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Familienbiographische Bezüge und gut recherchierte historische Ereignisse – die neue Geschichte von Barbara Yelin passt in ihrer Mischung gut zu den Debatten um „authentische Zeugnisse“ und sorgt für eine neue Diskussion von deutschem Mitläufertum im Nationalsozialismus.
Irmina, eine junge Deutsche, bricht im Jahr 1934 allein nach England auf, um dort eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin zu machen. Sie verkörpert den neuen Typ einer Frau, die ein unabhängigeres Leben sucht und ehrgeizige Ziele verfolgt.
Besonders interessiert an den politischen Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland ist sie nicht. Über andere Personen, denen sie in London begegnet und die ihr Vorurteile und Misstrauen entgegenbringen, bemerkt sie jedoch, dass ihr ihre Herkunft im Wege steht.
Auf einer Party lernt sie Howard kennen, einen dunkelhäutigen Oxford-Stipendiaten aus der Karibik, der immer wieder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt ist, bei denen Irmina empört und mutig für ihn eintritt. Als sie noch vor dem Abschluss ihrer Ausbildung aus finanziellen Gründen nach Deutschland zurückkehren muss, ist klar, dass sie so schnell wie möglich wieder zu ihm zurückkehren möchte.
Doch es kommt anders. Irmina findet eine Anstellung als Sekretärin im Berliner Reichskriegsministerium. An ihrem neuen Arbeitsplatz herrscht selbstbewusste Aufschwungstimmung, ihr Können ist gefragt. Sie gerät, nicht zuletzt über einen strammen überzeugten Nazi, der ihr beharrlich den Hof macht, immer weiter hinein in die repressiven wie expandierenden Pläne der Nationalsozialisten. Wiewohl sie an ihrer Bewerbung für eine Stelle in der deutschen Botschaft in London festhält, lässt ein Brief an Howard, der mit dem Stempel „unbekannt“ zurückkommt, das Pendel umschlagen. Bald gibt sie dem Werben des jungen Nazis nach, dessen Überzeugtheit und Ehrgeiz sie offenbar anziehen. Als SS-Architekt entwickelt er Visionen vom Großdeutschen Reich, als in den Krieg eingezogener Soldat wird er wenig später in Stalingrad enden.
Ohne, dass die Autorin mit eindeutigen oder psychologisierenden Erklärungen aufwartet, zeigen die folgenden Sequenzen, wie sich die Protagonistin immer mehr arrangiert mit dem Dritten Reich, wo sie profitiert und profitieren will, wie sie wegschaut bei antisemitischen Vorfällen, aber auch hinschaut und dabei mehr und mehr ideologische Sichtweisen ihres Mannes teilt, die sie später sogar an ihren gemeinsamen Sohn weitergibt.
Barbara Yelin, die bereits bekannt wurde durch ihren Comic über Gesche Gottfried, einer Giftmischerin, die im 19. Jahrhundert Furore machte, greift in ihrem neuen Comic bei der fiktiven Ausgestaltung des Themas „Mitläufertum“ auch auf familiäre Dokumente zurück: Einer Schachtel mit Briefen und Tagebüchern ihrer Großmutter. Aber ebenso, und dies macht auch das informative Nachwort des Historikers Alexander Korb nochmals eindrücklich deutlich, macht sie sich auch ein großes historisches Wissen zunutze, um die Rolle politisch passiver und opportunistischer Deutscher auszuleuchten.
