männern, was damit zusammenhängt, dass ein sozialer Aufstieg für Frauen in Westdeutschland in erster Linie mit einer „guten“ Ehe assoziiert wurde. Bekamen die Töchter uneheliche Kinder oder heirateten sie den „falschen Partner“, brachten die Mütter dies schnell mit der Vaterlosigkeit in Verbindung. In der DDR hatte die ebenfalls enge Verbindung zwischen Töchtern und Müttern andere Gründe. Eine Rolle spielte die desolate Wohnraumsituation: viele Töchter wohnten auch nach ihrer Heirat bei den Müttern wohnten, die ihnen bei der Kinderbetreuung halfen. Weil die Interviewpartnerinnen in der Regel voll erwerbstätig waren und von den Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen profitieren konnten, fühlten sie sich für ihren Ehemann, von dem sie oft finanziell unabhängig waren, weniger verantwortlich als für das Wohlergehen der Mutter.
Auch in Polen prägte der Verlust des Vaters das weitere Leben der Töchter. Das traditionelle Familienleitbild blieb trotz vieler erwerbstätiger Frauen nahezu ungebrochen erhalten und die befragten Frauen fühlten sich für ihre Mütter verantwortlich. Während einige von ihnen ihr Leben den Wünschen der Mutter anpassten und zum Teil eigene Berufswünsche dafür aufgeben, konnten sich die männlichen Befragten in allen drei Ländern leichter von den Interessen der Witwen lösen. Auch dieses Verhalten ist sozialisationsbedingt, da Männern schon als Jugendlichen größere „Freiheiten“ zugestanden wurden als Mädchen. Ein schlechtes Gewissen ist allerdings auch in den Interviews der Männer spürbar, vornehmlich allerdings im beruflichen Bereich.
Die kriegsbedingte Vaterlosigkeit stellt, wie der Beitrag zeigt, zwar eine essentielle Erfahrung der jeweils Betroffenen dar, die sich aber materiell und mental unterschiedlich auswirkte. Dementsprechend differieren die Selbstdeutungen des Vaterverlustes nach individuellen Umständen sowie nach Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand und gesellschaftspolitischen Bedingungen. Kennzeichnend für die Erzählungen sind deshalb beträchtliche länderspezifische Unterschiede im Umgang mit dem Verlust des Vaters.