Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Die um das Jahr 2002 geführte Debatte über die Barrierefreiheit des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ ist heute kaum bekannt – sollte sie aber. Denn sie gibt einen Einblick in das konfliktreiche Verhältnis zwischen künstlerischer Freiheit und dem Anspruch auf inklusives Gedenken. Und sie lädt dazu ein, sich grundsätzlich über die Zukunft der Erinnerung Gedanken zu machen.
Heute ist das Stelenfeld mit dem unter ihm liegenden „Ort der Information“ ein touristischer Anziehungspunkt Berlins und die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (Stiftung Denkmal) ein wichtiger Akteur in der deutschen Gedenkstättenlandschaft. Das Mahnmal sowie die drei weiteren Denkmäler für die ermordeten Sinti und Roma, verfolgten Homosexuellen und die Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde werden allgemein als sichtbares Zeichen für die gelungene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands angesehen. Das war jedoch nicht immer so. Die Einweihung von Peter Eisenmans Denkmal am 10.05.2005 bildete den Abschluss einer lang anhaltenden und kontrovers geführten Debatte über Form, Funktion und Widmung dieses nationalen Gedenkorts. Über diese Diskussion ist schon viel gesagt worden; die zeitgleich geführte Auseinandersetzung über die eingeschränkte Barrierefreiheit des Stelenfelds hat bislang jedoch kaum Aufmerksamkeit erhalten.
Angestoßen wurde diese Debatte von Martin Marquard, dem damaligen Berliner Landesbehindertenbeauftragten. In seinen Verstößeberichten aus dem Jahr 2000 und 2001/2002 monierte er die geplante Bauweise: Der ursprünglich vorgesehene Abstand zwischen den Stelen von 92 cm sei für viele Rollstuhlmodelle zu eng, das geplante Gefälle auf dem Gelände an mehreren Stellen zu steil. Ohnehin sollten von den circa 130 geplanten Gängen des Mahnmals nur zehn West-Ost-Korridore und kein einziger Nord-Süd-Korridor für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen zugänglich sein. Er forderte deswegen eine grundlegende Überarbeitung des Denkmalentwurfs. Die Stiftung Denkmal überarbeitete daraufhin zwar in einigen Punkten die ursprüngliche Planung. Sie verbreiterte beispielsweise die Abstände zwischen den Stelen auf 95 cm und ersetzte den geplanten Bodenbelag aus Schotter durch ein einfacher befahrbares Betonsteinpflaster. Zu den umfassenden Anpassungen, die Marquard angeregt hatte, war sie allerdings nicht bereit. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit verhärtete sich die Auseinandersetzung zwischen den Förderern des Mahnmals auf der einen, und Befürwortern einer stärkeren Berücksichtigung von Barrierefreiheit auf der anderen Seite. Sie kulminierte in einer Klage des Sozialverbandes Deutschland (VdK) gegen das Mahnmal vor dem Berliner Verwaltungsgericht.
Am 10.09.2002 trafen beide Parteien im Rahmen einer Podiumssitzung in der Villa Donnersmarck der Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin für einen Meinungsaustausch aufeinander. Während der hochkarätig besetzten Diskussion wurden die Konfliktlinien zwischen ihnen schnell offensichtlich. Marquard und andere verwiesen auf die gesetzlich verankerte Pflicht, öffentliche Gebäude barrierefrei zu gestalten. Darüber hinaus kritisierten sie, dass die Bauweise Menschen mit Behinderung als ehemalige Opfer des Nationalsozialismus vom vollständigen Erleben des Denkmals ausschließe. Gleiches gelte für ältere Menschen, die auf Rollstühle oder andere Hilfsmittel angewiesen sind. Die Förderer des Mahnmals sowie Vertreter Peter Eisenmans hoben demgegenüber die bereits von ihnen gezeigte Kompromissbereitschaft hervor. Dadurch sei, wie Leah Rosh erklärte, die Hälfte des Stelenfeldes für Menschen mit Behinderung zugänglich. Der enorme Aufwand, den eine Umsetzung von Marquards Vorschlägen bedeuten würde, käme außerdem einem Neubau des Denkmals gleich und würde dessen Charakter einschneidend verändern. Darüber hinaus verteidigten sie den Entwurf als Kunstwerk, das im Gegensatz zu öffentlichen Gebäuden nicht der geltenden Berliner Bauordnung unterliege. Deswegen musste es auch nicht vollständig barrierefrei gestaltet werden. Eine endgültige Lösung dieses Konflikts ergab sich an diesem Abend in der Villa Donnersmarck nicht – und sollte auch nicht mehr gefunden werden. Das Berliner Verwaltungsgericht wies die Klage des VdK ab. Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wurde in seiner heutigen Form gebaut. Es verfügt nun über 13 barrierefreie Korridore sowie ein – ebenfalls auf diese Gänge beschränktes – Blindenleitsystem. Die Stiftung Denkmal bietet auf ihrer Homepage einen Leitfaden in Leichter Sprache an; der „Ort der Information“ ist über einen Aufzug barrierefrei zu erreichen. Das Mahnmal ist damit für Menschen mit Behinderung erfahrbar – von einer barrierefreien Erschließung der Hälfte des oberirdischen Areals lässt sich dennoch kaum sprechen.
