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Sind Gedenkstätten so fraglos „verunsichernde Orte“, dass dies im von Barbara Thimm, Gottfried Kößler und Susanne Ulrich herausgegebenen Buch mit diesem Titel gar nicht mehr belegt werden muss? Und wenn ja, dann inwiefern und für wen?
Oder haben sie stattdessen nicht eine stabilisierende gesellschaftliche Funktion, weil sie die Richtigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse durch den Verweis auf das überwundene Unrecht belegen, oder weil sie Deutschlands Hegemonie in Europa als verträglicher, weil verletzlicher erscheinen lassen?
Und schließlich: Interessiert das die Besucherinnen und Besucher überhaupt, die in Millionen jedes Jahr die großen und zu Tausenden die kaum mehr zählbaren kleineren Gedenkstätten in Deutschland besuchen? Wonach suchen sie dort?
Ein kleiner Blick über den Tellerrand des deutschen Diskurses hinaus: In Budapest steht seit Sommer 2014 das Okkupationsdenkmal zur Erinnerung an die deutsche Besatzung, das die Regierung Orban unbeirrt von heftiger Kritik durchsetzte. Dort stürzt sich der deutsche Reichsadler auf den Ungarn symbolisierenden Erzengel Gabriel – ein Versuch, den Mythos von Ungarn als Opfer der Nazis gegen die Geschichte der Involvierung Ungarns in die Massenmorde durchzusetzen. Doch vor dem Denkmal läuft eine massive Kette über gusseiserne Pfosten, die wohl verhindern soll, dass Menschen vom unterhaltsamen Springbrunnen auf die Straße laufen, die diesen vom Denkmal trennt. Und entlang dieser Kette besteht ein weiteres Denkmal: An der Kette hängen Fotos und Fotokopien, auf dem Boden liegen Steine und Kerzen, ein Koffer steht da und Blumenkistchen, kleine Objekte liegen am Boden, manche auf einem Hocker, der sie präsentiert wie eine Vitrine. Alle erinnern an den Holocaust und die in Ungarn und von Ungarn begangenen Verbrechen. Sie liegen da, weil sie von Bürgerinnen und Bürgern dorthin gelegt wurden. Im Schatten der Bäume sitzen vielleicht fünfzehn Menschen im Kreis und diskutieren heftig, ein Mann bietet sich an zu erklären, was hier vor sich geht. Kurz: das Gelände dieses Okkupationsdenkmals ist derzeit wohl die am besten funktionierende Gedenkstätte, die ich kenne. Sie ist kontrovers, ein dominierendes Masternarrativ wird vielstimmig herausgefordert durch Gegenerzählungen. Sie ist partizipativ und ermöglicht es Besucherinnen und Besuchern, sich selbstständig und selbsttätig einzubringen, sie ist dialogisch und offen für die Fragen und Anliegen, welche an sie herangetragen werden. Und sie ist dynamisch abhängig von der gesellschaftlichen Energie, die sie trägt. Sind alle Fragen abgearbeitet und alle Anliegen zufriedengestellt, dann wird das Denkmal zu einem weiteren der vielen scheußlichen Setzungen im öffentlichen Raum, die niemand mehr wahrnimmt und die nichts mehr bedeuten.
Doch was bedeutet das für die eingangs gestellten Fragen? In Westdeutschland waren die NS-Gedenkstätten vor der Wende geschichtspolitisch relevante Orte., in denen eine zumeist in der Nachkriegszeit groß gewordene Generation von geschichtspolitischen Akteuren ihre politischen und sozialen Umwelten mit der Erinnerung an die Leiden der Opfer und der Forderung nach der Auseinandersetzung mit der Verantwortung der gesellschaftlichen Mehrheit konfrontierte. Die Gedenkstätten auf dem Boden der DDR hatten bis zur „Wende“ eine klar stabilisierende Funktion für den sozialistischen deutschen Staat, danach wurden sie nicht nur in die staatliche Verantwortung der Bundesrepublik überführt, sondern auch in den westdeutschen Gedenkstättendiskurs. In Österreich war das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen schon 1947 in die Verantwortung der Republik Österreich übergeben worden. Und die tut sich seither schwer damit. Daneben sammelten sich v. a. um die Nebenlager geschichtspolitische Akteure vergleichbar zu Deutschland.