Ihre Erzählperspektive ist eine biographische, sie folgt den Wegen ihrer jungen Protagonistin. Aber sie macht sich nicht eins mit ihrer Wahrnehmung der Welt, hält Distanz zu ihren möglichen Handlungsmotiven. Vielmehr beobachtet sie ohne zu werten. Und sie zeigt auf, dass Vieles in der Entwicklung ihrer Protagonistin eben nicht eindeutig zu erklären ist: Ging es Irmina um ihren eigenen sozialen Aufstieg? War ihr der Preis des „Sich-verstrickens“ bewusst? Ließ sie sich anstecken von Propaganda und Ehemann? Welche Rolle spielt die Angst vor Misserfolg, vor sozialem Abstieg, vor dem Alleinsein? Und wohin verschwand eigentlich die Seite Irminas’ Persönlichkeit, die damals in London in Liebe zu dem schwarzen Howard entflammte und die sich, mit gesundem Menschenverstand, schützend gegen rassistische Attacken vor ihn stellte? Dass sie ihn nicht wirklich vergessen hatte, macht der letzte Teil des Comic deutlich, der Irmina als Großmutter zeigt, die sich zu dem verloren geglaubten Howard und seiner Familie aufmacht. Deutlich wird aber auch, dass sie zwar die verlorene Chance bedauert, aber nicht wirklich Reue zu empfinden vermag. Die Zeit hat sie geprägt, ihre Mitschuld kann sie sich nicht eingestehen.
Wo eine Romanautorin vieler Worte bedarf, um einen Erzählfluss und Verstehenszusammenhänge herzustellen, kommt eine Comiczeichnerin mit faszinierend wenig aus. In Barbara Yelins Zeichnungen wechseln sich ineinanderfließende Sequenzen und aquarellierte Bleistiftzeichnungen auf Doppelseiten ab. Abgesehen davon, dass ihre Zeichenkunst einen so in den Bann zu schlagen vermag, dass man freiwillig das Lesetempo verringert, um über den bildnerischen Szenen zu meditieren, um ja alle Details zu entdecken: Es gelingt Yelin auch in virtuoser Weise, die biographische und die zeitgeschichtliche Ebene über das Bild zu verknüpfen und so eine wechselseitige Intensivierung zu erzeugen.
Die Person Irmina erhält eine Art „authentische Glaubwürdigkeit“, sehr eigen, sehr sympathisch, gleichzeitig beginnt man mit der jungen Frau zu hadern, die einen scheinbar vor Rätsel stellt. Man möchte ihr die Sympathie nicht entziehen, obwohl die Sequenzen, welche historische Ereignisse wie die Novemberpogrome, oder den Größenwahn und die Unbarmherzigkeit der Nazis zeigen, einem überdeutlich machen, dass längst eine Grenze überschritten ist.
Unversehens wird man Zeugin oder Zeuge einer Entwicklung, die verständlich und abschreckend zugleich ist. Offenbar impfen andere Erfahrungen nicht zwangsläufig gegen Rassismus. Oder, wem sozialer Aufstieg geboten wird, der greift in der Regel zu. Und: die eigene Welt wird, wo sie nicht passt, passend gemacht. Zeichnerisch zeigt sich dies zum Beispiel in der Verengung des eigenen Kosmos auf kongeniale Weise, in dem die großen, offenen Panoramabilder im Nazi-Deutschland zu kleinen Panels verkommen. Die unterschiedliche Farbgebung tut ihr Übriges.
Barbara Yelin ist zweifellos ein kleines Meisterwerk gelungen. In differenzierter Weise setzt sich die künstlerisch versierte Zeichnerin und Autorin mit der Mitschuld durch Wegschauen auseinander. Vielleicht ist ihr der Übergang zur Mitläuferin und Mittäterin ein wenig zu abrupt geraten, vielleicht ist es aber auch realistisch, einen bestimmten Moment auszumachen, bei dem eine Grenze aktiv überschritten wird. Doch tritt Barbara Yelin nicht in die Falle, lediglich die Beziehung zu zwei unterschiedlichen Männern für Irminas Wandel verantwortlich zu machen. Vielmehr hält sie uns bis zum Schluss die über aller Geschichte schwebende Einsicht vor Augen, dass diese junge, moderne, autonome und ehrgeizige Irmina sich für etwas anderes hätte entscheiden können, es aber nicht getan hat.
Der Comicroman ist in künstlerisch herausragender Weise geeignet für die historisch-politische Bildungsarbeit und knüpft genau an eine der zentralen Fragen an, die sich Jugendliche heute stellen. Sicherlich ist er in der Anschaffung als Klassensatz deutlich zu teuer, aber er sollte, für Referate, MSA-Prüfungen und Projektwochen an keiner Schule fehlen.