Der Konflikt zwischen der Stiftung Denkmal und Martin Marquard war nur eine Episode in der ereignisreichen Geschichte des Mahnmals. Er ist aber ein anschauliches Beispiel für die Schwierigkeiten, die Ansprüche auf ein künstlerisch gestaltetes Gedenken und Barrierefreiheit miteinander in Einklang zu bringen. Diese beginnen schon bei den baulichen Gegebenheiten: Gedenkstätten sind nicht immer auf die Bedürfnisse von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen vorbereitet. Diese können folglich nicht das gesamte Areal erkunden. Fehlende Angebote für blinde oder gehörlose Menschen verschließen diesen Personengruppen den Zugang zu den Ausstellungsinhalten. Die bauliche und gestalterische Anpassung öffentlicher Kulturerbeinstitutionen wird jedoch umso dringlicher, je älter die Bevölkerung wird. Größer noch wird aber die Herausforderung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten. Denn hier genügt es nicht mehr, einmal erstellte Inhalte in Brailleschrift oder Gebärdensprache zu übersetzen und die eigenen Ausstellungsareale durch Umbaumaßnahmen barrierefrei zugänglich zu machen. Hier müssen die Gedenkstätten konzeptionelle Neuerungen entwickeln, um auch Menschen mit Lernschwierigkeiten die Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe am Gedenken zu eröffnen. Dafür braucht es eigenständige Angebote, die mögliche Formen historischen Lernens wie Gedenkens aus einer bislang eher vernachlässigten Perspektive neu denken. Vor allem ist allerdings eine intensivierte Fachdebatte darüber nötig, wie historisches Lernen in einer inklusiven Gesellschaft aussehen kann und soll.
Denn dass die im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention erhobenen Forderungen nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch geschichtskulturelle Akteure sowie den Geschichtsunterricht erreichen wird, steht außer Frage. Offenheit gegenüber solchen Ansprüchen steht einer Wissenschaft ohnehin gut zu Gesicht, die auf ihr kritisches und reflexives Potential (zurecht) stolz ist. Künstlerische Auseinandersetzungen mit der Geschichte können dabei eine wichtige Rolle spielen. Denn Kunst kann einen niederschwelligen, deutungsoffenen und damit in positivem Sinne multiperspektivischen Zugang zur Vergangenheit eröffnen, der von der modernen Geschichtsdidaktik immer wieder eingefordert wird. Dafür müssen Kunst und Künstler aber buchstäblich zugänglicher für gesellschaftliche Vielfalt sein, als es das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ heute ist. Schon bei der Konzeption geschichtskultureller Angebote müssen deswegen die Bedürfnisse von Menschen ernst genommen werden, die von denen der üblichen bildungsbürgerlichen Museums-, Ausstellungs- oder Gedenkstättenbesucher abweichen. Das beginnt bei ihrer baulichen Gestaltung, geht über ihre Inhalte und hört auch bei der Haltung der Mitarbeiter gegenüber den Besuchern nicht auf. Dass inklusives Gedenken und Erinnern so möglich wie wünschenswert ist, haben inzwischen einige Pionierprojekte gezeigt. Auch die Stiftung Denkmal bewies mit dem Denkmal für Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde, dass sie zu einem Angebot in der Lage ist. Dies macht deutlich: Wir stehen am Anfang, nicht am Ende einer spannenden Entwicklung, die – wie auch das Berliner Mahnmal unweit des Brandenburger Tors – noch große Aufmerksamkeit erregen wird.