Während sich in Deutschland eine Kultur der Bespielung der „Bühne Gedenkstätte“ durch die Politik etabliert habt, wo das richtige Verhalten und Sprechen eingeübt und abrufbar ist, wo es Grenzen für die Instrumentalisierung gibt und zumindest rhetorisch die Autonomie der Orte etabliert scheint, läuft das in Österreich noch etwas weniger professionell und weniger kulturell geschliffen ab. Hier treten die Widersprüche zwischen staatlicher Verantwortung und gesellschaftlicher bzw. auch politischer Relevanz offener zu Tage. Die damit verbundenen Konflikte scheinen in Deutschland in tragbaren Stiftungs- und Beiratskonstruktionen erfolgreich eingehaust zu sein, nachdem die Alterskohorte der Gedenkstätten-Aktivisten unter den Rahmenbedingungen des vereinigten Deutschland die Gedenkstätten und ihre damit verbundenen geschichtspolitischen Anliegen erfolgreich etablieren konnten. Das ist in Österreich noch nicht so gelungen, wohl weil die Notwendigkeit da weniger dringlich erscheint, wo die Verantwortung für die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen weniger bearbeitet wird.
Jenseits der gedächtnispolitischen Rede und der Gedenk-Beteuerungen eröffnen diese NS-Gedenkstätten jedoch einen Blick auf Geschichten von Menschen und in gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die dieses Erniedrigen, Töten, das Leiden und Kämpfen, das Aufgeben und Weiterleben erst möglich machten. Umso genauer dieser Blick auf die Menschen und die Verhältnisse fokussiert, umso mehr Verstörendes zeigt er. Wir werden an die Fragilität unserer als selbstverständlich gesetzten Normalität von Demokratie und Gewaltfreiheit erinnert und dass es parallel dazu andere Normalitäten gibt, in denen Entmenschlichung und exzessive Gewalt existieren.
Jenseits der eingeübten Floskeln von Demokratie und Menschenrechten können an den NS-Gedenkstätten die Folgen der Missachtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat erfahren werden. Die Gedenkstätten und dort angebotene Programme können diese großartigen Fundamente menschlichen Zusammenlebens gerade dadurch verteidigen, indem sie als verletzlich und eben gar nicht selbstverständlich erlebt werden. Diesbezüglich sind NS-Gedenkstätten affirmativ und ein Stachel im Fleisch wären sie insofern, als dass sie Fragen nach aktuellen Defiziten und Gefährdungen bei den Besucherinnen und Besuchern möglich machen.
Und schließlich die Besucher/innen: Bringen sie sowieso alles schon selber im Gepäck mit, was sie an diesen Orten zu finden meinen, wie Ruth Klüger, selbst Überlebende, hellsichtig anmerkt? Nein. Sie sind ganz verschieden und bringen ganz Verschiedenes mit. Die Gedenkstätten versuchen - und könnten das noch vermehrt tun -, mit den Besucher/innen ins Gespräch zu kommen: Was sehen sie? Was bedeutet das für sie? Was lernen Besucher/innen und was nehmen sie mit? Das meint wohl „Besucherorientierung“. Und das ist so immens schwer umzusetzen. Wie etwa bei Schulgruppen, die sich gerade mal zwei Stunden Zeit nehmen. Wie bei individuellen Besuchen, die ebenso gut touristisch motiviert, wie durch das Gedenken an umgekommene Angehörige sein können.
Zusammenfassend: Die Gedenkstätten professionalisieren sich zunehmend. Es bilden sich zunehmend spezialisierte Tätigkeitsfelder heraus, die eigene professionelle und damit auch akademische und reflexive Standards entwickeln. Dieser immer elaboriertere Gedenkstättendiskurs in Deutschland, wie er in einem kürzlich erschienen Buch über Gedenkstättenpädagogik abgebildet ist, eröffnet auch die Möglichkeiten, darüber nachzudenken, warum an Gedenkstätten welche Angebote für welche Besuchergruppen entwickelt werden. Mir scheinen die drei Fragen nach den Zielen, den Methoden und der Besucherorientierung wichtig – und die Antworten darauf dürften sowohl systemstabilisierende wie auch die vorherrschenden Systeme herausfordernde Anteile haben.
Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich (Hrsg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Frankfurt a.M. 2010.
Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 75.
Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontexte, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin 2015.